Dreizehntes Kapitel
Eines der kleinen Rituale, das täglich ablief, war Corries Transistor-Testen. Das war eine feierliche Zeremonie, die dann stattfand, wenn Corrie den Drang dazu verspürte. Sie erhob sich, betrachtete das Zelt, murmelte: »Ich könnte es wieder einmal mit dem Transistor versuchen«, und ging zum Zelt hinüber. Einen Augenblick später tauchte sie mit dem kostbaren Gegenstand in den Händen auf, ging zur höchsten Stelle der Lichtung, hielt sich das Transistorradio ans Ohr und drehte sorgfältig an der Skala. Sie ließ es von niemand anderem berühren, weil es das Radio ihres Vaters war und man es niemand anderem anvertrauen konnte. Es war das Einzige, was sie von ihrem Vater besaß. Obwohl wir ein bisschen über sie lachten, waren wir immer ein wenig gespannt, wenn sie es tat, aber die Tage vergingen ergebnislos und Corrie berichtete, dass die Batterien allmählich schwächer wurden.
Eines Abends saß ich zufällig neben ihr, als sie wieder einmal auf ihrer fruchtlosen Suche war. Wie üblich bekam sie nur Statik herein. Sie schaltete seufzend ab. Wir plauderten über nichts Besonderes, als sie beiläufig sagte: »Wofür sind eigentlich all die anderen Dinger?«
»Welche anderen Dinger?«
»All diese anderen Einstellungen.«
»Was meinst du damit?«
Sie fing mit einer langen Erklärung an, wie ihr Vater ihr bei den seltenen Gelegenheiten, bei denen er ihr das Radio geborgt hatte, erklärt hatte, dass ihre Sender auf PO oder FM sein würden.
»PO und FM? Wovon sprichst du? Lass mich mal sehen.«
Sie übergab es mir zögernd. Aus den Angaben darauf entnahm ich, dass es ein französisches Gerät war, und begann zu übersetzen. »Recepteur Mondial à dix bandes bedeutet weltweiter Empfang auf zehn Frequenzen. FM bedeutet Frequenzband. PO ist wahrscheinlich Amplitudenmodulation. OC Étendue – na ja, étendu heißt erweitert oder so was.« Die Folgerungen aus all dem begannen mir allmählich zu dämmern. »Das ist kein gewöhnlicher Transistor, Corrie. Das ist ein Kurzwellenempfänger.«
»Was heißt das?«
»Es heißt, dass du Stationen aus der ganzen Welt empfangen kannst. Soll das heißen, Corrie, dass du es nur mit den örtlichen Stationen versucht hast?«
»Ja also, nur PO und FM. Das hat Dad mir gesagt. Von dem anderen Zeug habe ich nichts gewusst und ich wollte die Batterien nicht verbrauchen, indem ich herumpfusche. Sie sind jetzt beinahe leer und wir haben keine mehr.«
Ich war furchtbar aufgeregt und rief den anderen zu: »Kommt her, Leute, schnell.«
Die Dringlichkeit in meiner Stimme brachte sie rasch zu uns.
»Corries Radio kann Kurzwelle empfangen, aber das wusste sie nicht. Wollt ihr Radio hören? Die Batterien sind beinahe leer, aber man kann nie wissen.« Ich wählte OC Étendue 1 und gab Corrie den Transistor zurück. »Gib Gas, Corrie. Dreh den Knopf genau wie vorher.«
Wir drängten uns um Corrie, während sie die Zunge in den Mundwinkel steckte und langsam den Knopf zu drehen begann. Einen Augenblick später hörten wir die erste vernünftige Erwachsenenstimme seit langer Zeit. Es war eine sehr rasch sprechende Frau, aber wir verstanden die Sprache nicht.
»Mach weiter«, flüsterte Homer.
Wir hörten Musik, eine amerikanische Stimme sagte: »Ihr empfangt Ihn in eurem Herzen und erst dann kennt ihr die vollkommene Liebe«, zwei weitere fremdsprachige Sender – »Das ist Taiwanesisch«, sagte Fi überraschenderweise – und dann, als das Radio bereits zu ersterben begann, eine leise Stimme, die Englisch sprach. Es war eine männliche Stimme und alles, was wir hören konnten, war Folgendes:
»... warnte Amerika davor, sich einzumischen. Der General sagte, dass Amerika in den längsten, teuersten und blutigsten Krieg seiner Geschichte geraten würde, wenn es versuchen würde einzugreifen. Er sagte, dass seine Streitkräfte mehrere Küstenstädte besetzt hielten. Auch ein großer Teil des Binnenlandes sei bereits besetzt und die Verluste seien geringer als erwartet. Es wurden zahlreiche zivile und militärische Gefangene gemacht, die unter humanitären Bedingungen festgehalten würden. Sobald sich die Situation stabilisiert habe, würden Teams des Roten Kreuzes die Erlaubnis erhalten, sie zu besichtigen.
Der General wiederholte seine Behauptung, dass die Invasion darauf abziele, ›Ungleichgewichte in dem Gebiet zu verringern‹. Während die internationale Empörung zunimmt, berichtet FCA über gelegentliche Kämpfe in vielen ländlichen Gebieten sowie mindestens zwei große Schlachten ...«
Und das war's. Die Stimme wurde rasch leiser. Wir verstanden ein paar einzelne Worte, »Vereinte Nationen«, »Neuseeland«, »zwanzig bis fünfundzwanzig Flugzeuge« und dann war sie weg. Wir sahen einander an.
»Jeder soll sich Bleistift und Papier holen und aufschreiben, was er zu hören geglaubt hat«, sagte Homer ruhig. »Dann vergleichen wir unsere Notizen.«
Zehn Minuten später kamen wir wieder zusammen. Es war erstaunlich, wie unterschiedlich die Versionen waren, aber bei den wichtigen Einzelheiten stimmten wir überein. Was wir folgern konnten, war genauso wichtig wie das, was der Mann gesagt hatte. »Wir können jedenfalls sicher sein, dass es nicht der Dritte Weltkrieg ist«, sagte Homer und setzte sich auf die Fersen. »Jedenfalls noch nicht. Es klingt so, als ginge es nur um uns.«
»Der Teil über die Gefangenen war gut«, sagte Corrie. Alle nickten. Es klang irgendwie echt. Es hatte uns allen ein wenig geholfen, obwohl wir noch immer von schrecklichen Ängsten heimgesucht wurden.
»Er versucht die Amerikaner an Vietnam zu erinnern«, sagte Fi. »Das gilt als ihr nationaler Albtraum oder so was.«
»Der Albtraum war für die Vietnamesen größer«, bemerkte Chris.
Ich sah zu Lee hinüber, dessen Gesicht ausdruckslos war.
»Die Amerikaner lieben es nicht, in die Angelegenheiten anderer Länder verwickelt zu werden.« Ich erinnerte mich an etwas, das wir in der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts durchgenommen hatten. »Woodrow Wilson und der Isolationismus, ist das nicht eines der Themen, das wir während der Ferien vorbereiten sollten?«
»Erinnere mich bitte, dass ich heute Abend daran arbeite.« Das war Kevin.
»Internationale Empörung klingt vielversprechend«, sagte Robyn.
»Das ist wahrscheinlich unsere größte Hoffnung. Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass viele Länder herbeistürzen werden, um ihr Blut für uns zu vergießen«, sagte ich.
»Aber haben wir nicht Verträge und solches Zeug?«, fragte Kevin. »Ich habe geglaubt, dass Politiker dazu da sind, all das zu organisieren. Wozu haben wir ihnen sonst jahrelang ihre Gehälter gezahlt?«
Keiner wusste eine Antwort. Vielleicht dachten sie wie ich daran, dass wir uns längst dafür hätten interessieren sollen, bevor es zu spät war.
»Was bedeutet Ungleichgewichte in dem Gebiet verringern?«, fragte Kevin.
»Ich glaube, er meint damit, dass alles gleichmäßiger aufgeteilt werden sollte«, antwortete Robyn. »Wir haben so viel Land und so viele Ressourcen und dennoch gibt es in unmittelbarer Reichweite Länder, in denen die Menschen zusammengedrängt wie Legebatteriehühner leben. Man kann ihnen keine Vorwürfe machen, dass sie uns das übel nehmen, und wir haben nicht viel getan, um irgendwelche Ungleichgewichte zu verringern, sondern haben auf unseren fetten Hintern gesessen, uns unseres Reichtums erfreut und sind selbstgefällig gewesen.«
»Und so zerkrümeln die Plätzchen«, sagte Kevin unbehaglich.
»Und jetzt haben sie die Plätzchen genommen und sie auf eine ganz neue Art zerkrümelt«, sagte Robyn. »Es sieht übrigens so aus, als wollten sie das ganze Paket.«
»Ich verstehe euch nicht«, sagte Kevin. »Ihr klingt, als mache es euch nichts aus. Ihr haltet es sogar für fair, oder? Lasst sie hereinspazieren und sich alles nehmen, was sie wollen, alles, wofür eure Eltern gearbeitet haben. Bedient euch nur, Kumpel, kümmert euch nicht um uns. Habt ihr das aus der Bibel? Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu oder so? Erinnert mich daran, dass ich nicht in eure Kirche gehe.«
»Das wird nicht so bald der Fall sein.« Corrie legte Kevin lächelnd die Hand aufs Knie und versuchte ihn zu beruhigen. Aber Robyn ließ sich nicht so einfach abspeisen.
»Natürlich macht es mir was aus«, sagte Robyn. »Wäre ich eine Heilige, würde es mir vielleicht nichts ausmachen, aber ich bin keine Heilige, also macht es mir sehr viel aus. Und sie handeln nicht gerade auf sehr religiöse Art. Ich kenne keine Religion, die den Menschen sagt, sie sollen hingehen und stehlen und töten, damit sie bekommen, was sie wollen. Ich kann verstehen, warum sie es tun, doch verstehen ist nicht dasselbe wie unterstützen. Aber wenn man sein ganzes Leben in einem Slum verbringt und hungert, arbeitslos und immer krank ist und zusieht, wie die Menschen auf der anderen Seite der Straße in der Sonne bräunen und jeden Tag Eis essen, dann wird man sich nach einer Weile selbst einreden, dass es gar nicht so schrecklich ist, wenn man ihnen ihren Reichtum wegnimmt und unter seinen Nachbarn verteilt. Einige wenige Menschen würden leiden, aber sehr viele Menschen wären besser dran.«
»Es ist einfach nicht richtig«, sagte Kevin eigensinnig.
»Vielleicht. Aber das ist deine Art, es zu sehen, auch nicht. Es muss nicht eine richtige und eine falsche Seite geben. Beide Seiten können Recht haben und beide können Unrecht haben. Ich glaube, dass dieses Mal beide Länder Unrecht haben.«
»Soll das also heißen, dass du nicht gegen sie kämpfen wirst?«, fragte Kevin, der noch immer auf einen Kampf aus war.
Robyn seufzte. »Ich weiß es nicht. Ich habe bereits gekämpft, oder? Ich war mit Ellie beisammen, als wir durch Wirrawee donnerten. Ich nehme an, dass ich um meiner Familie willen gegen sie kämpfen werde. Aber nach dem Krieg – falls es so eine Zeit überhaupt gibt – werde ich verdammt hart daran arbeiten, die Dinge zu ändern. Es ist mir gleich, wenn ich den Rest meines Lebens damit verbringe.«
»Du warst derjenige, der fand, dass wir ein zu großes Risiko eingehen, wenn wir Robyn und Lee suchen«, sagte ich zu Kevin. »Damals warst du nicht so kampflustig.«
Er sah unbehaglich drein. »Das habe ich nicht gemeint«, war alles, was er sagte.
Homer mischte sich ein. »Vielleicht ist es an der Zeit zu beschließen, was wir tun werden. Wir hatten Gelegenheit, uns auszuruhen, wieder zu Atem zu kommen, über alles nachzudenken. Jetzt müssen wir entscheiden, ob wir uns hier verstecken, bis der Krieg sich von selbst erledigt hat, oder ob wir hinausgehen und etwas unternehmen.« Er schwieg, und als niemand sprach, fuhr er fort. »Ich weiß, wir sind dazu bestimmt, Schüler zu sein, und zu jung, um viel mehr zu tun, als die Tafel für den Lehrer abzuwischen, aber einige der Soldaten, die ich neulich nachts gesehen habe, waren kaum älter als wir.«
»Ich habe zwei gesehen, die viel jünger aussahen als wir«, sagte Robyn.
Homer nickte. Niemand sprach. Die Spannung war schwer, wie eine feuchte Nacht. Hier in diesem geheimen Becken waren wir kurze Zeit vor der Angst, dem Schweiß und dem Bluten der Außenwelt isoliert gewesen. Die Menschen hielten einander gefangen, verletzten, töteten einander, aber wir hatten uns in das Paradies der Hölle zurückgezogen.
Es bezog sich nicht auf das, was Homer gesagt hatte, aber ich sprach trotzdem. »Ich kann verstehen, warum der Einsiedler sich entschloss, hier unten, fern von allem, zu leben.«
»Fern von der menschlichen Rasse«, murmelte Chris.
»Es geht um unsere Familien«, sagte Corrie. »Ihretwegen machen sich alle Sorgen, nicht wahr? Ich würde wahrscheinlich für mein Land kämpfen, aber ich werde verrückt, wenn ich mich frage, was meiner Familie zugestoßen ist. Wir wissen nicht, ob sie am Leben oder tot sind. Wir denken und hoffen, dass sie sich auf dem Messegelände befinden und gut behandelt werden, aber wir wissen es nicht. Wir können nur glauben, was Mr Clement gesagt hat.«
»Es hat mir geholfen, dass ich Mr Coles auf dem Messegelände gesehen habe«, sagte ich. »Er sah gesund aus. Er sah weder verängstigt noch verletzt aus. Für mich machte das einen großen Unterschied aus.«
»Wir sollten versuchen mehr über das Messegelände herauszufinden«, mischte sich Fi ein. »Wenn wir wüssten, dass alle dort sind, dass sie unverletzt sind, dass sie ordentlich ernährt werden und so weiter würde das die ganze Sache ändern.« Homer wollte sie unterbrechen, aber sie sprach weiter. »Ich habe darüber nachgedacht, worüber Robyn und Kevin gestritten haben. Wenn ich meine Familie und meine Freunde gesund wiederbekommen könnte, würde ich diesen Leuten all die blöden Häuser, Autos und anderen Dinge überlassen. Ich würde mit meiner Familie in einer Pappschachtel auf der Schutthalde leben und glücklich sein.«
Ich versuchte mir vorzustellen, wie Fi mit ihrer schönen Haut und der sanften, höflichen Stimme auf der Schutthalde lebte.
»Das klingt, als sollten wir wirklich versuchen mehr über das Messegelände herauszufinden«, sagte Homer. »Aber es wird nicht leicht sein.« Er fügte bescheiden hinzu: »Ist euch eigentlich klar, dass alle Gruppen, die in die Stadt gegangen sind, entdeckt wurden – außer Fi und mir?«
Lee lag links von mir und lehnte sich an einen noch warmen Felsen. Anscheinend war er an der Reihe. »Ich glaube nicht, dass sie foltern und Massenhinrichtungen durchführen werden. Die Welt verändert sich und jedes Land, das so etwas täte, weiß, dass die anderen deshalb Stunk machen würden. Ich weiß, dass es noch immer passiert, aber nicht so oft wie früher. Heutzutage scheint man Verschiedenes unauffällig während eines langen Zeitraums zu machen. Die Jungs sind offensichtlich kampflustig, aber es ist ein großer Unterschied zwischen kaltblütigem Mord und blindem Drauflosschießen. Wir wissen, dass sie blind drauflosschießen – da sind sie wild und das Loch in meinem Bein beweist es. Aber in einem Krieg ist das irgendwie normal und vieles davon ist Selbstverteidigung. Es bedeutet nicht, dass unsere Familien in Konzentrationslagern sind. Diese beiden Dinge gehören nicht automatisch zusammen.«
»Ich hasse sie«, sagte Kevin. »Ich weiß nicht, warum ihr alle so verständnisvoll seid. Ich hasse sie einfach und ich möchte sie alle töten. Und wenn ich eine Atombombe hätte, würde ich sie ihnen auf den Kopf fallen lassen.«
Er war wirklich aufgebracht und hatte unser Gespräch unterbrochen, als hätte er tatsächlich eine Atombombe abgeworfen. Aber nach einigen Minuten peinlichen Schweigens sprach Homer weiter.
»Wollen wir also das Messegelände genauer überprüfen? Können wir es genauso geräuschlos und raffiniert tun wie Fi und ich oder wollen wir einmarschieren wie eine Heavy-Metal-Band in einen Kegelklub?«
»Wir könnten einen Tunnel graben«, schlug ich vor.
»Ja, oder einen Stabhochsprung über einen Zaun machen. Hat jemand einen ernsthaften Vorschlag? Und wie sehr sind wir überhaupt darauf aus, es zu tun?«
»Sehr«, sagte ich.
»Ich muss zugeben, dass es mir bei dem Gedanken kalt über den Rücken läuft«, sagte Corrie leise. »Aber es ist etwas, das wir tun müssen. Wir werden nachts nie mehr schlafen, wenn wir es nicht tun.«
»Wir werden nachts nie mehr schlafen, wenn wir tot sind«, sagte Chris. »Weil meine Eltern in Übersee sind, bin ich nicht so in diese Sache verwickelt wie ihr. Aber ich glaube, ich werde es versuchen.«
»Ich weiß, was unsere Eltern sagen würden«, sagte Fi. »Sie würden sagen, dass unsere Sicherheit für sie das Wichtigste ist. Sie würden nicht wollen, dass wir sterben, damit sie leben können. In gewisser Hinsicht sind wir diejenigen, die ihrem Leben seinen Sinn geben. Aber wir können uns davon nicht abhalten lassen. Wir müssen das tun, was für uns richtig ist. Wir müssen einen Sinn für unser eigenes Leben finden und das hier wäre vielleicht eine Möglichkeit. Ich schließe mich Corrie an; ich fürchte mich schrecklich, aber ich werde es tun, weil ich mir den Rest meines Lebens nicht vorstellen kann, wenn ich es nicht tue.«
»Ich bin der gleichen Ansicht«, sagte Robyn.
»Ich bete die ganze Nacht und den ganzen Tag, dass mein Bein gesund wird und ich meine Familie suchen kann«, sagte Lee.
»Ich schließe mich der Mehrheit an«, sagte Kevin.
Wir sahen Homer an. »Ich habe nie geglaubt, dass ich andere Menschen verletzen müsste, um mein Leben zu leben«, sagte er. »Aber mein Großvater hat es im Bürgerkrieg getan. Wenn ich es tun muss, hoffe ich, dass ich die Kraft haben werde – wie Ellie. Was auch immer wir tun – ich hoffe, dass wir es tun können, ohne jemanden zu verletzen. Aber wenn es dazu kommt ... ja, dann kommt es eben dazu.«
»Du wirst weich«, sagte Kevin.
Homer ignorierte ihn und sprach rasch weiter. »Ich denke immer an das Zitat, das Corrie neulich erwähnt hat. ›Zeit, die man zur Erkundung verwendet, ist selten vergeudete Zeit.‹ Das Dümmste, was wir tun könnten, wäre, wie Rambo anzugreifen und mit unseren kleinen .22ern wild herumzuballern. Fi hat Recht, unsere Familien wollen nicht, dass wir kalt auf einem Sockel im Leichenschauhaus liegen. Wenn wir ein paar Tage mehr dazu brauchen, dann muss es eben so sein. Wir werden nur dann ein großes Risiko eingehen, wenn wir herausfinden, dass ihnen demnächst etwas Schreckliches zustoßen wird. Es könnte ihnen allerdings bereits etwas zugestoßen sein, und wenn das so ist, können wir nichts mehr dagegen unternehmen.
Ich glaube also, dass wir eine Art Beobachtungsplatz finden müssen, der versteckt und sicher ist und von dem aus wir das Messegelände beobachten können. Je mehr wir wissen, desto besser werden unsere Entscheidungen und desto erfolgreicher werden wir sein. Dem Radio zufolge hat noch nicht das ganze Land kapituliert und daher kommt es noch zu allen möglichen Gefechten. Wir müssen mit jedem sprechen, den wir in der Stadt finden können, zum Beispiel mit Mr Clement, und sogar versuchen mit dem Heer Verbindung aufzunehmen oder wer auch immer in den anderen Distrikten kämpft. Wir sollten uns als echte Guerilla-Einheit etablieren, so weit wie möglich vom Land leben, beweglich, schnell und zäh sein. Wir müssen vielleicht monate- oder sogar jahrelang so leben.
Wenn euch nicht gefällt, was ich jetzt vorschlage, dann sagt es. Wir könnten zum Beispiel zwei oder drei Leute für achtundvierzig Stunden nach Wirrawee schicken. Sie müssten nur Informationen beschaffen, sonst nichts. Wenn sie wirklich vorsichtig sind, kann man sie auf keinen Fall entdecken. Sie dürfen nur ausschließlich nachts tätig sein und müssen jede Bewegung, die sie machen, dreimal überprüfen. Die anderen können inzwischen das Leben hier gründlich organisieren. Wir werden nie ein besseres Basislager finden, aber wir sollten mehr Vorräte hierherschaffen und es zu einem richtigen Hauptquartier ausbauen. Es ist erschreckend, wie schnell wir unsere Lebensmittel verbrauchen. Wir sollten Rationen einführen. Und ich möchte in den Bergen weitere kleine Verstecke einrichten. Sie mit Essen und anderem Zeug versehen, falls wir von diesem Ort abgeschnitten werden. Wie gesagt – wir müssen beweglicher werden.
Und da wir vom Land leben wollen, müssen wir uns das ernsthaft überlegen. Wir müssen uns also etliche Möglichkeiten ausdenken. Wo gibt es in diesen Bergen Quellen? Können wir Kaninchen oder Kängurus fangen oder sogar Opossums? Ellies und meine Familie haben immer selbst für Fleisch gesorgt, also können wir auch schlachten.«
»Gilt auch für mich«, sagte Kevin.
»Ich kann ein Opossum delikat süß-sauer zubereiten«, sagte Lee. »Oder fangt eine Wildkatze und ich mache Dim Sims.«
Angewidertes Stöhnen setzte ein. Lee lehnte sich zurück und grinste mich an.
»Wir könnten Tiere hierherbringen«, schlug Corrie vor. »Hühner, vielleicht einige Lämmer, Ziegen.«
»Gut«, sagte Homer. »Genau darüber müssen wir nachdenken.«
Als die Ziegen erwähnt wurden, reagierte Kevin missmutig. Ich wusste, was er dachte. Man hatte uns als Schaf-Farmer erzogen und das Erste, was wir lernten, war, Ziegen zu verachten. Schafe waren gut, Ziegen schlecht. Es bedeutete nichts, aber wir würden vieles neu lernen müssen.
»Du denkst auf weite Sicht«, sagte ich zu Homer.
»Ja«, stimmte er zu. »Auf wirklich weite Sicht.«
Wir berieten noch zwei Stunden lang. Corries Radio hatte das letzte Wort gehabt. Es hatte uns aus unserem Schock, unserem Kummer gerissen. Als wir endlich erschöpft aufhörten, waren wir zu ein paar Entscheidungen gekommen. Am nächsten Abend würden zwei Paare in die Stadt gehen – Robyn und Chris, Kevin und Corrie. Sie würden unabhängig voneinander operieren, aber engen Kontakt halten. Sie würden die ganze Nacht und den größten Teil der nächsten Nacht dortbleiben und am folgenden Tag im Morgengrauen zurückkehren. Sie würden also etwa sechzig Stunden fort sein. Kevin und Corrie würden sich auf das Messegelände konzentrieren. Robyn und Chris würden in der Stadt herumkreuzen, Leute suchen, die sich versteckt hielten, nützliche Informationen und sogar Ausrüstungsstücke sammeln. »Wir beginnen Wirrawee zurückzufordern«, stellte Robyn fest. Wir legten eine Menge komplizierter Einzelheiten fest, zum Beispiel, wo sie ihren Stützpunkt haben würden (das Haus von Robyns Musiklehrerin), wo sie Mitteilungen an die anderen deponieren würden (unter der Hundehütte), wie lang sie Mittwoch früh warten würden, wenn das zweite Paar nicht auftauchte (überhaupt nicht), und eine erfundene Geschichte, durch die sie die Hölle und uns schützen würden, falls sie erwischt wurden. (»Wir haben uns seit der Invasion unter der Masonic Hall, dem Gebäude der Freimaurer, versteckt und sind nur nachts herausgekommen.«) Wir nahmen an, dass dieser Ort niemanden belasten würde und dass die Patrouillen ihn nicht kontrolliert hatten. Robyn und Chris erklärten sich bereit, dort ein Scheinlager einzurichten, um die Geschichte glaubwürdiger zu machen.
Der Rest von uns, der in der Hölle zurückblieb, würde so ziemlich das tun, was Homer vorgeschlagen hatte – weitere Vorräte hinunterschmuggeln, aus der Hölle einen richtigen Stützpunkt machen, die Essensrationen festlegen und neue Verstecke ausfindig machen.
Seltsamerweise versetzte mich die Vorstellung, wie ich die nächsten Tage verbringen würde, in eine ziemliche Hochstimmung. Zum Teil hatte ich Angst davor, in die Stadt zurückzukehren, deshalb war es eine Erleichterung, dass ich eine Atempause bekam. Zum Teil war es auch, weil Kevin zwei Tage fort sein würde, denn er begann mir allmählich auf die Nerven zu gehen. Aber vor allem waren es die interessanten Kombinationen, die zwischen den Hiergebliebenen möglich waren. Da waren Homer und Lee, für die ich beide starke, seltsame Gefühle hatte, doch wurde dies dadurch kompliziert, dass Fi Homer offensichtlich sehr stark anzog. Homer war anscheinend noch immer zu schüchtern, um dieser Anziehung nachzugeben, obwohl er ihr gegenüber jetzt selbstsicherer war. Da war Fi, die in letzter Zeit ihre kühle Art verloren hatte und nervös und schweigsam wurde, wenn Homer in ihrer Nähe war. Obwohl noch immer schwer zu glauben war, dass sie ihn lieben konnte – na ja, wirklich lieben. Da war Lee, der mich mit seinen Opossum-Augen ansah, als wäre sein verletztes Bein der einzige Grund, warum er nicht aufsprang und mich packte. Ich hatte ein wenig Angst vor der Unergründlichkeit dieser schönen Augen.
Ich fühlte mich schuldig, wenn ich an Liebe auch nur dachte, während unsere Welt sich in einem solchen Chaos befand und vor allem weil meine Eltern all das Schreckliche mitmachten. Es waren wieder die jungen Stiere in den Schlachthäusern. Aber mein Herz machte sich seine Gesetze selbst und weigerte sich von meinem Gewissen kontrolliert zu werden. Ich ließ ihm freien Lauf und dachte an all die faszinierenden Möglichkeiten.