Am Samstag war ich - nach einer kleinen Auseinandersetzung mit meiner Mutter über Selbstverantwortung und Erwachsenwerden, die wir zum Glück versöhnlich beenden konnten -, ab Mittag bei den Lovic`.
Es war heiß und der kleine Ventilator auf Adrianas Kommode gab sein Bestes. Adriana und ich schaukelten in der neuen Hängematte, während wir Vanilleeis mit Schlagsahne und Schokoraspeln aßen. Sergio war mit Jelena beim Getränkeeinkauf, wie mir Adriana berichtet hatte. Wir hatten uns heute noch nicht gesehen, und ich war schon ganz sehnsüchtig.
Adrianas neu gestaltetes Zimmer mit den schrillen Möbeln und den dazu passenden Accessoires war noch viel beeindruckender als auf den Handyfotos. Das karibische Ambiente machte richtig gute Laune. Doch das erstaunlichste war, dass Yvo - statt mit seiner brandneuen Legoausgabe zu spielen, die Sergio wie üblich heute Morgen mit ihm zusammen gekauft hatte - auf Adrianas neuem Rattanbett saß, ebenfalls Eis schleckte und dabei wie gebannt die Fototapete betrachtete, als wolle er sich jeden Zentimeter des Strands, jeden Sandkorn und jedes Blatt genau einprägen.
Er sprach kein Wort mit uns, summte auch nicht, aber an seiner entspannten Körperhaltung und seinem aufgeweckten Blick war erkennbar, dass es ihm gut ging.
„Er ist so unglaublich süß, wenn er zufrieden ist“, sagte ich leise zu Adriana. Yvos Wangen waren gerötet, er saß im Schneidersitz und seine kleinen Kniescheiben traten deutlich hervor.
Adriana nickte lächelnd.
„Ja, Yvo ist ein ganz Süßer … stimmt’s, Yvo? Schmeckt dir dein Eis?“ Gespannt wartete sie trotz besserem Wissen auf eine Reaktion, die natürlich nicht kam. Sie seufzte leise. Dann sah sie mich nachdenklich an.
„Was ist?“, fragte ich, als sie nur noch durch mich hindurchblickte, als wären ihre Gedanken zu einem ganz anderen Thema abgewandert.
Adriana senkte den Blick, führte einen übervollen Löffel Eis in den Mund und machte eine bedrückte Miene.
„Sergios Kampf ist schon heute Abend, und er wirkt kein bisschen nervös … was … na ja, vielleicht auch gut so ist“, sagte sie in einem leisen Ton, damit Yvo nichts mitbekam, „… aber meine Mutter kriegt eine Krise nach der anderen … die streiten sich nur noch. Ich wundere mich ehrlich gesagt, dass sie zusammen die Getränke kaufen gegangen sind, denn normalerweise macht das Sergio allein. Ich denke, sie will ihn bearbeiten oder sich richtig mit ihm anlegen. Mal sehen in welcher Stimmung sie zurückkommen!“
„Sergio hat die letzten Tage viel trainiert. Er fühlt sich bereit“, sagte ich, obwohl ich eigentlich zu wenig Ahnung von seinen Kämpfen hatte, um mitreden zu können. Sergio hatte das Thema mir gegenüber geschickt ausgeklammert oder beschwichtigend umschifft, und ich wollte ihn nicht nerven.
„Ja, wie immer, aber diesmal kennt er seinen Gegner nicht, wird nicht auf ihn vorbereitet und das Preisgeld ist ungewöhnlich hoch, dass es zum Himmel stinkt.“
„Hm, aber bei diesen Kämpfen kann doch nichts Ernstes passieren, oder? Ich mein, da wird keiner ernsthaft verletzt, dass er ins Krankenhaus muss, oder nicht?“
Adriana hob und senkte die Schultern.
„Also, Sergios Verletzungen waren bisher allesamt harmlos, bunt ja, die ganzen Veilchen, aber nicht wirklich schlimm. Gegen die Muskel- und Knochenschmerzen hat er so seine Methoden, er nimmt ein Eisbad, hinterher schmiert er sich mit Schmerzsalbe ein und gut ist …“
Verwundert fragte ich nach: „Was ist, bitte, ein Eisbad?“
Sie lachte. „Ein Bad im kalten Wasser mit ganz viel Eiswürfeln drin.“
„Nicht dein Ernst?“
„Lexi, dann frag ihn doch selber.“
„Wow, so was habe ich noch nie gehört.“
„Tja … Sergio hat noch nie verloren … Ich will also nicht wissen, wie es den Gegnern ergangen ist?“
„Warst du denn noch nie dabei?“
„Bist du verrückt? Außerdem, Sergio und Luka würden es nie zulassen, dass ich oder meine Mom … oder auch du … mal zusehen. Sergio sagt, dass sei nichts für uns. Es sähe alles sehr brutal aus und ein Haufen widerlicher Typen stehe gedrängt beieinander und gröle und brülle aus voller Kehle.“
Adriana verzog angewidert das Gesicht und löffelte wieder ihr Eis.
In diesem Moment kam in mir erstmalig der Wunsch auf, dabei zu sein. Ja, plötzlich war ich mir ganz sicher … ich wollte diesen heutigen Kampf, der bei Adriana und Jelena soviel Aufregung verursachte, miterleben. Sergio musste mich mitnehmen. Schließlich war ich jetzt seine Freundin, und ich wollte zusehen, wenn er kämpfte und hoffentlich gewann!
Yvo hatte sein Eis verdrückt und hielt das leere Glas mit durchgestrecktem, steifem Arm in die Höhe.
„Mehr … mehr Eis … “, rief er, ohne den Blick von der Fototapete zu nehmen.
„Ja, ja, kommt gleich …“, gab Adriana zurück und kämpfte sich etwas umständlich aus der Hängematte. „Bin gleich wieder da, Lexi …“ Sie schnappte sich Yvos Glas und lief in die Küche. Yvo ließ den Arm einfach weiter hochgestreckt.
Ich schaukelte nun allein vor und zurück. Das kalte Vanilleeis auf meiner Zunge schmeckte himmlisch. Die mit Schokoraspeln vermischte Sahne klebte in meinen Backen und am Gaumen.
Dann überschlugen sich meine Gedanken: Wie wird Sergio auf meine Schnapsidee reagieren? Was erwartet mich, sollte ich beim Kampf dabei sein dürfen? Was, wenn Sergio verliert oder sich schwer verletzt?
Ich hörte wie die Wohnungstür aufgeschlossen wurde und Sergio hereinpolterte. „Jemand zuhause?“
Dann vernahm ich Adrianas Stimme: „Du holst dir noch `nen Bruch, wenn du zwei Kästen auf einmal schleppst, ich sag’s dir nur!“
Jelena antwortete keuchend und völlig entnervt: „Lass, Janna, zwecklos … Er hört nicht drauf. Wer nicht hören will, muss fühlen, oder? Mal einmal auf deine … Mutter hören, ist zuviel verlangt?“
„Du hast vor fünf Minuten behauptet, dass du nichts mehr sagen wirst und tust es doch wieder. Jetzt halt doch einfach mal dein Wort, Majka, hm, wie wär’s?“
Oh, Sergio klang auch etwas gereizt.
Adriana kam zurück ins Zimmer und drückte Yvo, dessen Arm immer noch in der Luft schwebte, das nachgefüllte Glas Eis in die Hand und setzte sich wieder zu mir in die Hängematte.
„Siehst du, die haben gestritten …“, flüsterte sie mit ratlos hochgezogenen Augenbrauen.
Ich horchte. Von Sergio und Jelena war nichts mehr zu hören, nur Yvo schlabberte an seinem Eis herum „Jetzt sagt keiner mehr was …“, bemerkte ich.
„Ja, gutes Zeichen. Dann haben sie sich unterwegs wohl schon genug gezofft.“
Ich überlegte kurz, ob ich Adriana von meinem Plan erzählen sollte und entschied mich dafür. „Ich will Sergio fragen, ob er mich zu seinem heutigen Kampf mitnimmt“, sagte ich, gespannt auf ihre Reaktion.
Adriana starrte mich perplex an. „Du willst was? Weshalb denn? Und das, nachdem ich dir seine Meinung darüber erzählt hab?“
„Ich will einfach dabei sein“, entgegnete ich.
„Na, dann mach dich auf eine schöne Auseinandersetzung gefasst … eure erste nehm ich an?“
Sergio steckte den Kopf durch die Tür und lächelte sein schiefes, unwiderstehliches Lächeln, in dem auch soviel Herzlichkeit lag. Ich konnte kaum glauben, dass mir das bei unserer ersten Begegnung nicht aufgefallen war.
„Faul am Strand rumhängen und Eis essen, während ich schuften muss …!“, lachte er.
Er setzte sich neben Yvo aufs Bett. „Hey, lässt du mich von deinem Eis mal probieren, hm?“ Yvo bewegte sich nicht, ließ den Blick stur auf die Fototapete gerichtet.
„Ja, okay, musst nicht …“, sagte Sergio zärtlich, doch kaum hatte er das gesagt, hielt ihm Yvo sein Eisglas hin, ohne ihn dabei anzusehen. Sergio nahm sich einen vollen Löffel, steckte ihn mit einem genussvollen „Mhmmm“ in den Mund und machte ein zufriedenes Gesicht. „Danke, das was sehr lieb von dir. Schmeckt toll … iss du den Rest …“
„Hi, Sergio“, begrüßte ich ihn lächelnd. Mein Herz klopfte aufgeregt vor Freude, dass er endlich da war.
Er kam zu uns rüber und quetschte sich zwischen Adriana und mir. „Rückt doch mal ein Stück auseinander.“
Adriana beschwerte sich. „Sergio, lass doch, die Hängematte trägt uns drei nicht … du bist zu groß und zu schwer …“ Nervös checkte sie die Hängevorrichtung an der Wand. Aber sie schien sehr stabil zu sein.
„Quatsch, Janna, die trägt uns plus Luka ohne Probleme.“
Ich schmunzelte in mich hinein. Seine steinharten Armmuskeln drückten sich gegen meine Seite. Dann breitete er beide Arme aus und legte sie mir und Adriana um die Schultern.
Jelena rief aus der Küche nach Adriana.
Die rollte mit den Augen. „Sergio, wenn sie wieder wegen dir anfängt, halt ich mir die Ohren zu und schrei ‚Blablabla’.“
„Nein“, sagte er mit ruhiger, tiefer Stimme und sah dabei ziemlich ernst aus, „… das tust du nicht, denn du bist schließlich keine fünf Jahre alt, oder? Du sagst ihr einfach, dass sie sich keine Sorgen machen soll, alles ist im grünen Bereich und morgen werden wir um achttausend Euro reicher sein.“
Adriana nickte mit einem tiefen Seufzer, sprang diesmal mit Sergios Hilfe - er gab ihr einen kräftigen Schubs - aus der Hängematte und lief aus dem Zimmer.
Für einige Sekunden schaukelten wir schweigend nebeneinander, genossen unsere unwillkürlichen Berührungen, sahen Yvo beim Tapeteanstarren zu und spürten die Funken zwischen uns hin- und herspringen.
Dann sah er mich an und ich ihn und schließlich küssten wir uns lang und innig, als hätten wir uns eine ganze Woche nicht gesehen …
„Wollen wir in mein Zimmer?“, fragte er fast flüsternd mit samtweicher Stimme.
„Ja“, antwortete ich, sah ihm dabei fest in die Augen. „Ich muss nämlich dringend mit dir reden …“
Er runzelte verwundert die Stirn. „Ja? Na, dann los …“
„Alles was du willst, Lexi, nur das nicht!“
Sergio stand mit verschränkten Armen vor mir und schüttelte den Kopf, als wollte er nie mehr damit aufhören.
„Es ist viel zu gefährlich!“, behauptete er dramatisch.
„Warum?“ Ich sah mit großen bittenden Augen zu ihm auf und war entschlossen, mich nicht abwimmeln zu lassen.
Sergio war fassungslos. „Warum? Ich sag dir, warum! Weil die Typen im Publikum durchgeknallte, total gestörte Spinner sind, die den ultimativen Kick und das schnelle Geld suchen. Darum! Da sind teilweise richtige Widerlinge darunter … reicht das?“
„Ich möchte aber gern bei dir sein, wenn du kämpfst!“
Ich machte ein möglichst verbissenes Gesicht und kniff die Augen zusammen.
„Lexi, ich kann dich nicht mitnehmen“, sagte er jetzt angestrengt, seine Augen für ein paar Sekunden geschlossen. „Wenn ich kämpfe, dann … dann ist das eine ganz andere Seite von mir, die dir nicht gefallen wird … Ich mach das nicht aus Spaß … na ja, vielleicht ein klein wenig schon … aber ich nehm dich ganz sicher nicht mit, da kannst du betteln soviel du willst.“
Schweigend setzte ich mich auf seinen Schreibtischstuhl und drehte mich wie auf einem Karussell. Nein, dachte ich, er muss mich mitnehmen. Meine Sturheit überraschte mich selber mindestens genauso sehr wie ihn.
Er ließ sich aufs Bett plumpsen, stützte sich mit den Armen ab und sah mich mit seitlich geneigtem Kopf und einem selbstsicheren Grinsen an.
„Wie viel Uhr geht’s denn los?“, fragte ich in einem absichtlich leicht angesäuerten Tonfall.
„Ich weiß nicht. Ich warte immer noch auf Lukas Anruf“, antwortete er gelassen.
Ich drehte mich samt Stuhl zu ihm und sah ihn eindringlich an. „Sergio …“, sagte ich und versuchte dabei so ernst und erwachsen auszusehen wie es nur ging, „… wenn ich verspreche, dass ich immer dicht bei Luka bleibe und tue, was er sagt, falls es gefährlich wird und mich auch sonst ganz unauffällig verhalte, nimmst du mich dann mit? Bitte!?!“
Er schüttelte entschieden den Kopf und lächelte ungläubig. „Nein, Lexi!“
Grrrgh. „Sergio!“
Ich stand auf und warf mich einfach auf ihn, sodass er nun auf dem Rücken lag, die Füße noch auf dem Boden, und ich mich auf ihn drauf setzen konnte. Er ließ es kommentarlos und mit einem erwartungsvollen Lächeln auf seinem Gesicht geschehen.
Ich blickte mit einer möglichst unbarmherzigen Miene zu ihm herab. „Wenn du mich nicht mitnimmst, dann … dann … komm ich auch nicht mehr mit zu deinem Opa …“, grummelte ich und kreuzte trotzig die Arme vor der Brust.
„So was nennt man Erpressung … ganz niederträchtige Erpressung, Lexi. Das passt nicht zu dir“, keuchte er unter der Last auf seinem Bauch.
„Doch passt sehr wohl“, entgegnete ich mit biestiger Stimme, „… ich bin niederträchtig, stur, eine gemeine Erpresserin und …“, ich spürte es ganz tief in meinem Herzen, „… völlig verrückt verliebt in dich …“ So, jetzt war es raus.
Einen Moment lang sah er mich sprachlos an. In seinen Augen funkelten Sterne - bildete ich mir ein. Ich beugte mich ganz dicht zu ihm herunter, bis meine Lippen ganz unmerklich seine berührten.
„Lexi …“, hauchte er erregt, „… ich glaub, ich bin … ich bin auch … ich …“
„Sag es …“, flüsterte ich an seiner Wange und gab ihm einen zärtlichen Kuss auf den Mund.
Er setzte erneut an: „… ich bin … wahnsinnig … wahnsinnig in dich verknallt …“
Oft schon hatte ich diese oder ähnliche Worte gehört, aber sie galten nie mir und kamen hauptsächlich in Hollywoodfilmen vor. Ich lächelte und überhäufte seine wundervollen, weichen Lippen mit meinen Küssen, entzog mich aber jedes Mal, wenn er versuchte, meinen Mund in Beschlag zu nehmen.
„Dann nimm mich mit! Ich bleib bei Luka, ich versprech’s hoch und heilig“, säuselte ich verführerisch, während ich ihn weiter küsste und küsste …
„Also gut …“, raunte er in mein Ohr und seine Arme schlangen sich um mich, hielten mich dabei so fest, dass ich mich nicht mehr rühren konnte, „… du bleibst von Anfang bis zum Ende bei Luka und redest mit niemandem ein Wort.“
Ich presste triumphierend und glücklich meinen nächsten Kuss auf seinen Mund und löste meine ganze Körperspannung. Schwer und ergeben lag ich nun auf ihm. Seine Zunge schob sich zaghaft durch meine Lippen … Genau in diesem paradiesischen Augenblick klingelte sein Handy!
Sergio riss die Augen auf.
Ich ließ mich schnell zur Seite fallen, damit er aufspringen konnte.
Aufgeregt nahm er den Anruf entgegen. „Ja?“ … mhm … mhm … alles klar … dann lassen wir uns eben überraschen! … Luka … Lexi kommt mit und du passt auf sie auf … ich weiß … ich weiß …“ Er warf mir einen unsicheren Blick zu, nickte mehrfach und konzentrierte sich wieder auf sein Gespräch. „… Nein, unmöglich … sie ist sturer als der Papst … ja, übernehm ich … ich vertrau dir … alles klar … bin bereit … ja, bis später!“
Nun stand also auch die Uhrzeit fest.
Er schmiss sich neben mich aufs Bett und stützte - wie ich - den Kopf auf dem Ellbogen ab. „Kriegst du immer was du willst, Lexi?“
Nachdenklich betrachtete ich sein Gesicht, das gerade erst wieder vollständig verheilt war. Und dann sagte ich die Wahrheit: „Nein, meistens nicht.“
Der Fight war auf zweiundzwanzig Uhr angesetzt, und Luka würde uns eine Stunde vorher abholen kommen.
„Weiß deine Mutter, wo und mit wem du dich rumtreibst?“, fragte Sergio halb im Ernst und halb im Spaß, als wir im Flur unsere Schuhe anzogen.
„Mit wem: ja, wo: nein!“, gab ich ehrlich zurück.
Sein Gesichtsausdruck verriet mir, dass er sich einen weiteren Kommentar gerade noch verkneifen konnte.
Jelena lehnte mit verschränkten Armen und sorgenvollem Blick an der Wand. „Sergio, mein Junge, pass gut auf dich auf“, schniefte sie. Adriana hockte genau ihr gegenüber und schwieg. Sergio nahm seine Mutter in den Arm und sprach beruhigend auf sie ein. Daraufhin stellte sich Adriana auf. „Du wirst gewinnen, Sergio! Ganz sicher!“ Er umarmte auch seine Schwester. Plötzlich bemerkten wir alle, dass der kleine Yvo im Türrahmen seines Zimmers stand und den Blick gesenkt hielt. Seine Hände waren ineinander gefaltet. Er stand da, als würde er auf etwas warten. Sergio lief sofort zu ihm hin und ging dicht vor ihm auf die Knie.
„Es ist spät, Yvo, du musst jetzt schlafen gehen“, sprach er in einem liebevollen, aber auffordernden Ton auf den Kleinen ein. „Ich hab noch was zu erledigen. Wenn du jetzt schlafen gehst, machen wir uns morgen einen tollen Tag, wir alle zusammen und … Hm, guter Plan?“
Zu unser aller Erstaunen nickte Yvo - ein klein wenig -, wir hatten es alle ganz sicher gesehen, und wiederholte: „Guter Plan … Guter Plan …“
Sergio drehte den Kopf zu uns und sah uns voller staunender Begeisterung an, als wolle er sagen: „Habt ihr das mitgekriegt?“
Wir nickten still und warteten gespannt, wie es weiter ging.
Yvo klopfte mit der flachen Hand mehrfach tollpatschig auf Sergios Kopf, wandte sich daraufhin abrupt ab und verschwand in sein Zimmer.
„Janna, kannst du Lexi eins von deinen Kapuzenpullis leihen?“, fragte Sergio, als er wieder bei uns stand.
Adriana nickte und eilte in ihr Zimmer. Eine Minute später kam sie mit einem schwarzen Kapuzenpulli, der zum Glück recht dünn war, zurück. Ich warf ihn mir über die Schulter und sah fragend zu Sergio.
„Gut, wir müssen los. Luka wartet unten in zweiter Spur.“ Sergio öffnete die Wohnungstür, und ich schritt schnell an ihm vorbei ins Treppenhaus.
Plötzlich rief mir Adriana nach: „Bist du wirklich sicher, dass du mitgehen willst, Lexi?“
Ich drehte mich kurz um, „Hundert Pro!“, lachte ich, und Sergio schüttelte nur verständnislos den Kopf.
Luka fuhr denselben klapprigen Mercedes, mit dem er Sergio von der Schule zum Training abgeholt hatte. Er war sichtlich nervös und redete ununterbrochen. Sergio und ich saßen auf dem Rücksitz und knutschten, statt ihm zuzuhören.
„Die Herausforderer sind leider eindeutig im Vorteil“, knurrte er wieder. „… die haben die möglichen Gegner schon ausgecheckt und können mit einem völlig Unbekannten kommen, bei dem sie sich einen Sieg versprechen. Diese ‚Blind Fights’ sind Bockmist, die machen mich scheiß mulmig ...“ Als er keine unmittelbare Antwort erhielt, sah er grimmig in den Rückspiegel. „Hey, Mann, Sergio!“
Sergio löste widerwillig seine Lippen von meinem Mund, nachdem ich ihn paar Mal an seinem T-Shirt gezupft und auf Luka gedeutet hatte. „Hm? Äh … ja, ach, das kriegen wir schon hin, Luka, ruhig Blut.“ Seinen Arm hatte er fest um meine Schultern gelegt. Mit dem Daumen strich er zufrieden lächelnd meine Wange und wartete auf die nächste Gelegenheit, bei der wir uns küssen konnten.
„Nimm das nicht zu sehr auf die leichte Schulter“, mahnte sein Cousin. „Ich glaub an dich, das weißt du, aber ich hab keine verdammte Ahnung, was uns erwartet, ein Glück sind unsere Jungs da, diese Russen oder Ukrainer sind ein Kaliber für sich, und jetzt schleppst du auch noch Lexi an. Ich hoffe, du weißt, was du tust, du brauchst da draußen nämlich auch ein bisschen Verstand, was dir aber irgendwie abhanden gekommen ist, denn sonst würdest das Mädchen nicht in so einen Hexenkessel mitnehmen.
„Du hast ja recht …“, gab ihm Sergio zu verstehen, „… aber Lexi ist so willensstark, ich komm dagegen nicht an ….“ Er gab mir einen spielerisch angedeuteten Punch aufs Kinn und platzierte anschließend einen dicken Kuss auf meinen Mund, bevor ich etwas erwidern konnte.
Luka räusperte sich laut. „Na ja, also folgende Regel und ich meins scheißernst: Wenn du merkst, der Gegner ist zu stark, dann brichst du ab, verstanden? Dann brichst du den scheiß Fight ab! Ich weiß, du warst noch nie in der Situation, und du bist verwöhnt, was Siege angeht, aber nur für den Fall der Fälle, nicht vergessen, ja, sonst war ich nämlich das letzte Mal dabei!“ Luka blickte mit zusammengezogenen Augenbrauen und einer strengen Miene in den Rückspiegel.
Sergio grinste schief. „Ich mach alles, was du willst, Papa!“
Wir hörten Luka vor sich hingrummeln. Die Dämmerung brach ein und mit jeder Minute wurde es immer dunkler. Plattenbausiedlungen zogen an uns vorbei, und die Straßen, auf denen wir fuhren wurden breiter und trostloser.
Irgendwann meinte Luka: „Sergio, mach diesen Scheißer, wer immer er auch ist, fertig und hol dir die Kohle! Charlie und `ne Menge deiner Fans werden da sein und dich anfeuern, und die haben alle auf dich gesetzt, Mann!“
Nach einer guten halben Stunde Autofahrt sah es so aus, als hätten wir unser Ziel endlich erreicht. Luka parkte den Wagen vor einem alten Fabrikgebäude, vor dem bereits jede Menge dicker ‚Schlitten’ standen und so gar nicht in das eher abgewrackte Straßenbild passten. Sergio bat mich, den Kapuzenpulli überzuziehen Oh je, ich würde darin furchtbar schwitzen, aber ich tat es dennoch.
Schnell entdeckten wir ein großes weißes Blechschild, das sehr hoch oben an einer Fassade hing und auf dem in schwarzen Lettern „Fight School“ stand.
„Wow, eins dieser Kämpferschmieden …“, sagte Sergio. Er hatte die Hände in die Hüften gestemmt und starrte das Schild an. „Wenn rauskommt, dass die hier illegale Kämpfe veranstalten, können sie gleich einpacken.“
Als wir über das Fabrikgelände in den hinteren Bereich und schließlich in einen ganz anderen Gebäudekomplex liefen, schrie alles in mir, dass ich zur falschen Zeit am falschen Ort war. Doch jedes Mal, wenn ich in meiner Unsicherheit Sergio ansah, wusste ich, ich wollte nicht woanders sein.
Wir liefen hinter Luka, der wiederum dem fahlen Licht und dem lauter werdenden Stimmengewirr folgte. Offensichtlich hatte er neben einer guten Wegbeschreibung auch einen exzellent guten Orientierungssinn.
Bevor wir das Ende des Flurs und den nächsten Eingang erreichten, wurden wir von vier Männern in Empfang genommen, die man getrost als ‚Gorillas’ bezeichnen konnte. Sie hatten akkurat geschnittene Stoppelhaarschnitte, trugen schwarze Tank Tops, schwarz glänzende Trainingshosen und weiße Sportschuhe. Unnötig zu erwähnen, dass sie muskelbepackt waren wie diese amerikanischen Show-Wrestler.
Luka und Sergio redeten mit ihnen, während ich mich lieber im Hintergrund hielt und zwischen meinen Haaren, die ich mir ins Gesicht gezogen hatte, hervorlugte. Luka fingerte etwas aus seinem Portemonnaie und zeigte es vor, Sergio ebenfalls. Einer der Typen telefonierte und dann nickten alle abwechselnd, lachten, klopften Luka und Sergio auf die Schultern, und schließlich wurde die Tür geöffnet und uns der Einlass gewährt. Sergio nahm mich an die Hand, und wir folgten Luka und zwei der ‚Gorillas’, die vorausliefen.
Mir war, als liefe ich gegen eine Wand aus Hitze und Dunst. Ein paar Meter von uns entfernt begann schon der dichtgedrängte Pulk aus Zuschauern, die mit dem Rücken zu uns standen. Spannung lag bereits deutlich spürbar in der Luft.
Sergio beugte sich zu meinem Ohr herunter. „Ich muss jetzt mit den Typen mit und werde, wenn’s soweit ist, in den Ring geführt. Das ist der übliche Ablauf. Ich überlass dich Lukas Schutz. Du klebst wie Pattex an ihm, bis wir wieder zusammen sind. Und bitte Lexi, setz die Kapuze auf … tu es einfach … und lass sie auf!“
Ich nickte. „Mach ich. Ich mach alles wie versprochen, Sergio, ich bleib bei Luka und feuer dich an … krieg ich noch einen Kuss, bevor du gehst?“
Ich bekam einen harten, leidenschaftlichen Kuss, der mein Innerstes erbeben ließ.
Dann schritt Sergio mit den beiden Gorillas durch einen langen Flur zur Linken und verschwand im Dunkeln.
Luka zog mich kaum merklich am Arm. „Wir suchen uns jetzt einen guten Platz bei unseren Leuten, von wo aus du was sehen kannst und wo du sicher bist. Außerdem brauch ich einen guten Blick auf Sergio. Ich will, dass er mich hören kann, wenn ich ihm was zurufe.“
Stampfend schritt er voraus und schob und drückte Leute einfach aus dem Weg. Ich hielt mich möglichst dicht hinter ihm, denn auf einmal fürchtete ich, von den vielen großen und breiten Typen um mich herum zerdrückt zu werden, bevor ich überhaupt irgendwo angekommen war.
„Luka“, rief ich panisch, weil der Abstand zwischen uns, trotz meiner Anstrengung, Schritt zu halten, immer größer wurde. Er drehte sich nach mir um und wartete. Als ich ihn wieder erreicht hatte, fragte ich, ob ich seine Hand nehmen dürfe. Er streckte mir seine Pranke entgegen, und ich ergriff sie dankbar. Dann zog er mich mit sich zu einem Haufen Leute, unter denen ich auch Charlie, den Restaurantbesitzer, wiedererkannte.
Luka begrüßte einige Typen mit High Five, Umarmung und Rückenklopfer. Er schob mich genau vor sich und deutete zwei Jugendlichen, die vor mir standen, Platz zu machen, damit ich was sehen konnte. Charlie stand rechts von uns und hatte offensichtlich ein paar Landsleute dabei, denn ich hörte hin und wieder ein paar Brocken Italienisch.
Es schien immer lauter zu werden, und die grölenden Stimmen vermischten sich zu einem durchgehenden Donner aus Geschrei und Gelächter. Geldscheine wechselten noch schnell ihre Besitzer, Zahlen wurden gerufen, hier und da gab es etwas Handgemenge, das aber schnell geregelt wurde.
„Bleib schön dicht bei mir“, rief Luka. „Gleich geht hier die Hölle los!“
Ich würde mich ganz sicher keinen Zentimeter von seiner Seite wegbewegen! Darauf konnte er Gift nehmen.
Plötzlich schnitt ein irre lauter Pfeifton wie eine scharfe Klinge durch den Lärm. Erschrocken zuckte ich zusammen und hielt Ausschau nach der Quelle.
Ein von Kopf bis Fuß tätowierter, kahlrasierter Typ Mitte dreißig stand auf einer Erhöhung, die ich nicht erkennen konnte und hielt ein kabelloses Mikro in der Hand: „Willkommen beim bloody ‚Blind Fight’! Macht euch auf etwas gefasst, ihr sadistischen Motherfucker. Wieder könnt ihr euer Geld vermehren oder verlieren. Mein Name ist Godzilla! Ich bin der oberste Richter und akzeptiere keine Widersprüche, Einwände oder sonstige Klagen. Wer die Regeln missachtet fliegt für immer raus und verlässt am Besten das Land. Sobald sich die Fighter im Ring gegenüberstehen sind alle Wetten abgeschlossen. Niemand nimmt Kontakt mit den Fightern auf. Der Fight endet, wenn er endet, keine Pausen, keine Gnade, nur Sieg oder Niederlage, Gewinnen oder Aufgeben. Und die ultimative, unumstößliche Regel, die über den zehn Geboten steht, lautet: ‚Blind Fights’ gibt es nicht! Wer etwas Gegenteiliges behauptet, wird den Löwen zum Fraß vorgeworfen. Also, meine Damen und Herren Liebhaber des Freestyle-Gemetzels, wir haben einen Fighter, den Ihr alle kennt und liebt, Sergio ‚Killerpunch’ Lovic, achtzehn Jahre, zehn Kämpfe, zehn Siege durch K.O. Sein erster ‚Blind’ …“
Wieder ertönte der schrille Pfeifton.
Die Menge brüllte und tobte und teilte sich plötzlich auf der linken Seite wie ein Schwarm Fische, den ein Räuberfisch durchschwimmt. Sergio marschierte mit freiem Oberkörper, Trainingshose und Sportschuhe, in Begleitung der ‚Gorillas’, in den Ring, der im Zentrum des Saals ein Kreis mit einem Durchmesser von circa zehn Metern war. Seine Tattoos leuchteten, als wäre er eingeölt worden. Er ließ den Kopf kreisen und lockerte die Nackenmuskeln, dann stand er bewegungslos da, verschränkte die Arme vor der Brust und wartete. Sein Gesichtsausdruck war düster und unerschrocken, seine Augen leicht zusammengekniffen. Er atmete ruhig und konzentriert. Als er mich sah, zuckte er mit dem Mundwinkel und hob ihn fast unmerklich an. Ich lächelte und biss mir viel zu doll auf die Unterlippe vor Aufregung.
‚Godzilla’ hielt wieder das Mikro vor den Mund und jeder im Saal wurde sofort still. „Soweit so gut. Jetzt wollt Ihr’s alle wissen, oder? Auf der Gegnerseite haben wir …“ Er las von einem Stück Papier ab. „Yuri … Ru … Rutschenko, ebenfalls achtzehn Jahre, zwanzig Kämpfe, sechzehn Siege durch K.O., vier durch Aufgabe des Gegners, fünf fucking ‚Blinds’ … Jedenfalls steht es hier so ...“ Er grinste argwöhnisch und wedelte mit dem Zettel.
Erneut ertönte der Pfeifton und das Publikum explodierte. Buh-Rufe waren laut und deutlich zu hören.
Diesmal teilte sich die Menge auf der rechten Seite und ein ziemlich großer, übel muskelbepackter Typ mit weißblonden, schulterlangen Haaren marschierte, ebenfalls von zwei ‚Gorillas’ eskortiert, mit einem tödlichen Gesichtsausdruck ein. Sein nackter Oberkörper schien wie aus Granit gemeißelt. Auf die rechte Seite seines Halses war ein dickes, schwarzes Jesus-Kreuz tättowiert. Der kantige Kiefer wirkte überdimensional. Auch er trug eine dunkle Trainingshose und Sportschuhe.
Mit tänzelnden Schritten trat er in die Mitte des Rings und stellte sich so dicht vor Sergio auf, dass nicht mehr als eine Handbreit Platz zwischen ihnen blieb. Sergio nahm die Arme herunter und fixierte ihn mit steinerner Miene.
Rutschenkos Haut schien neben Sergios so bleich, als wäre er mit weißer Farbe angemalt worden. Seine Unterlippe war dick und wulstig, die Nase flach mit großen Nasenlöchern, die Augen viel zu hell, ein Blassblau, wie ich es noch nie zuvor gesehen hatte. Sein Anblick war so ungewöhnlich und beängstigend, dass ich mich besorgt zu Luka umdrehte. Leider musste ich feststellen, dass er ebenso verunsichert die Stirn runzelte.
„Wer ist dieser Freak? Der ist doch niemals unter zwanzig!“, brüllte jemand aus dem Publikum, wurde aber ganz schnell zum Schweigen gebracht.
‚Godzilla’ hob den Arm in die Höhe. „Position!“
Sergio und Rutschenko stießen einmal mit den Handknöcheln gegeneinander, starrten sich dabei tief in die Augen, ohne mit der Wimper zu zucken, und anschließend ging jeder in seine Ecke.
Das Publikum schrie und tobte.
Als ‚Godzilla’ mit voller Lunge in seine Pfeife blies und den Arm herunterriss, wurde der ohrenbetäubende Lärm noch lauter,
Der Kampf konnte beginnen.
Beide Kämpfer attackierten sofort. Sergio landete einen harten Fußkick an Rutschenkos Schläfe, doch der schüttelte nur kurz den Kopf und schien wenig beeindruckt. Von allen Seiten wurde im Publikum nun geschoben und gezerrt. Ich versuchte, mich an Lukas Arm festzuhalten, aber plötzlich drängten sich mehrere bullige Typen zwischen uns und auch vor mich. Mit großer Mühe drehte ich mich wieder zum Ring, doch meine Sicht war nun komplett versperrt. Seitlich auszuweichen schien kaum möglich. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, konnte dadurch wenigstens noch einen Teil der Köpfe von Sergio und Rutschenko sehen.
Ein Aufschrei ging durch’s Publikum, und ich hatte keine Ahnung, was passiert war.
Noch einmal drehte ich mich zu Luka um, doch der war inzwischen vom Kampfgeschehen völlig mitgerissen wie alle anderen und schrie und gestikulierte wild. Ich hätte die paar Meter zu ihm überwinden und mich am besten an ihn festbinden müssen, aber von da hinten aus hätte ich gar nichts mehr gesehen. Also tat ich das Gegenteil und drängelte mich geduckt zwischen den Beinen und Körpern vor mir Richtung Ring durch. Mehrfach wurde ich grob betatscht, aber am Ende stand ich so weit vorne, dass ich wieder einigermaßen freie Sicht hatte.
Aufgeregt versuchten meine Augen den Stand der Dinge zu erfassen, doch als ich Sergio erblickte, hielt ich schockiert den Atem an. Sein Gesicht war blutüberströmt, das rechte Auge dick zugeschwollen. Es war nicht möglich zu sagen, woher genau das Blut stammte, das ihm auf Schultern und Brust getropft war. Rutschenko stand in einem Abstand von zwei Metern von ihm entfernt, und schien gerade in Stellung zu gehen. Sergio wischte sich mit dem Handrücken über die Augen und war dadurch nur eine Sekunde unachtsam, da machte Rutschenko einen Satz auf ihn zu, griff ihm um die Hüften und warf ihn durch die Luft. Sergio landete hart auf dem Rücken, kam aber mit einem unglaublichen Kip-Up schnell wieder auf die Beine, bevor sein gruseliger Gegner ihn erreicht hatte.
Jetzt bemerkte ich, dass auch Rutschenkos Gesicht blutverschmiert war. Über seiner rechten Augenbraue klaffte eine üble Platzwunde, aus der Blut sickerte. Seine seitlichen Haarsträhnen waren teilweise rot eingefärbt. Mit einem furchterregenden Gebrüll stürzte er auf Sergio zu, der aber in letzter Sekunde zur Seite auswich. Rutschenko blieb abrupt stehen und machte einen seitlichen Schlenker. Sergio riss das Knie hoch und traf ihn direkt unter dem Kinn. Rutschenkos Kopf flog nach hinten, für einen Moment torkelte er. Sergio holte jetzt zu einem rechten Körperhaken aus, doch der weißblonde Hüne senkte die Deckung und schnappte sich mit beiden Händen Sergios Schlagarm, als wolle er ihn auf seinem Knie in zwei Teile brechen. Da legte Sergio den Kopf in den Nacken und verpasste ihm mit voller Wucht einen Kopfstoß.
Ich bekam gerade noch mit, wie Rutschenko benommen rückwärts taumelte und Sergio mit schreckerfüllter Miene in meine Richtung sah, als mich von hinten eine Stoßwelle zu Boden riss. Ich landete zwischen dichtgedrängten, trampelnden Beinen und Füßen und legte reflexartig beide Arme schützend um meinen Kopf. Den Lärm der Menge und das tierähnliche Gebrüll Rutschenkos nahm ich nur noch wie ein fernes, dumpfes Donnern wahr. Schmerzhafte Tritte auf meine Waden und Stöße gegen meine Rippen jagten mir plötzlich Todesangst ein. Verzweifelt schlug ich mit der Hand um mich und versuchte vergeblich, wieder auf die Beine zu kommen, als mir zwei Arme unter die Achseln glitten und mich mit einem kräftigen Ruck auf die Beine zogen.
Luka schrie mir wütend ins Gesicht. „Verdammte Scheiße, Lexi, was zum Teufel machst du? Willst du zertrampelt werden?“ Er packte mich am Oberarm, zog mich zu sich und ließ nicht mehr los. Unfähig auch nur ein einziges Wort zu artikulieren, blickte ich ihn stumm und dankbar an.
Ein weiterer, gellender Aufschrei des Publikums ließ Luka und mich in größter Besorgnis wieder zum Ring blicken.
Sergio war in die Knie gegangen, wirkte benommen und desorientiert. Seine Unterlippe war aufgeplatzt und blutete. Rutschenko holte schon mit dem Fuß aus, rutschte aber mit dem Standbein auf dem blutverschmierten Boden aus und landete auf dem Kreuz. Ich krallte mich an Luka fest und schrie so laut ich konnte. „Sergio!“
Er blickte suchend um sich. Ich sprang auf der Stelle ein paar Mal auf und ab und winkte mit meinem freien Arm. Sergio sah mich endlich, drehte sich daraufhin zu Rutschenko und schmiss sich mit seinem ganzen Gewicht auf ihn. Er schaffte es, sich auf seinen Brustkorb zu setzen, und begann, ihn gnadenlos mit den Fäusten zu bearbeiten. Dann ließ er plötzlich von ihm ab, sprang seitlich weg und stand wieder auf den Beinen.
Rutschenko glaubte schon an eine Chance zu entkommen und versuchte sich aufzurichten. Vergeblich! Sergio erwischte ihn diesmal mit einem mörderischen Ellbogenschlag mitten ins Gesicht, dass ich vor Schreck erstarrte und mit den Händen meinen Mund bedeckte. Luka jedoch schrie und jubelte außer sich vor Aufregung.
Aus Rutschenkos Nase strömte das Blut, als hätte man einen Hahn aufgedreht. Er kippte zur Seite weg und blieb liegen.
‚Godzilla’, der selbsternannte Richter und Moderator dieses kranken Spektakels, brüllte den Countdown ins Mikro. „Zehn, Neun , Acht …“. Während Sergio auf den bewusstlosen Rutschenko starrte, hingen seine Arme schlaff herunter, sein Brustkorb hob und senkte sich auffällig stark. Er war so dermaßen blutverschmiert, als wäre er von einem Psychopathen mit einem Schlachtermesser attackiert worden. Wenn ich nicht gewusst hätte, dass er es war, hätte ich ihn nicht wiedererkannt.
„Große Scheiße, so hat der noch nie ausgesehen!“
Luka sprach mehr zu sich selbst als zu mir und schien jetzt erst das Ausmaß des Kampfes zu begreifen.
Rutschenko rührte sich immer noch nicht.
„… Drei, Zwei, Eins … Aus! Sieg durch K.O… Sergio „Killerpunch“ Lovic … Dreck, nochmal!“
Die Hölle hätte nicht lauter sein können.
„Lexi, komm mit!“, schrie mich Luka an und zerrte mich hinter sich her. Dabei wollte ich zum Ring, zu Sergio, doch wir bewegten uns genau in die entgegengesetzte Richtung.
„Luka, wohin? Was ist mit Sergio?“, rief ich verzweifelt, bekam aber keine Antwort. Er reagierte einfach auf keinen meiner Zurufe und boxte sich mit mir im Schlepptau weiter durch die Menge. Endlich hatte er mich aus dem ganzen Pulk herausgeholt und sicher in eine Ecke des Saals verfrachtet. Ich drückte mich gegen die kalte Wand hinter mir und nahm tief Luft. Meine Hände zitterten, ich war schweißgebadet und mein Puls galoppierte.
„Lexi, hör gut zu! Du bleibst jetzt hier und rührst dich nicht vom Fleck! Die Meute wird sich schnell auflösen, das ist immer so. Die machen alle, dass sie schnell wegkommen. Ich hol jetzt Sergio. Wir lassen uns das Preisgeld auszahlen und verschwinden hier, verflucht noch mal. Ich hoffe nur, dass … dass … Er sieht ganz schön beschissen aus. Der Scheißkampf hat zu lang gedauert, und dieser Mistkerl von Gegner war kein Mensch!“
Ich nickte. Tränen liefen mir die Wangen herab, aber ich war zu durcheinander, um sie wegzuwischen.
Luka hob den Zeigefinger. „Wie ich’s gesagt habe … nicht wegbewegen! Nicht einen verdammten Zentimeter! Du bleibst hier in der Ecke, bis wir dich abholen!“
Dann verschwand er,
Die Luft war inzwischen zum Schneiden dick und stank nach Blut und Schweiß. Ich zog die Kapuze wieder über den Kopf und bis tief in die Stirn, obwohl ich nassgeschwitzt war, schloss die Augen und umfasste mit beiden Armen meinen Oberkörper. Mein Atem ging viel zu schnell. Ich fühlte mich wie erschlagen und ausgelaugt. Nur mit purer Willenskraft hielt ich mich noch auf den Beinen. Der Lärm um mich herum schien langsam abzuebben. Brüllende und lachende Stimmen vermischten sich und zogen an mir vorbei, ohne dass ich es wagte, die Augen zu öffnen. Bilder vom Kampf blitzten in meinem Geist auf: Die Brutalität, mit der Sergio und sein Gegner aufeinander eingedroschen hatten, war im Nachhinein noch schwerer zu ertragen. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass sie keine ernsthaften Verletzungen hatten.
„Lexi, hey, alles okay? Geht’s dir gut? Lexi …“ Sergios tiefe Stimme drang leise und sanft zu mir durch wie in einem Traum. Ich wollte ihn nicht ansehen.
„Lexi, komm schon…“, drängte er diesmal. Zögerlich schlug ich meine Augenlider auf und sah Sergios Gestalt im Halbdunkel vor mir stehen. Die Scheinwerfer, die den Ring ausgeleuchtet hatten, waren ausgeschaltet. Nur noch wenige kleinere Deckenlampen spendeten etwas schummriges Licht.
Er griff mir fest an die Schultern. „Alles okay mit dir?“
Ich stockte, dann nickte ich erleichtert, „Mir geht’s gut!“, und hakte mich bei ihm ein.
„Luka wartet auf uns“, sagte er, als wir Richtung Ausgang losliefen. Ich warf einen letzten Blick über die Schulter. ‚Godzilla’ stand mit einigen Männern, die mehr oder weniger genauso aussahen wie er, in einer Traube und hatte offensichtlich noch wichtige, geschäftliche Dinge zu besprechen. Die ‚Gorilla’ Typen hatten sich mit vorgestreckter Brust hinter ihm aufgestellt und machten bedrohliche Mienen.
Der Weg nach draußen erschien mir doppelt so lang, doch endlich waren wir aus dem Gebäude raus.
„Los in den Wagen“, rief Luka, als er uns kommen sah.
Obwohl die Nachtluft immer noch schwül und drückend war, erschien sie mir im Vergleich zu der stickigen Luft aus der wir kamen geradezu erfrischend.
Wir stiegen in den Wagen.
Luka startete den Motor und ließ alle Fenster runter. Dann sah er in den Rückspiegel. „Oh, Mann“, meinte er nur und hob die Augenbrauen.
Ich sah zu Sergio, der den Kopf gesenkt hielt und schon eine Weile nichts mehr gesagt hatte. Als er meinen Blick bemerkte, drehte er den Kopf zur Seite und sah aus dem Fenster. Ich wusste genau, dass er einer näheren Inspizierung seines Gesichts ausweichen wollte
„Sergio, sieh mich mal an“, forderte ich ihn auf.
„Lieber nicht“, flüsterte er.
Ich rückte dicht an ihn heran und fasste ihm vorsichtig ans Kinn, um seinen Kopf zu mir herumzudrehen.
„Au … Lexi, lass das …“, schrie er. Sofort zog ich meine Hand wieder zurück. Er gab das sinnlose Versteckspiel von allein auf und sah mich seufzend an.
„Ich weiß, ich seh wahrscheinlich aus wie Frankenstein“, grinste er und schrie gleich darauf wieder los, weil jede Mimik offenbar sehr schmerzhaft war.
Ich fasste Luka an die Schulter. „Machst du mal Licht an, bitte?“ Er zögerte kurz, doch dann drückte er auf einen Knopf an der Decke und die Innenbeleuchtung ging an.
„Oh mein Gott, oh Gott, Sergio!“ Ich war schockiert bis ins Mark.
Er legte den Kopf schief. „Hey, Lexi, verletz nicht meine Gefühle …“, scherzte er, obwohl mir überhaupt nicht nach Scherzen war.
Sergio beugte sich ein wenig vor und blickte in den Rückspiegel. Luka sah ihn mit einem mitleidvollen Blick von der Seite an. „Alter, du siehst aus, als wärst du durch den Fleischwolf gedreht worden. Die Fresse ist furchterregend.“
Sergio lehnte sich in den Sitz zurück.
„Wenn ich so Zuhause auftauche, kriegt meine Mutter einen Herzinfarkt“, brummte er durch seine geschwollenen Lippen.
Luka schüttelte energisch den Kopf. „Ne, Mann, wenn du mich fragst, musst du in die Notaufnahme, du hast überall Blut dran, und ich hab gesehen, dass du dein linkes Bein nachziehst.“
„Und meine Rippen schmerzen wie die Hölle, aber ich geh ganz sicher nicht ins Krankenhaus, wo sie mich mit Fragen durchlöchern und ich stundenlang warten muss … und zuhause drehen alle durch, weil sie nicht wissen, wo ich bin, und weil sie von Anfang an gegen diesen Fight waren.
Wir schwiegen.
Es gab nur eine Lösung, die mir einfiel, auch wenn sie ihm nicht behagen würde. Ich holte tief Luft. „Sergio, du kommst mit zu mir“, sagte ich.
Er sah mich stumm an. Ich konnte nicht erkennen, was er davon hielt.
„Meine Mutter ist Krankenschwester, sie kann sich deine Verletzungen ansehen.“
„Es ist … ähm … kurz nach dreiundzwanzig Uhr“, warf Luka ein.
„Meine Mom kommt meist um Mitternacht herum von der Nachtschicht“, sagte ich.
„Ich kann doch in diesem Zustand deiner Mutter nicht entgegen treten, Lexi!“ Sergio versuchte so was wie ein Kopfschütteln.
„Sie ist jemand, der dir helfen kann, Sergio, denn das brauchst du jetzt! Entweder wir fahren dich ins Krankenhaus oder zu mir.“
Wieder schwiegen wir.
Jeder schien zu grübeln,
„Okay, gut“, sagte Sergio schließlich. „Luka fahr los, aber du kommst nicht mit hoch, sonst ruft Lexis Mutter auf der Stelle die Polizei.“
Plötzlich prusteten wir los. Sergio lachte und schrie dabei abwechselnd „Autsch“. Der ganze Irrsinn hatte uns allen übel an den Nerven gezehrt.
„Warte! Bevor du losfährst …“, sagte er und griff in seine Hosentasche. Er holte einen Bündel Geldscheine heraus und wedelte damit in der Luft herum.“ Ich starrte die Fünfhunderteuroscheine an und kam mir vor wie in einem Gangsterfilm.
Luka jaulte wie ein Wolf. „Verdammte Scheiße, Sergio, du hast dir den Zaster diesmal ehrlich verdient!“
Sergio zählte ein paar Scheine ab und reichte sie Luka. Den Rest steckte er wieder ein.
„Fahr los, Mann“, sagte er und versuchte mich dabei wenigstens ein klein wenig anzulächeln.
Ich öffnete den Reißverschluss der Seitentasche meiner Shorts und holte mein Handy hervor. Ich musste meine Mutter auf die Situation mit Sergio vorbereiten. Natürlich hatte ich Bammel vor ihrer Reaktion, aber Sergios Zustand machte mir noch viel mehr Angst. Ich hatte mal gelesen, dass Adrenalin imstande war, Schmerz und Angst extrem zu dämpfen, und Sergio war mit Sicherheit vollgepumpt mit Adrenalin.
„Wo bist du?“, schrie meine Mutter ohne Umschweife ins Handy.
„Mama, bitte hör zu und unterbrich mich nicht“, bat ich sie. „Ich komme jetzt mit Sergio Lovic nach Hause. Er hat Verletzungen, und du musst dir das mal ansehen, bitte!“
„Lexi, wie bitte? Ich mache gerade Feierabend …“, rief sie empört. „Was um Himmels Willen ist denn passiert?“
„Kann ich dir am Telefon nicht sagen, du musst mir einfach vertrauen, bitte, wir brauchen deine Hilfe, Mama.“
„Warum geht er nicht ins Krankenhaus?“
Es war zum Verzweifeln, wie sie diskutierte, aber ich musste ruhig bleiben. „Weil das nicht geht! Bitte, Mama, vertrau mir doch einfach.“
„Vertrauen, hm? Also gut, dann treffen wir uns zuhause. Ich mach mich jetzt auf den Weg, aber ich sag dir gleich, mir gefällt das alles gar nicht! Mir gefällt das absolut nicht, Alexa!“
„Danke, Mama, ich liebe dich.“ Ich legte schnell auf. Sergio nahm meine Hand und drückte sie. Seine Haut war heiß und feucht. Er war von Kopf bis Fuß ziemlich ramponiert, doch er hatte mit Sicherheit auch ganz schön viel Glück gehabt.
„Ich hatte solche Angst!“, gestand ich leise.
„Es tut mir so Leid, Lexi“, antwortete er bestürzt. „Ich hab dich in Gefahr gebracht. Ich bin so ein Idiot.“
„Sergio …“, entgegnete ich stockend. „Ich dachte … dieser Rutschenko … ich dachte, er bringt dich um!“
Meine Mutter gab sich große Mühe, nicht auszuflippen. Ich sah es in ihren Augen, die die ganze Zeit über starr waren und kaum blinzelten. Sie blieb höflich, während sie uns hereinbat und in ihre Krankenschwester-Rolle schlüpfte, aber die Skepsis Sergio gegenüber war ihr deutlich anzusehen.
„Erstmal wäscht du dir das ganze Blut vom Körper, und dann seh ich mal nach, was von dir noch heil geblieben ist“, sagte sie bestimmend und reichte Sergio ein Handtuch. Klar, sie hatte in der Notaufnahme schon viel Schlimmeres gesehen.
Nachdem Sergio geduscht und mit freiem Oberkörper aus dem Badezimmer trat, sah man zwar, dass sein Gesicht und der Körper grün und blau geprügelt waren, aber glücklicherweise schien er keine offenen Wunden zu haben. Die Schwellung auf seinem rechten Auge allerdings sah sehr übel aus. Er konnte aus dem dünnen Schlitz, der ihm geblieben war, kaum noch etwas sehen.
Meine Mutter bat ihn im Wohnzimmer auf dem Sofa Platz zu nehmen und begann ihre Untersuchung. Sie tastete ihn vorsichtig ab, leuchtete ihm mit einer kleinen Taschenlampe in die Augen, und ließ ihn einige Bewegungen ausführen, um zu sehen, ob er Knochenbrüche hatte und die Reflexe noch funktionierten.
„Ich tippe auf keine inneren Verletzungen, aber das kann man nie so genau sagen. Auf jeden Fall sind die Rippen noch ganz, aber sie sind stark geprellt. Hast du Tritte abbekommen? Na ja, jedenfalls tun Rippenprellungen mehr weh als ein Bruch!“ Sie sah ihn streng an. „Du hast jede Menge Hämatome und Quetschungen, aber du hast keine Platzwunde, die genäht werden müsste … Zeig her …“ Dann nahm sie seine Hände und begutachtete die Knöchel. Sergio folgte schweigsam und eingeschüchtert ihren Anweisungen. „Diese kleinen Hautrisse sind nicht schlimm, die heilen von alleine!“
Ich saß beiden gegenüber im Sessel und war auf einmal unsagbar stolz auf meine Mutter. Sie zeigte Mut und Vertrauen, weil ich sie darum gebeten hatte.
„So, das Wichtigste ist jetzt, dass wir dich kühlen. Manche Stellen werde ich mit einer entzündungshemmenden Salbe einschmieren und bandagieren, damit die Muskulatur sich schneller regenerieren kann. Du kriegst noch eine Schmerztablette. Und wie gesagt kühlen … Dein T-Shirt lass vorerst mal weg. Wir sind gleich wieder da.“ Sie sah mich an. „Lexi, komm mit in die Küche …“ Ihr Blick verriet mir, dass es jetzt ein paar Fragen zu klären geben würde.
„Danke!“, rief uns Sergio hinterher.
„Alexa, wer ist dieser Junge? Ich begreife nicht, was mit dir los ist!“
Wir flüsterten.
„Du weißt, wer er ist! Er ist Adrianas Bruder.“
„Das mein ich nicht!“, zischte sie so leise wie es gerade noch ging. „Lexi, tut mir Leid, aber du überforderst mich! Mag sein, dass er Adrianas Bruder ist, aber er sieht aus, als würde er gerne in Schwierigkeiten geraten, falls du verstehst, was ich meine. Soll ich mir jetzt dauernd Sorgen um dich machen?“
„Das brauchst du nicht“, versuchte ich sie zu beruhigen. „Du musst ihn nur mal besser kennen lernen, dann siehst du, dass er ganz anders ist, als du denkst.“
Sie schüttelte verzweifelt den Kopf und seufzte. „Alexa! Woher zum Teufel noch mal hat er diese Verletzungen?“
„Äh … wir sind von einer Gruppe …“ Ich stockte. Mir wurde bewusst, dass ich dabei war, eine Lüge zu erfinden! Noch nie hatte ich meine Mutter anlügen müssen. Es widerstrebte mir so sehr, dass ich nicht weiter sprechen konnte.
„Ja, und? Was war los?“, wollte sie wissen.
„Die Wahrheit ist …“, begann ich und kam wieder nicht voran. Ich konnte ja auch die Wahrheit nicht preisgeben.
„Okay, Lexi, was ist denn die Wahrheit, hm?“ Jetzt verschränkte sie die Arme vor der Brust und sah mich ungeduldig an.
„Die Wahrheit ist … ähm … dass ich dir die Wahrheit nicht sagen kann, Mama.“
Sie starrte mich mit offenem Mund an. Zwischen ihren Augenbrauen hatte sich eine tiefe Falte gebildet. Ein angespannter Moment des Schweigens entstand. Dann wandte sie sich seufzend ab, nahm aus dem Kühlschrank mehrere Kühlpads heraus und gab sie mir. „Hier, da müssen noch Küchentücher drumrum gewickelt werden, nimm die ganze Rolle mit.“
Sie öffnete das Tiefkühlfach und holte zwei große Tüten mit Erbsen hervor.
Ich lief wieder ins Wohnzimmer zu Sergio.
Er hatte den Kopf in den Nacken gelegt und die Beine von sich gestreckt. Er sah erschöpft und völlig entkräftet aus. Meine Mutter kam mit den Erbsentüten und ihrem Medizin-Köfferchen, in dem Tabletten, Salben, Desinfektionsmittel, Mullbinden, Pflaster und ein Haufen anderes Notfallzeugs für alle möglichen Unfälle waren.
Sergio richtete sich vorsichtig wieder auf. Seine Bewegungen waren langsam und schmerzten. Er bekam eine weiße Tablette in die Hand gedrückt. „Nimm die! Lexi, hol ihm schnell eine kleine Flasche Wasser.“
„Sie sind sehr freundlich“, sagte er zu meiner Mutter, die nun ein klein wenig lächelte. „Schon gut“, hörte ich sie antworten. „Ich tue nur meiner Tochter einen Gefallen.“
Nachdem meine Mutter Sergios Verletzungen versorgt hatte, zitierte sie mich wieder in die Küche.
„Ich nehme an, er bleibt über Nacht“, murrte sie, und ich sah sie hoffnungsvoll an. Sie kniff die Augen zusammen. „Er kann auf der Couch schlafen! Was anderes kommt nicht in Frage!“
Damit musste ich mich zufrieden geben, auch wenn ich Sergio lieber mein Bett überlassen hätte. Meine Mutter war uns schon ausreichend entgegen gekommen.
Nachdem sie schlafen gegangen war, rief Sergio bei sich zuhause an. Er erzählte Jelena, dass alles gut gelaufen sei und er bei mir übernachten werde.
„Sie wollte, dass ich gleich nach Hause komme“, flüsterte er mir zu. Wir saßen noch ein Weilchen brav nebeneinander, da küssen kaum möglich war, ohne dass Sergio aufschrie oder seine Kühlpads und Erbsentüten abfielen.
„Sorry, dass du auf der Couch schlafen musst.“ Ich lehnte den Kopf ein wenig gegen seine Schulter.
„Ich hab jetzt wirklich nicht erwartet, dass ich in dein Bett darf, Lexi, und schon gar nicht mit dir zusammen!“, hauchte er in mein Haar. „Deine Mutter ist trotzdem klasse!“
„Mhm, ist sie. Sie weiß es nur nicht.“
Ich platzierte einen ultravorsichtigen Kuss auf seine Wange. „Ich hoffe, du kannst einigermaßen gut schlafen“, sagte ich und erhob mich von der Couch, damit er sich hinlegen konnte. Es war immer noch so warm, dass er keine Decke benötigte, aber meine Mutter hatte ihm zur Sicherheit eine hingelegt.
„Schlaf du auch gut“, flüsterte er. „Und Lexi …!“
Ich drehte mich gespannt um.
„Ich seh elendig aus, ich weiß, aber ich … ich bin … also …“ Er sah mich hilflos an.
„Glücklich?“, half ich ihm nach.
Er nickte.
„Ich auch, Sergio!“
Dann ging ich in mein Zimmer.