Pizza und …

 

Sergio meinte, er wolle mir eine ganz tolle Pizzeria in Schöneberg zeigen. Meinen Einwand, dass das doch zu weit weg sei, ließ er nicht gelten. „Wir nehmen ein Taxi“, sagte er bestimmend.

„Ein Taxi? Warum fahren wir nicht mit dem Bus oder mit der U-Bahn“, fragte ich verdutzt.

„Weil wir dann verhungern würden, bis wir angekommen sind“, antwortete er.

„Soviel Geld hab ich aber nicht bei mir, Sergio“, flüsterte ich etwas verlegen.

Er sah mich überrascht an. „Schon gut, Lexi. Ich lad dich natürlich ein.“

Ohne weitere Worte pfiff er nach einem Taxi, das grad vorbeifuhr und gab dem Fahrer winkend ein Zeichen. Das Taxi machte einen U-Turn und kam zurück. Es hielt genau vor uns, und wir sprangen schnell hinein.

Auf der Fahrt fragte er mich unermüdlich, was seine Schwester und ich den lieben langen Tag angestellt hätten, und ich plapperte bereitwillig über Adrianas Pläne für ihr Zimmer, den anstrengenden, aber auch lustigen Möbelkauf quer durch die Stadt, die superschönen Fototapeten, und wie skeptisch die Verkäufer immer geschaut hatten, jedes Mal wenn Adriana mit Bargeld - und zwar mit Fünfhundert Euro Scheinen - bezahlt hatte.

Sergio zog einen Mundwinkel zu einem angedeuteten Grinsen hoch. „So zahlen die mich aus“, sagte er leise zu mir geneigt, damit der Fahrer nicht alles mitbekam. „… immer in großen Scheinen ...“

Wir hielten vor einem Restaurant, dessen Name in großen gelben Lettern an der Fassade prangte: ‚AD HOC’. Das klang zuerst einmal so gar nicht nach Pizzeria, aber ein Blick durch die großen Fenster in das Innere ließ auf nichts anderes schließen.

Sergio bezahlte den Taxifahrer und wir stiegen aus.

„Der Laden gehört einem Kerl, den ich vor einiger Zeit kennengelernt habe. Er hängt mir schon seit Wochen in den Ohren, ich solle doch mal mit meiner Freundin vorbeikommen, aber - wie du ja weißt - habe ich keine … Tja, komme ich jetzt eben mit einer ‚guten Freundin’, und ich denke, das geht auch in Ordnung.“

Ich lächelte verlegen. Er hielt mir die Tür auf, und ich trat mit der Zurückhaltung ein, die mich immer überkommt, wenn ich ein fremdes Lokal betrete. Doch Sergio dicht hinter mir zu wissen, half mir, mich selbstbewusster zu geben. Ein Kellner begrüßte uns und zeigte uns einen Bereich, wo es noch einige leere Tische zur Auswahl gab. Wir setzten uns an den hintersten Ecktisch, der für zwei Personen gedeckt war. In der Mitte des Tisches stand eine Kerze, den einer der aufmerksamen Kellner sogleich anzündete. Er drückte uns auch die Menükarte in die Hand und fragte mit italienischem Akzent, ob wir schon Getränke bestellen wollten.

Sergio nickte und sah mich an. „Was trinkst du?“

„Einen Apfelsaft“, sagte ich.

„Und einen Ginger Ale für mich“, fügte Sergio mit Blick zum Kellner hinzu. Gerade als der Mann sich umdrehen und gehen wollte, fragte er ihn, ob ein gewisser ‚Charly' hier sei. Seine Frage wurde unmissverständlich mit einem „Si“ und einem Kopfnicken bejaht. Sergio schmunzelte zufrieden. „Sagen Sie ihm, Sergio ist hier ...“

Der junge Kellner nickte erneut und verschwand in die Küche.

Ich musste einfach grinsen. „Das klang ja wie im Film“, lachte ich und imitierte Sergios tiefe Stimme. „Sagen Sie ihm … Sergio … ist hier …“

Er verstand sofort, wie ich es meinte und lachte übers ganze Gesicht. „Hab’ ich auch gemerkt, aber wie hätte ich es denn sonst sagen sollen?“

„Ist dieser Charly der Besitzer des Ladens?“

„Exakt … Der Typ ist okay. Er … hat richtig viel Kohle auf mich gewettet und gewonnen, musst du wissen … tja.“

„Oh, okay. Du kennst ihn also von diesen … diesen Kämpfen, von denen du erzählt hast?“, fragte ich stirnrunzelnd.

Sergio nickte verhalten. Er sah mich jetzt so eindringlich an, dass ich wieder dieses Kribbeln am ganzen Körper spürte.

„Oh Mann, ich frag’ mich, wie du es nur geschafft hast, dass ich dir davon erzählt habe?“, wunderte er sich über sich selbst, auf seinem Gesicht jedoch lag ein warmes Lächeln.

„Kann ich dir nicht sagen, aber ich fühle mich geehrt“, entgegnete ich, während ich bereits die Menükarte studierte. Sergio schlug nun ebenfalls seine Karte auf, wobei er immer noch kopfschüttelnd über sich selbst wunderte.

Unser Kellner kam mit den Getränken, nahm unsere Bestellung auf und huschte eilig davon.

Kurz nach ihm stolzierte ein etwas untersetzter Typ mit Glatze und einem glänzenden roten Hemd an unseren Tisch und begrüßte Sergio mit viel Dramatik und Herzlichkeit. „Sergio Lovic! Diabolo … endlich kommst du mal in mein Restaurant, mein Freund! Wie geht es dir, hm?“

Sergio war aufgestanden und hatte sich lachend drücken lassen. „Gut, sehr gut, Charly, und dir?“

„Mir geht’s blendend. Aber sag …“, er beugte sich mit einem breiten Lächeln zu mir herunter und hielt mir seine Pranke entgegen. „Bella Donna, ist das deine Freundin, Sergio?“ Er deutete einen Handkuss an und ließ meine Hand wieder frei.

„Sei mir nicht böse, Kumpel“, sagte er mit hochgezogenen Augenbrauen und vorgestrecktem Wanst, „… aber was will ein so nettes und anständiges Mädchen mit einem Kerl wie dir?“

Sergio grinste zwar, aber er schien nicht so recht zu wissen, was er darauf erwidern sollte.

„Keine Sorge“, versicherte ich ihm, „… ich bin nicht halb so ‚nett’ wie ich aussehe, vor allem, wenn ich lang auf mein Essen warten muss …“

Charly lachte laut los. „Toll! Hahaha … Ihr passt vielleicht doch gut zusammen … Dann lasst es euch schmecken … und alles geht selbstverständlich aufs Haus, also haut rein Kinder …“

„Wow, danke, Charly, ist sehr nett …“ Sergio klopfte ihm auf die Schulter und setzte sich wieder.

„Für dich doch immer, Sergio“, antwortete sein italienischer Bekannter gerührt. „Ab jetzt kommst du mal öfter … Und die junge Dame hoffentlich auch!“

Er nahm erneut meine Hand und deutete einen Handkuss an. Irgendwie war ich froh, dass seine wulstigen Lippen meine Haut nicht wirklich berührten.

Charly ging zurück zu seinen Geschäften, und wir sahen ihn an diesem Abend nicht wieder.

 

Unsere Pizzen waren im Steinofen gebacken, lecker belegt und so groß wie Wagenräder.

„Das schaffe ich nie im Leben“, sagte ich mit verzweifeltem Vergnügen. Ich sah ungläubig auf den riesigen Teller vor mir.

Sergio lachte. „Fang erst mal an irgendeiner Stelle an und arbeite dich dann von außen nach innen …“

Nach einer Weile holte er wie von einem Geistesblitz erfasst sein Handy hervor und hielt es sich ans Ohr. „Ich check mal die Lage zuhause“, sagte er und runzelte angespannt die Stirn.

Jetzt fiel mir ein, dass ich meiner Mutter eine SMS schicken wollte. Ich tippte schnell, dass ich bald heimkommen würde und schon gespannt sei, zu hören, wie ihr zweites Date verlaufen war.

Sergio blickte aufmerksam auf, als er jemanden in der Leitung hatte. „Ja, ich bin’s … Warum nimmst du Yvo mit zu Sanja? … Na, Glück für dich … Wie geht’s ihm? … Und er hat nicht gefragt? … Dachte ich mir … Ja, bin bald da … Sag, ich bau morgen am ‚Starfighter’ mit ihm … solange wie er will… Nein, ich bring Lexi noch nach Hause … Tschau …“

Ich beobachtete ihn verstohlen, während ich wacker an meiner Pizza weiterarbeite. Er packte sein Handy wieder weg und steckte sich eine Peperoni in den Mund.

Ich sah ihm in die Augen. „Alles okay?“

Er nickte. „Grad noch gut gegangen, würd ich sagen.“

Es war offensichtlich, dass er sich große Sorgen gemacht hatte.

„Wie kommt es, dass Yvo so eine starke Bindung zu dir hat?“, fragte ich.

Er legte sein Besteck weg und nahm einen Schluck von seinem Getränk. Nachdenklich betrachtete er das Glas in seiner Hand. „Ich weiß es auch nicht so recht … hat sich so ergeben … Nachdem mein Alter sich so übel daneben benommen hatte, wollte ich Yvo nur noch beschützen … vor ihm, vor der Welt … vor Menschen, die ihn als Freak betrachten. Ich wusste, dass er sehr schlau war. Meine Mutter wusste das auch. Aber man kam nicht an ihn ran. Er nahm keinen richtigen Kontakt auf, was ziemlich frustrierend für uns alle war. Dafür malte er wie verrückt. Die Bilder waren seine Antworten, seine Fragen … wie auch immer … aber vor allem waren sie der Kontakt zu uns: Gebäude, Landschaften, Tiere, Menschen … und ganz besonders Flugzeuge und Raumschiffe … Er malte sie … ähm … gepixelt sozusagen … Sie sahen aus wie aus Lego zusammengesetzt … Da kam mir die Idee, ihn mit Lego Bausteinen zu versorgen und ihm dabei zuzusehen … stundenlang … täglich … über Jahre. Irgendwann hatte ich den Kleinen soweit, dass ich mit ihm reden, ihn berühren und ihn auf die Schultern nehmen konnte …“ Er holte tief Luft.

Ich nickte bewegt.

Sergio lehnte sich vor. „Lexi, jetzt bist du mal an der Reihe, was aus deinem Leben preiszugeben … Wie wär’s? Ist nur fair!“

Ich runzelte die Stirn. „Ich dachte, bei mir sei es hoch her gegangen, aber mit euch kann ich nicht mithalten …“, sagte ich ergriffen.

Sergio lächelte schief. „Ich weiß, ist nicht leicht, den Lovic’ Mist zu toppen, aber darum geht’s nicht. Ich würd dich einfach gern ein bisschen besser kennenlernen.“

Ich sah ihn skeptisch an. „Warum verbringst du eigentlich deine Zeit mit mir?“, fragte ich ihn ohne Umschweife frei heraus.

Er kräuselte überrascht die Stirn. „Weil ich dich als eine Freundin der Familie betrachte …?“

Ich schwieg.

„Und weil du … du bist so … so erfrischend anders als … ähm …“

„Als die Mädchen, die in der Mensa auf deinem Schoß sitzen?“, ergänzte ich ihn ungehemmt.

Er kniff die Augen zusammen. „Die bedeuten mir nichts …“, behauptete er. „Und ja, du bist … nicht so affektiert und so aufgedonnert … Du trägst krumm und schief abgeschnittene Shorts und diese …. diese schrecklichen Flippoflopps … und vor allem … du findest mich wahrscheinlich insgeheim zum Kotzen, bist aber zu nett, um es zuzugeben, weil dir die Freundschaft mit Janna wichtig ist …“

Ungläubig starrte ich ihn an. Er wartete gespannt auf meine Reaktion, was unschwer an seinen funkelnden Augen zu erkennen war. Aber ich war so verblüfft über seine Äußerungen, dass ich sofort den Wunsch verspürte, seine verquere Sicht auf die Dinge ein bisschen gerade zu rücken.

„Ich geb ja zu … dass ich dich vielleicht … am Anfang … für einen eingebildeten, aufgepumpten Machogockel hielt“, ich schielte zu ihm rüber, „… aber … jetzt nicht mehr … Dank deiner Hilfe kann ich Wahrscheinlichkeiten ausrechnen, werde unerwartet zum Essen ausgeführt und war auch noch Topthema in der Schule … Ich, Alexa Lessing, die Unscheinbare … Ach ja, dann noch die Strandparty ... Ich weiß, dass du aufgepasst hast wie ein Rudel Schießhunde, damit Mark kein Revier markieren kann …!“

Er prustete plötzlich laut los. „… damit Mark kein Revier markieren kann …?!“

„Mhm!“

„Shit, Lexi, ich hätt’s nicht halb so gut ausdrücken können wie du … Da siehst du, was ich meine …“ Er streckte mir die flache High Five Hand entgegen und ich klatschte sie lachend ab.

„Okay, heißt das, du findest mich doch heiß, intelligent und sensibel genug, um mich gut zu finden?“

„Das sind deine Worte …“

„Was denn nun?“

„Was willst du hören, Sergio?“

„Ich will wissen, ob ich … keine Ahnung … egal ...“ Er zog wieder sein Handy hervor und sah aufs Display. „Wollen wir los?“

Ich nickte.

„Ich bring dich nach Hause … wenn ich darf?“

„Hab nichts dagegen“, lächelte ich. Eine Untertreibung, von der er nichts wusste.

„Damit du siehst, dass ich zwar wie ein Krimineller aussehe, aber in Wirklichkeit der Gentleman deiner Träume bin.“

Ich ließ einen theatralischen Seufzer erklingen und verdrehte schmunzelnd die Augen.

„Lass uns gehen, Sergio, meine Mom wartet sicher schon …“, sagte ich und versuchte, möglichst wenig aufgeregt zu klingen.

Ich fand ihn gerade so unglaublich anziehend mit seinem ganzen Bad Boy Look, dass ich schon völlig durcheinander war. Und so wie er redete, wusste er scheinbar auch nicht so recht, was er wollte …

 

Als unser Taxi vor meinem Haus hielt, stieg Sergio noch mit aus, um mich zu verabschieden. Er umarmte mich fest, drückte mich an seine harte Brust, und ich verschwand samt Rucksack beinah komplett in seiner muskulösen Umarmung. Mein Herz klopfte wie verrückt, als er mir auf jede Wange einen Kuss gab und mir „Gute Nacht“ wünschte.

„Danke für alles“, sagte ich leise und sah hoffnungsvoll zu ihm hoch. Er ließ den Blick über mein Gesicht wandern bis zu meinem Mund, dort verharrte er einige Sekunden, dann riss er ihn wieder los, lächelte schief und sagte: „Nichts zu danken, Lexi. Wir sehen uns!“

Viel zu schnell entließen mich seine Arme, und ich stand zitternd da und sah ihm nach.

Er stieg ins Taxi und winkte noch kurz, als es losfuhr.

 

Meine Mutter war von ihrem Date noch nicht zurück. Sollte ich mich freuen oder mir Sorgen machen? Ich entschied mich, sie anzurufen.

„Hey, ich bin’s, bin zuhause. Was ist mit dir, Mama? Alles okay?“

Sie war aufgrund der Geräuschkulisse, die sie umgab, schwer zu verstehen. Musik dröhnte im Hintergrund, und sie musste gegen lautes Stimmengewirr ankommen.

„Ja, ja, alles schön …“, brüllte sie ins Handy. „Derek und ich sind noch auf ein Bierchen in ein Lokal eingekehrt. Er fährt mich gleich nach Hause:“

„Wegen mir musst du nicht heim eilen, Mama“, sagte ich.

„Wie … hab dich grad nicht verstanden?“

„Ich sagte, du musst jetzt wegen mir nicht nach Hause EILEN!“, wiederholte ich mich, diesmal lauter.

„Weiß ich doch, aber ich freu mich, wenn wir noch ein Küchenpläuschchen halten könnten“, antwortete sie so laut, dass ich das Telefon von meinem Ohr weg halten musste, damit mein Trommelfell keinen Schaden nahm.

„Okay, wie du willst. Bis nachher dann!“

„Was?“

„Bis nachher, Mama“, rief ich in den Hörer.

„Ja, bis dann, Süße!“

Ich legte auf und ging in mein Zimmer.

 

Das Gefühl in meinem Bauch … das aufgeregte Kribbeln und Flattern und Zusammenziehen wurde nicht besser, sondern ganz im Gegenteil immer schlimmer. Dauernd musste ich an Sergio denken: Was er gesagt und getan hatte, wie er ausgesehen hatte, als er saß, stand, ging, sprach, aß, trank, schwieg, lächelte … als er lächelte! Dieses schiefe spitzbübische Lächeln, in dem etwas gefährlich Verlockendes lauerte.

Oh, nein … nein … nein … Ich war doch nicht etwa schon verliebt? Oder doch? Fühlte sich Verliebtsein so an? Wenn ja, dann war ich es bisher noch nicht gewesen! Ich konnte die Gedanken an ihn gar nicht mehr abstellen. Es ging einfach nicht.

Ich glaube, mich hat’s erwischt … dachte ich plötzlich. Ich presste die Hände auf meinen Mund, der unkontrolliert von einem Ohr zum anderen grinste und schmiss mich auf mein Bett.

Ich bin es … Ich bin verliebt … gestand ich mir fassungslos ein … verrückt verliebt in Sergio Lovic!