Schon wieder umziehen …
Meine Mutter strahlte verdächtig über das ganze Gesicht, während sie mir in unserer kleinen Küche gegenüber saß und ihre Kaffeetasse mit beiden Händen fest umklammert hielt. Sie hatte heute ihren freien Tag und hätte eigentlich unterwegs sein müssen, um Einkäufe oder andere wichtige Dinge zu erledigen, zu denen sie sonst nicht kam. Als Krankenschwester arbeitete sie im Schichtdienst und war nach Dienstschluss für gewöhnlich zu groggy, um noch einen Finger zu rühren.
Ihre hellblauen Augen funkelten rätselhaft. Sie sah richtig glücklich aus. Es war schon eine Weile her, dass ich sie mit solch guter Laune angetroffen hatte.
Ihr ungewöhnliches Verhalten machte mich ganz zappelig. Ich war gerade aus der Schule zurück, hatte einen knurrenden Magen und zerbrach mir zudem noch den Kopf darüber, wie ich die Fünf in der Mathearbeit erklären sollte. Leider hatte ich die Arbeit total in den Sand gesetzt, was meiner Versetzung in die zehnte Klasse zwar nichts anhaben konnte, aber nun war meine schöne Zwei auf dem Zeugnis gefährdet.
„Jetzt mach es nicht so spannend, Mama“, sagte ich ungeduldig und blies demonstrativ die Backen auf. „Was ist denn los? Haben wir im Lotto gewonnen, oder warum kannst du dein Grinsen nicht abstellen?“
„Möchtest du einen Saft, Lexi?“, fragte sie in aller Ruhe.
Ich grummelte leicht genervt. „Nein, ich hab eigentlich ziemlichen Hunger, also, sag doch endlich, was los ist!“
Sie nahm einen tiefen Atemzug, strich mit einer Hand über ihren kurzen, blonden Pagenkopf, klemmte eine Haarsträhne hinters Ohr und sah mir eindringlich in die Augen. „Also, Süße, es ist so …“, begann sie ganz vorsichtig, „… ähm, vor ein paar Wochen hab ich einfach mal ein paar Bewerbungen rausgeschickt … und … also, prompt kamen zwei Einladungen zum Vorstellungsgespräch, und eine … stell dir vor … war aus Berlin …“
Ich starrte meine Mutter mit offenem Mund an und hatte sofort ein alarmierend mulmiges Gefühl. Wollte sie etwa über einen Umzug sprechen? Nein, bitte, das durfte nicht sein, nicht schon wieder. Wir wohnten erst seit knapp über einem Jahr Bählming, einer Kleinstadt in Süddeutschland, und ich hatte mich endlich, nach anfänglichen Schwierigkeiten, gut eingelebt und Freunde gefunden. Ich mochte die meisten meiner Lehrer, unsere Schule und sogar den Sportunterricht.
„An dem Freitag vor drei Wochen, als du bei deiner Freundin Melanie übernachtet hast, erinnerst du dich? Da bin ich doch nach Berlin gefahren … und tja, also, wie soll ich es sagen. Ich hab die Stelle! Ich kann im August anfangen. Wir ziehen in die Großstadt, Lexi, stell dir mal vor!“
Ich verzog absolut keine Miene und musste erstmal schlucken. „Und warum erzählst du mir jetzt erst davon?“
Sie machte ein schuldvolles Gesicht. „Ich wollte nicht die Pferde scheu machen, bevor ich Gewissheit hatte. Ich dachte, ich warte besser, bis die Sache sicher ist.“
Unfassbar! Es würde nun der vierte Umzug sein, seit meine Eltern sich getrennt hatten, als ich zehn Jahre alt war.
„Warum, Mama? Ich dachte, dir gefällt der Job hier. Wir haben eine schöne Wohnung und genug Geld, und ich fühle mich endlich wohl. Warum müssen wir schon wieder wegziehen? Ich möchte nicht woanders hin“, protestierte ich. „Ist dir mal in den Sinn gekommen, dass auch ich ständig neu anfangen muss, nur weil du es nirgendwo aushältst?“
Meine Augen begannen zu brennen und eine Mischung aus Ärger und Enttäuschung packte mich du schnürte mir die Kehle zu. Verstimmt sah ich aus dem Küchenfenster. Draußen schien die Sonne, ein herrlicher Sommertag. Ich hatte mich am Nachmittag mit meiner Freundin Melanie zum Eisessen verabredet, doch jetzt erschien mir alles düster und ungerecht.
„Ach, Lexi“, versuchte meine Mutter mich zu beruhigen und legte ihre Hand auf meine. „Sieh mal, wir werden in Berlin leben, das ist so aufregend! Dort wirst du sicher ganz viele Freunde finden und jede Menge spannender Dinge unternehmen können, die hier gar nicht möglich sind. Sieh das doch mal von der positiven Seite!“
Ich wischte eine Träne weg, die mir spontan entwischt war und riss mich zusammen. Längst war mir klar, dass das Bedürfnis meiner Mutter, nach ein, zwei Jahren an einen anderen Ort zu ziehen, irgendwie merkwürdig war, aber hatte sie einmal den Entschluss gefasst und auch einen Job klar gemacht, schien sie der glücklichste Mensch auf Erden zu sein. Ihr Glücksgefühl hielt dann meist eine ganze Weile an … bis … na ja, bis sie immer lustloser und deprimierter wurde und die Rastlosigkeit erneut zuschlug.
„Berlin also, hm!?“
Sie nickte.
Ich hatte so einige Storys über die Hauptstadt gehört, gute und schlechte. Vielleicht würden wir ja wenigstens dort mal hängen bleiben …
„Ja, Lexi … Berlin!… Da leben so viele Menschen, da ist immer was los. Wir beide werden endlich Großstädter! Das ist doch was!“
„Und was ist mit der hohen Kriminalitätsrate, der Hundescheiße und dem tosenden Straßenverkehr?“, fragte ich provokativ, aber bereits mit einem versöhnlichen Lächeln um die Mundwinkel.
„Lexi! Du musst deinen Fokus auf die richtigen Dinge legen, Schätzchen: Shopping Malls ohne Ende … gut, das ist vielleicht mehr mein Ding … aber Multiplex Kinos, Parkanlagen, ganz tolle Seen im Umland, Multikulti überall, Musik und Tanzclubs, Restaurants, Theater, Museen …Wolltest du nicht mal in ein Musical? All diese Dinge werden wir in Berlin zu Genüge haben. Es wird großartig.“
Ich war mir da nicht so sicher, aber es freute mich, meine Mutter wieder heiter zu erleben. „Von mir aus, Mama, wenn es das ist, was dich glücklich macht“, seufzte ich schließlich. Meine Mutter klatschte begeistert in die Hände, stand auf und gab mir zwei dicke Schmatzer auf die Wangen.
„Super! Und jetzt mach ich uns beiden Hübschen mal was zu futtern, hm!“
„Mama?“ Ich war gespannt, was sie mir auf meine Frage antworten würde. „Hast du dich schon wegen Wohnungen erkundigt? Wo werden wir denn wohnen?“
Sie blickte über die Schulter zu mir und machte große Augen. „Wenn wir Glück haben, dann haben wir bereits eine Wohnung!“ Sie biss auf ihre Unterlippe. „Es ist eine günstige Drei-Zimmer-Wohnung in Kreuzberg. Meine Arbeitsstelle ist in einem Krankenhaus in Neukölln. Ich werde also keinen weiten Weg haben, vorausgesetzt natürlich, es klappt mit dieser Wohnung, ansonsten müssen wir weitersuchen. Drücken wir uns einfach die Daumen!“ Sie lächelte mich herzlich an. Ich spürte, wie sie immer noch auf eine zustimmende Reaktion von mir hoffte.
Es gab also wirklich kein Zurück mehr. „Oh je! Dann ziehen wir also nach Berlin?“, resümierte ich noch mal, um es besser begreifen zu können.
„So ist es, Schätzchen. Ich bin wirklich aufgeregt!“
Ich kniff die Augen zu Schlitzen zusammen. „Versprich mir, dass wir nicht nach einem Jahr wieder woanders hinziehen werden, Mama. Du musst mir das jetzt versprechen!“
Meine Mutter legte den Kochtopf, den sie aus dem Schrank genommen hatte, zur Seite und nahm mich in die Arme.
„Ach, Lexi, ich verspreche, dass ich alles dafür tun werde! Aber, weißt du was? Ich hab diesmal ein richtig gutes Gefühl! Als ich in Berlin durch die Straßen lief, habe ich mich frei und voller Tatendrang gefühlt. Mir sind tolle Ideen gekommen, ich erzähl dir später davon. Diese Stadt hat eine tolle Wirkung auf mich, und bei dir wird es ähnlich sein, da bin ich mir ziemlich sicher!“
Sie gab mir einen Kuss auf die Stirn, und dann kochten wir gemeinsam. Zur Feier des Tages öffnete meine Mutter eine Flasche Rotwein. Sie sah mich fragend an. Doch ich wollte lieber ein Glas kalten Orangensaft, weil ich mit Alkohol nicht viel anfangen konnte. Es schmeckte mir nicht besonders und hatte mich einmal schlimm aus den Socken gehauen. Von der Geschichte wusste meine Mutter zum Glück nichts. Insgeheim war sie aber doch froh darüber, dass ich nichts trank.
Einige Wochen später erhielten wir die Nachricht, dass wir die Wohnung in Kreuzberg bekommen würden. Die Sommerferien hatten gerade begonnen. Ich wurde versetzt in die zehnte Klasse und behielt zum Glück auch die Zwei in Mathe.
Als unser Umzug nach Berlin nahte, wurde ich allerdings doch noch mal melancholisch. Meine Mutter bemerkte meinen Gemütszustand und arrangierte eine kleine Abschiedsparty in unserem Vorgarten, mit viel Musik und leckerem Essen. Ihre Kolleginnen und ein paar der Pfleger kamen, einige der Nachbarn aus dem Wohnblock und natürlich Melanie mit ihren Eltern und ihrem kleinen Bruder. Sie schenkte mir ein wunderschönes Tagebuch, auf dessen Vorderklappe glitzernde Tränen abgebildet waren, weinte ganz furchtbar und steckte mich damit auch noch an. Wir versprachen uns schließlich, den Kontakt nicht zu verlieren und uns in den Ferien zu besuchen.
Mitte Juli war es soweit. Der Tag des Abschieds von unserer Kleinstadt war gekommen. Wir zogen, mit einem nervösen Flattern in unseren Bäuchen, nach Berlin.
Da ich noch Ferien hatte, konnte ich meiner Mutter bei kleineren Renovierungsarbeiten in der Wohnung helfen und sie beim Kauf von Accessoires für die Wohnung begleiten. Sie hatte ein ganz besonderes Talent, unsere alten Möbel, besonders die Couchgarnitur für das Wohnzimmer, durch vollkommen neue Dekorationsgegenstände und Arrangements ganz ungewohnt und neu aussehen zu lassen.
Dann kam die Überraschung.
Sie erlaubte mir, mein neues Zimmer ganz nach meinem eigenen Geschmack einzurichten. Sie würde komplett alles, was ich so brauchte, neu kaufen, sagte sie voller Begeisterung. Zuerst lehnte ich dankend ab. Ich wollte nicht, dass sie das wenige, hart ersparte Geld, das wir hatten, nur für mich ausgab, aber sie bestand darauf. Ich müsse ja endlich mal mein Jugendzimmer kriegen, meinte sie, und es mir richtig gemütlich machen dürfen. Natürlich freute ich mich wahnsinnig über ihre Großzügigkeit, doch insgeheim dachte ich auch, es möge hoffentlich ein Zeichen sein, dass wir so bald nicht wieder umziehen würden.
Diesmal war es nicht nur für mich eine ziemlich große Veränderung, was wir beide vom ersten Tag an merkten. Wir waren in eine riesige Metropole gezogen, in der Millionen Menschen lebten. Das war etwas ganz anderes als die Kleinstädte, in denen wir bisher gelebt hatten und wo nach achtzehn Uhr die Bordsteine hochgeklappt wurden.
Auch das Klinikum, in dem meine Mutter bald arbeiten würde, war um einiges größer als all die Krankenhäuser davor.
Eine Woche vor Beginn des neuen Schuljahres erhielten wir den mit Spannung erwarteten Brief vom Schulamt. Darin stand, dass mir die Stephen Hawking Oberschule in Kreuzberg zugewiesen sei. Natürlich setzte ich mich gleich an meinen PC und rief die Homepage der Schule auf. Ich war ziemlich neugierig und wollte mich vorab über alle wichtigen Details informieren und mir Fotos vom Schulgebäude und dem Gelände drum herum ansehen. Die Recherche sollte mir auch dabei helfen, meine Aufregung etwas unter Kontrolle zu bringen, aber leider passierte das Gegenteil. Mit jedem Tag, mit dem der Schulbeginn näher rückte, wuchs auch meine innere Anspannung. Schon wieder eine neue Klasse, in der ich mich zurechtfinden musste. Schon wieder würde ich ‚die Neue’ sein und begutachtet werden wie ein exotisches Tier im Zoo … zumindest in den ersten Wochen. Und schon wieder musste ich allen Lehrern beweisen, dass ich was drauf hatte, auch wenn ich eher zu den ruhigeren Schülern gehörte. Und sollte ich auch noch Pech haben, waren alle im Lernstoff viel weiter als ich.
Es blieb mir nichts anderes übrig, als abzuwarten und alles auf mich zukommen zu lassen. Immerhin war ich mittlerweile geübt darin, mit neuen, mir völlig fremden Situationen klar zu kommen.