Abkühlung wäre gut …
Die nächsten Tage verliefen ähnlich.
Ich versuchte, mir so viele Notizen wie möglich zu machen, im Unterricht gut mitzukommen und in der Mensa mich nicht von der Seifenoper um Sergio herum verwirren zu lassen. In den Pausen war ich meist mit Adriana zusammen, und wir redeten über alles Mögliche, nur nicht über ihre oder meine Familie. Ich denke, wir ließen diese Themen vorerst mal aus, weil wir keine Lust auf „schwere Kost“ hatten und uns bereits auf das Wochenende freuten. Adriana hatte das Gerücht aufgeschnappt, Joshua Meyer werde auch zu der Saisonfeier kommen und war seither bei bester Laune. Jeden Tag kam sie mit einem anderen tollen Kleid und hoffte, ihn in den Pausen zu sehen, aber er tauchte nur ein einziges Mal in der Mensa auf und das auch nur ganz kurz.
Einmal gab es zwischen Adriana und Sergio etwas Stress auf dem Pausenhof, weil sie angeblich irgendeine Aufgabe nicht erledigt hätte. Ich stand ein wenig abseits von den beiden und bekam lediglich mit, wie Sergio seiner Schwester Ignoranz vorwarf und sie sich daraufhin beleidigt abwandte. Als ich Adriana später fragte, worum es gegangen war, sagte sie nur „Ach, Familienscheiß … oops … sorry“
Ich fragte nicht noch mal nach, da es sie scheinbar nicht besonders tangiert hatte. Ihre Stimmung jedenfalls blieb ungetrübt.
Freitag nach dem Unterricht verabredete ich mit ihr, dass ich erst einmal nach Hause gehen und einige wichtige Dinge erledigen würde, bevor ich gegen Abend zu ihr fuhr. Adriana unterließ es nicht, mich zum hundertsten Mal daran zu erinnern, dass ich vernünftige Partyschuhe - Sand hin Sand her - mitbringen solle und stellte sich auf erstaunliche Weise taub, als ich ihr sagte, dass ich so etwas Exotisches nicht besaß.
Da meine Mutter seit kurzem in der Spätschicht arbeitete, empfing mich zuhause nur eine stille, einsame Wohnung. Ich streifte meine Flip Flops von den Füßen, wusch mir die Hände und nahm mir aus dem Kühlschrank kalten Orangensaft. Mit meinem Getränk setzte ich mich auf den Balkon und genoss den Anblick der riesigen, anmutigen Eiche inmitten unseres großflächigen, sehr schön begrünten Hinterhofs. Wir hatten wirklich Glück mit dieser Wohnung gehabt. Sie war zudem auch angenehm ruhig, man hörte den Lärm des Straßenverkehrs nur, wenn man sehr intensiv lauschte.
Stimmen der Nachbarn, hin und wieder fremdländische Musik, die aus einer der Wohnungen drang oder Kinder, die im Hinterhof spielten und dabei laut waren, störten mich nicht im Geringsten. Zusammen mit dem Gezwitscher der Vögel klang es einfach nach Sommer in der Großstadt.
Nachdem ich mich ausgeruht und meinen Durst gelöscht hatte, brachte ich meinen Schulrucksack in mein Zimmer und lehrte ihn auf dem Bett aus. Ich legte die Bücher und Hefte ordentlich in die Ablagen auf dem Schreibtisch und begann, für die Übernachtung bei den Lovic` und die bevorstehende Strandparty zu packen. Ich brauchte unbedingt ein langes Schlafshirt, das war klar, dann natürlich mein Waschzeug, einen passenden Badeanzug und ein großes Badehandtuch und nicht zu vergessen meinen Sunblocker. Bei der Kleidung hatte ich praktischerweise die einfache Wahl zwischen knielangen Jeansshorts kombiniert mit einem T-Shirt oder einer Bluse. Ich entschied mich für meine ältesten Jeansshorts, die an den abgeschnittenen Stellen schon ausfransten, und ein grünblau gestreiftes T-Shirt, das ich sehr mochte. Für die Strandparty packte ich eine weiße, kurzärmelige Seidenbluse ein, die mir mein Vater vor zwei Jahren zum Geburtstag in einer Geschenkpackung per Post geschickt hatte. Das war ein solides – na ja, typisches – Outfit für mich. Es war schließlich klar, dass ich mir von Adriana kein Kleid andrehen lassen würde. Ich hatte ja nicht mal vernünftige Schuhe dafür. Ein Blick in unseren Schuhschrank bestätigte mich: Neunzig Prozent der Schuhe gehörten meiner Mutter und waren nichts für meine kleinen Füße. Nein, da war wirklich nichts dabei, was ich gegen meine bequemen Flip Flops hätte tauschen wollen. Adriana würde diese bittere Pille schlucken müssen, ob sie wollte oder nicht.
Nachdem ich fertig gepackt hatte, sprang ich kurz unter die Dusche, um mich zu erfrischen. Es waren schließlich knapp dreißig Grad draußen und man kam dauernd ins Schwitzen. Anschließend zog ich die herausgelegten Klamotten an und legte mich mit dem Tagebuch, das mir meine Freundin Melanie geschenkt hatte, bäuchlings aufs Bett. Ich schrieb zwei Seiten voll - meine Gedanken und Gefühle seit wir nach Berlin gezogen waren - las das Ganze einmal durch, malte einen Smiley an den Rand und schloss das Tagebuch wieder in der Schreibtischschublade ein.
Bevor ich losging, dachte ich daran, meine Mutter anzurufen und ihr Bescheid zu geben, dass ich mich jetzt auf den Weg zu meiner Freundin machen würde. Später, wenn ich bei Adriana angekommen wäre, würde ich ihr eine SMS schicken.
Meine Mutter wünschte mir viel Spaß und musste umgehend zurück an die Arbeit. Ich legte auf und dachte, was ich doch für eine brave Tochter war. Stimmte etwas mit mir nicht? Doch ich verwarf den Gedanken. Mein Bauch sagte mir nämlich, dass ich so und nicht anders handeln musste, denn meine Mutter hatte schon genug durchgemacht, und ich war im Moment alles, was sie hatte.
Ich checkte meine kleine Umhängetasche, die ich über den Kopf auf die rechte Schulter zog: Schlüssel, Portemonnaie mit Geld und BVG Monatskarte, Ausweis, Handy, Pfefferminzbonbons, Kaugummis und Taschentücher. Alles, was ich brauchte, war drin. Zuletzt schwang ich meinen Rucksack auf den Rücken und machte mich auf den Weg.
Adriana wohnte nur ein paar Busstationen von uns entfernt, nahe am Kottbusser Damm in einem fünfstöckigen Altbau.
Das Klingelschild mit dem Namen Lovic stach durch seine besonders schöne Schrift unter all den anderen Schildern hervor. Es musste sich um eine Spezialanfertigung handeln. Als ich den Finger zur Klingel führte, spürte ich eine plötzliche innere Aufregung und zögerte. Ich nahm tief Luft, hielt einen Moment den Atem an und drückte endlich auf den Knopf. Nur wenig später ertönte schon ein Summton an der Haustür, die ich reflexartig aufschob.
Es gab keinen Aufzug. Mit jeder Treppenstufe, die ich nahm pochte mein Herz ein wenig heftiger in meiner Brust. Ich war ganz offensichtlich nervöser, als ich es von mir erwartet hätte. Schließlich kannte ich Adrianas Mutter und ihren jüngeren Bruder noch nicht und kam schon zum Übernachten. Ob sie mich mögen würden? Und dann war da noch Sergio …
Adriana öffnete mir die Tür und fiel mir sofort mit ihrem ganzen Temperament um den Hals. „Hey, Hallo, Lexi, komm rein … ich stell dich mal gleich meiner Mutter vor, sie ist schon ganz neugierig auf dich.“
Etwas verlegen trat ich in die fremde Wohnung ein. Ein würziger Bratenduft zog sogleich in meine Nase. Ich legte meinen Rucksack ab und folgte Adriana, die voraus lief. Gemeinsam betraten wir die Küche, die überraschend groß war. Sie war so geräumig, dass ein rechteckiger Esstisch für sechs Personen noch gut Platz hatte.
„Mama, Lexi ist da“, rief Adriana einer Frau zu, die eigentlich viel zu jung aussah, um ihre Mutter zu sein. Sie war groß und schlank, hatte schwarze, zu einem Pferdeschwanz zusammengebundene Haare und sah aus wie … Adriana.
„Hallo, du bist also die Lexi, willkommen und fühl dich wie zuhause bei uns“, sagte sie freundlich, während sie in einem Topf rührte, aus dem es blubberte und dampfte.
„Danke schön“, antwortete ich erfreut über den netten Empfang. „Kann ich vielleicht etwas helfen?“ Doch Adrianas Mutter schüttelte den Kopf. „Der Hackbraten ist im Ofen, der Gemüseeintopf auf dem Herd, und den Salat hat Janna schon gemacht. Ihr Mädchen könnt also ruhig in Jannas Zimmer gehen, wenn ihr mögt, oder euch ins Wohnzimmer setzen, wie ihr wollt. Ich sag euch Bescheid, wenn der Tisch gedeckt werden soll.“
Adriana zog mich am Arm. „Okay, Mama. Ich zeig Lexi mal die restliche Wohnung!“ Meine anfängliche Nervosität kam mit aller Macht zurück. Wo steckten ihre Brüder?
„Sergio ist noch unterwegs mit Yvo“, sagte Adriana, als hätte sie meine Gedanken gelesen. „Bestimmt sind sie bald zurück.“ Sie schob eine Tür auf und drehte sich zu mir um. „Bad und Toilette …“
Das Wohnzimmer war nicht sehr groß, aber gemütlich. Eine dunkelgrüne Couchgarnitur, die sehr neu - und teuer! - aussah, eine kleine Wandvitrine und ein ziemlich großer Flachbildfernseher stachen als Erstes ins Auge. An den Wänden hingen jede Menge eingerahmter Fotos von erwachsenen Personen und Kindern, teils als Gruppenbild, teils als einzelne Portraits. Auch in der Wandvitrine gab es eine Menge Familienfotos. Ich stellte mich davor und sah mir jedes davon interessiert an. Eins der Fotos zeigte einen etwa fünfjährigen Jungen auf den Schultern eines ziemlich großen und kräftigen Mannes mit dunklen, dichten Haaren und einem dünnen Oberlippenbart. Der Mann trug ein rotes T-Shirt und Jeans, deren Hosenbeine hochgekrempelt waren. Er stand neben einem Felsen an einem menschenleeren Strand. Hinter ihm sah man ein spiegelglattes Meer und einen wunderschönen, dunkelblauen Himmel, der sich bereits ein wenig orange einfärbte.
„Das ist mein Vater … mit Sergio“, sagte Adriana, als sie bemerkte, wie intensiv ich das Foto betrachtete.
„Und wer ist das?“, fragte ich und zeigte auf das kleine eingerahmte Foto eines schmächtigen Jungen, der zusammengekauert auf einer Wiese saß und aussah, als würde er etwas ziemlich Winziges, vielleicht ein Insekt, inspizieren.
„Das ist Yvo … letzten Sommer im Park. Du wirst ihn gleich kennenlernen. Wenn du ihn ansprichst, sprich immer ruhig und … berühr ihn bitte nicht.“ Adriana sah mich unsicher an. „Er ist ein wenig anders“, fügte sie wie entschuldigend hinzu.
Ich nickte. „Klar, kein Problem.“
Sie führte mich zu einer verschlossenen Tür, an dem ein Schild mit der Aufschrift ‚Danger Zone’ hing. Adriana verdrehte theatralisch die Augen und stemmte die Hände gegen die Hüften. „Sergios Revier … da gehen wir besser nicht rein.“
Die nächste Tür führte zu einem auffällig ordentlichen Zimmer mit zwei gegenüberliegenden Betten und einem hellblauen Teppichboden. „Das ist hauptsächlich Yvos Zimmer, aber meine Mutter schläft hier auch“, erklärte sie. Ich sah mich flüchtig um. Mindestens zwanzig bis zum Rand gefüllte Legokisten standen neben- und übereinander an der Wand. In einem großen Regal befanden sich aus vielen kleinen Einzelteilchen zusammengesteckte Lego Raumfahrzeuge, die offensichtlich zur Star Wars Ausgabe gehörten. Ich erkannte den ‚Millenium Falken’, vor dem die Miniaturausgaben von Han Solo, Prinzessin Leia und Luke Skywalker aufgereiht waren.
„Yvo liebt Star Wars“, sagte Adriana mit einem innigen Lächeln. „So, und jetzt zeig ich dir mein Zimmer, aber bitte lach nicht, okay!“
Adrianas Zimmer war der reinste Albtraum aus Pink. Die Wände waren in einem zartrosa Ton gestrichen, das Bett, der Kleiderschrank und ihr Bücherregal waren allesamt quietschrosa, der Teppich ein dunkles Pink, das an den Rändern mit hellrosa Blümchen verziert war. Mein ungläubiger Gesichtsausdruck sprach vermutlich Bände.
„Ich weiß“, kicherte Adriana los, während sie schnell noch Kleidungsstücke vom Boden aufsammelte und in den Kleiderschrank stopfte. „Ich sollte hier dringend mal umdekorieren und vor allem die Farben ändern.“
„Da helfe ich dir gern …“, sagte ich lachend und setzte mich auf den Bettrand. Adriana schaltete einen kleinen Ventilator ein, der auf der Kommode neben dem Bett stand. „Oh, wenn ihn den nicht hätte …“, stöhnte sie vergnügt.
Es gab keinen Schreibtisch, aber zwei rosa Sitzsäcke und einen kleinen, runden Glastisch, auf dem Schulmaterial und Stifte herumlagen.
Adriana ließ sich in eins der Sitzsäcke plumpsen und sah mich eindringlich an. „Als wir hier einzogen, war ich fast elf, und mein Vater war gerade gestorben“ Sie machte ein kurze Pause und fuhr dann fort. „Meine Mutter dachte, sie müsse mich zum Trost in eine rosa Prinzessinnenwelt einlullen ...“ Nachdenklich streckte sie ihre langen Beine von sich und wackelte mit den nackten Zehen. Sie trug kurze, weiße Shorts und war barfuß. „Ich geb zu, ich fand’s am Anfang toll, aber jetzt bin ich wohl aus dem Alter raus.“
Ich stand auf und ließ mich in den anderen Sitzsack fallen. „Mein Angebot steht“, sagte ich. „Wir könnten dein Zimmer komplett neu streichen und die Möbel … man könnte sie vielleicht bekleben?“ Adriana hob skeptisch die Brauen. „Ich weiß nicht.“ Dann senkte sie den Blick. „Sergio hat gesagt, ich könne bald neue Möbel bekommen.“ Sie klang hoffnungsvoll, aber auch unsicher, ob sie nicht etwa hingehalten wurde.
„Warum entscheidet Sergio darüber?“, fragte ich, ohne groß nachzudenken, ob ich nicht zu persönlich geworden war.
Adriana kam ins Stottern. „Ach, ähm … also …“ Offensichtlich fiel ihr spontan keine Antwort zu meiner Frage ein, so dass sie mich hilflos anstarrte.
„Sorry, ich hätte das nicht sagen dürfen“, versuchte ich die Situation zu retten.
„Ähm, nein, schon gut.“, entgegnete sie. Wir schwiegen einen kurzen Moment. Im nächsten Augenblick klingelte es zweimal an der Tür.
„Er hat Schlüssel und klingelt trotzdem!“, schimpfte Adriana und kämpfte sich aus dem Sitzsack hoch. „Bin gleich wieder da.“
Nach einer knappen Minute war sie zurück. „Sergio und Yvo sind gleich oben. Hoffentlich können wir bald essen, ich sterbe vor Hunger und du?“
„Geht so“, antwortete ich. Gerade bekam ich das Gefühl, als ob sich mein Magen zuschnüren wollte. Doch bevor ich darüber nachdenken konnte, rief uns Adrianas Mutter energisch in die Küche. „TISCH DECKEN BITTE …“
Adriana nahm Teller aus dem Schrank, und ich war gerade dabei, das Besteck zu verteilen, als Sergio mit seinem Bruder auf den Schultern in der Tür erschien und mich mit einem dermaßen überraschten Gesichtsausdruck ansah, dass ich nur sprachlos zurückstarren konnte. Mit einer Hand hielt er Yvos linkes Bein fest, in der anderen Hand hatte er eine große Tüte eines bekannten Spielwarengeschäfts. Schließlich wandte er sich seiner Mutter zu und sagte etwas auf Serbisch - wie ich annahm - da ich kein Wort verstand. Seine Mutter zuckte nur mit den Schultern und deutete mit dem Kinn zu Adriana, die sich von ihrer Tätigkeit nicht ablenken ließ, gerade so, als wären Sergio und Yvo nicht anwesend.
„Hi, ähm, Lexi …“, sagte Sergio endlich und lächelte mich ein klein wenig an. „Mir hat keiner gesagt, dass du uns heute schon besuchst …“ Er blickte fragend zu Adriana, die nun inne hielt und ihn mit einer gleichgültigen Miene bedachte. „Oh, hab ich nichts erwähnt? Ich dachte, ich hätte …“
„Hi, Sergio“, sagte ich etwas beklommen. Es war schwer zu sagen, ob er etwas gegen meinen Besuch hatte oder einfach nur verstimmt darüber war, nicht rechtzeitig informiert worden zu sein.
Yvo begann mit den Handflächen auf Sergios Kopf zu klopfen und hintereinander ohne Pause „… will runter, will runter, will runter“ zu schreien.
Sergio stellte die Tüte ab und hielt nun mit beiden Händen Yvos Beine fest. „Ja, alles okay, wir gehen jetzt Hände waschen …“, sagte er mit einer samtweichen Stimme, die ich so noch nie von ihm gehört hatte. Vorsichtig drehte er sich im Türrahmen, damit sein Bruder nicht mit dem Kopf gegen die Decke stieß, und sie verschwanden wieder. Mir war aufgefallen, dass Yvo die ganze Zeit nicht ein einziges Mal Blickkontakt mit irgendeinem von uns aufgenommen hatte.
Adrianas Mutter stellte das Essen auf den Tisch. Der Bratenduft war wirklich köstlich, es waren mit Sicherheit Gewürze darin, die mir von Zuhause nicht bekannt waren. Auch der Gemüseeintopf sah vielversprechend aus und dampfte aromatisch. Adriana füllte die Gläser mit Mineralwasser.
„Wo soll ich sitzen?“, fragte ich sie.
„Wo du willst, nur bitte nicht auf Yvos Platz.“ Sie zeigte, welchen Platz sie meinte. Es war das rechte Kopfende des Tisches, das zur Wand zeigte. Ihre Mutter nahm am gegenüberliegenden Kopfende Platz. Ich setzte mich neben sie und Adriana neben mich.
Dann kam Yvo fast geräuschlos hereingetrippelt, mit gesenktem Kopf und zusammengefalteten Händen, die er dicht unter dem Kinn hielt, und setzte sich kerzengerade auf seinen Platz, den Kopf immer noch gesenkt haltend. Er murmelte ganz leise etwas vor sich hin, und Adriana lächelte mich an. „Das ist sein Tischritual“, klärte sie mich auf. „Wir haben keine Ahnung, was er da aufsagt, er spricht es immer sehr leise und völlig vernuschelt … will uns auch nichts verraten.“
Adrianas Mutter begann, für alle aufzutun.
„SERGIO! WIR FANGEN AN, KOMM JETZT“, rief sie ungeduldig und legte eine Scheibe vom Hackbraten auf jeden Teller. Adriana half mit dem Gemüseeintopf, von dem jeder eine große Schöpfkelle voll bekam. Dazu gab es in Scheiben geschnittenes Weißbrot und Paprikasalat in kleinen Schälchen.
Adrianas Mutter wünschte uns bereits „Guten Appetit“, doch keiner fing mit dem Essen an, da Sergio immer noch nicht gekommen war. Gerade wollte sie ihren Ältesten wieder rufen, als er endlich auftauchte. Er setzte sich neben Yvo, gegenüber von Adriana.
„Guten Appetit“, nuschelte er und schnitt sich gleich ein großes Stück Fleisch ab. Ich schielte zu ihm rüber, weil ich mich ständig fragen musste, ob ihn meine Anwesenheit irgendwie störte. Er würdigte mich jedenfalls keines Blickes und nahm auch nicht besonders am Tischgespräch teil. Von den Verfärbungen in seinem Gesicht war so gut wie nichts mehr zu sehen, nur ein leicht gelblicher Schatten um sein rechtes Auge herum.
Yvo aß sehr langsam und rückte immer wieder sein Wasserglas oder sein Brot zurecht. Er nahm auch jetzt mit keinem Blickkontakt auf, nur einmal tippte er auf Sergios rechten Unterarm und fuhr mit dem Zeigefinger die tätowierten Linien nach. Neben seinem großen, muskulösen Bruder sah er geradezu winzig und furchtbar zerbrechlich aus.
Adrianas Mutter fragte mich, in welchen Städten wir früher gewohnt hatten, wo es mir am besten gefallen hatte, wie ich Berlin fand, und ob ich schon mal in Serbien gewesen sei. „Nein, leider nicht“, antwortete ich. „Ich bin noch nicht viel rumgekommen.“
Das war leider wahr.
Als meine Eltern noch zusammen waren, machten wir jedes Jahr Urlaub in Südfrankreich, da ein Freund meines Vaters dort ein Haus besaß und wir für umsonst darin wohnen durften. Nach der Scheidung allerdings änderte sich für meine Mutter und mich so einiges. Keine Urlaube mehr. Wir mussten mit unserem Geld sehr sparsam umgehen. Meine Mutter hatte ständig Angst, sie könnte ihren Job verlieren oder plötzlich arbeitsunfähig werden und dann wären wir von der Stütze abhängig. Deswegen legte sie jeden Cent, der sich abzwacken ließ, beiseite und träumte von besseren Zeiten, die irgendwann einmal kommen sollten.
Adrianas Mutter lächelte. „Wir waren bisher auch nur in Serbien und Deutschland, nirgendwo sonst. Sergio würde gerne mal nach Neuseeland reisen, stimmt’s Sergio?“
Sergio sah von seinem Teller auf. Unsere Blicke streiften sich kurz, bevor er zu seiner Mutter sah. Ein Zucken ging durch meinen Körper. Ich griff zu meinem Glas und kippte hastig ein paar Schlucke Wasser durch meine Kehle.
„Ich will eigentlich nur mal ganz weit weg, völlig egal wohin“, sagte er und widmete sich wieder seinem Essen.
„Oh, ich will nach New York oder Paris“, warf Adriana fröhlich ein. „Und du, Lexi? Was ist dein Traumziel?“
Ich überlegte, aber konnte mich nicht entscheiden „Ich weiß nicht.“
„Du … weißt … nicht?“ Adriana überbetonte ihre Verwunderung völlig. „Irgendwo wird es doch wohl ein Traumziel für dich geben?“
„Lass sie doch, wenn sie sagt, sie weiß nicht“, wandte Sergio plötzlich ein, sah mich aber nicht an.
Im selben Moment fing Yvo an, nach seinem Nachtisch zu verlangen: „Nachtisch. Jetzt Nachtisch. Mein Nachtisch ist jetzt dran. Mein Nachtisch jetzt. Nachtisch …“ Er sprach mit einer monotonen Stimme ohne Höhen und Tiefen und behielt den Blick weiterhin gesenkt. Sein Verhalten war zweifellos seltsam. Das hatte Adriana wahrscheinlich mit „anders“ gemeint, als sie versuchte, ihn ein wenig zu beschreiben.
„Yvo, iss doch noch ein bisschen mehr, dann gibt’s den Nachtisch“, sagte seine Mutter. Aber Yvo ließ sich nicht umstimmen. „Mein Nachtisch. Jetzt Nachtisch Zeit. Nachtisch ist jetzt dran. Mein Nachtisch … oh oh, es ist Zeit für den Nachtisch.“
„Nein, Yvo, du hast kaum was gegessen. Jetzt gibt’s noch keinen Nachtisch“, insistierte seine Mutter. Adriana machte ein ganz betretenes Gesicht und aß schweigsam weiter. Ich versuchte, möglichst wenig irritiert auszusehen, aber es war nicht leicht.
Alle spürten die Spannung, die sich mit jeder Sekunde aufbaute.
Sergio stand auf und lief zum Kühlschrank. Seine Mutter sah ihm kritisch hinterher. „Nein, Sergio, verdammt, er hat kaum was gegessen. Er kann seinen Nachtisch nicht schon nach drei Bissen haben, Wir müssen uns da durchsetzen!“
Doch Sergio hörte nicht auf sie, öffnete den Kühlschrank und suchte den gewünschten Nachtisch.
„Wir sollen uns durchsetzen, Sergio, weißt du nicht mehr!“ Seine Mutter hatte inzwischen vor lauter Aufregung rote Flecken im Gesicht und am Hals bekommen.
Adriana schaltete sich ein. „Sie hat recht, Sergio, setz dich wieder, du gibst zu schnell nach!“
Doch jetzt wurde Yvo lauter: „NACHTISCH JETZT. MEIN NACHTISCH. JETZT IST DER NACHTISCH DRAN …“
Ich bemerkte, dass ich mich vor Beklommenheit ganz klein gemacht hatte. Mein Puls hatte sich spürbar beschleunigt.
Sergio kramte im Kühlschrank immer noch nach dem Nachtisch, schob die Lebensmittel in den Fächern hin und her und fand einfach nicht, was er suchte.
„Wo ist der Schokoladenpudding? Find ihn nicht. Wo ist er, Mama?“ In Sergios Augen schienen Wut und Sorge zu einem stechenden Blick zu verschmelzen.
„MEIN NACHTISCH. JETZT IST DER NACHTISCH DRAN!!!!“ Yvo schlug jetzt zu seinen Worten die Fäuste rhythmisch gegeneinander.
„Hat jemand von euch den scheiß Pudding etwa gegessen?“ Sergio starrte vorwurfsvoll zu seiner Schwester.
Adriana stand erschrocken auf. „Da muss noch einer sein, Sergio. Es waren zwei da, ich hab einen gegessen, ja, aber einer muss noch da sein …“ Sie eilte zum Kühlschrank.
Sergio machte einen Schritt zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Hier!“ Erleichtert holte Adriana einen Puddingbecher hervor und gab ihn Sergio, der damit sofort zurück an seinen Platz kam. Er streichelte Yvos Kopf immer und immer wieder. „Schscht, ist gut, hier ist er. Er ist da, dein Nachtisch. Yvo, ist gut, er ist da. Zeit für Nachtisch, hier schau mal ...“
Langsam beruhigte sich Yvo, hörte auf zu schreien und die Fäuste gegeneinander zu schlagen.
Nur noch ein letztes Mal flüsterte er: „Es ist Zeit für meinen Nachtisch.“
Sergio drückte ihm den Puddingbecher in eine Hand und streichelte noch einige Male sanft seinen Kopf. Endlich war Yvo ruhig und löffelte zufrieden den Schokoladenpudding. Seine Mutter hatte ihr Besteck weg gelegt und sah nun erschöpft und traurig aus.
„Ich werde mich mal ein bisschen hinlegen“, sagte sie. „Ihr drei räumt den Tisch nachher ab, ja?“ Sie erhob sich schwerfällig von ihrem Platz, betrachtete kurz ihren Jüngsten, wie er ausdruckslos seinen Pudding löffelte, lächelte ein klein wenig, doch ihr Lächeln verschwand noch bevor es ihre Augen erreicht hatte.
„Ja, klar, Mama, geh ruhig, wir machen alles!“, sagte Adriana.
Als ihre Mutter weg war, drehte sie sich zu mir und machte eine schuldvolle Miene. „Tut mir Leid!“
Sergio sah sie verständnislos an. „Was tut dir Leid, Janna? Dass Lexi mitgekriegt hat, wie Yvo ausrasten kann? Oder, dass sie mitgekriegt hat, wie Mama damit umgeht?“
„Sergio, hör auf. Bitte! Erzähl doch mal, was hast du Yvo heute gekauft?“, fragte sie ihn mit einem wie auf Knopfdruck deutlich freundlicheren Ton.
Sergios angespannte Gesichtszüge lösten sich ein wenig. „Dreimal darfst du raten!“
Adriana grinste mich an. „Hm? … Lego?“
„Mhm.“
Yvo ließ den leeren Puddingbecher in seinen Teller fallen und fing wieder an, die Fäuste gegeneinander zu schlagen. „Legozeit … Zeit für Lego. Zeit für Lego … Zeit für Lego“, wiederholte er, diesmal leise und in einem Singsang wie ein Mantra, allerdings passte sein gleichgültiger Gesichtsausdruck so gar nicht dazu.
Sergio sprach wieder mit seiner samtweichen Stimme zu ihm: „Okay, willst du allein Lego spielen, hm?“
„Mhm, allein ist gut. Legozeit allein ist gut“, antwortete Yvo. Als ich bemerkte, dass ich ihn fasziniert anstarrte, sah ich schnell weg, trank mein Glas leer und legte es zusammen mit dem Besteck in meinen Teller.
„Gut, dann kannst du jetzt deine Tüte holen und in dein Zimmer gehen. Yvo, alles klar! Legozeit! Komm gib Five …!“ Sergio hielt seinem Bruder die offene Hand in der Luft entgegen und Yvo klatschte ihn ab, behielt aber seine gerade, steife Körperhaltung bei. Dann stand er auf, lief mit kleinen Trippelschritten aus der Küche, während er leise „Legozeit“ vor sich hin murmelte.
Sergio lehnte sich in seinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Sein Bizeps kam dadurch so sehr zum Vorschein, dass ich verlegen den Blick abwandte. Er sollte ja nicht auf die Idee kommen, ich könnte ihn in irgendeiner Form bewundern.
„Sieht so aus, als wären wir alle schon satt?“ Adriana sah mich fragend an.
„Also, ich bin pappsatt“, sagte ich. „… und es hat wirklich wahnsinnig gut geschmeckt. Ich hab schon lange nicht mehr so gut gegessen.“
Sergio lächelte. „Das meinst du nicht im Ernst, Lexi, oder?“
„Doch“, entgegnete ich. „Mein voller Ernst. Gut, ich kann es euch ja ruhig verraten. Weder meine Mutter noch ich können besonders gut kochen. Irgendwie haben wir es einfach nicht drauf. Wir haben kaum Gewürze, wir lassen unser Gemüse vergammeln, essen deswegen hautsächlich Nudeln mit Tomatensoße oder Würstchen und Kartoffelsalat.“
Adriana stand lachend auf und brachte ihr Geschirr in die Spüle.
„Ist aber nicht besonders gesund“, sagte Sergio und erstaunte mich. Ich wäre nicht davon ausgegangen, dass ihn Dinge wie gesunde Ernährung überhaupt interessieren könnten.
„Wenn man sich falsch oder einseitig ernährt, wird man irgendwann krank. Außerdem hat man keine richtige Kraft und Energie“, fügte er oberlehrermäßig hinzu. Ich hatte dem Schlaumeier nichts entgegen zu setzen.
„Dann solltest du aber bei Yvo auch darauf achten, dass er nicht soviel Quatsch isst“, fing Adriana erneut an. Meine Sorge, die beiden könnten sich wieder in die Haare kriegen, legte sich sehr schnell, denn Sergio lächelte entspannt. „Janna, er will nur seinen Pudding nach dem Essen, mehr nicht. Das ist seine einzige Süßigkeit. Und manchmal will er sein Essen nicht aufessen, was aber nicht oft vorkommt.“
Wie räumten gemeinsam den Tisch ab, füllten die Spülmaschine und wischten die Arbeitsflächen. Sergio erstaunte mich ein weiteres Mal, da er sich nicht vor der Küchenarbeit gedrückt hatte.
„So, Lexi und ich verschwinden jetzt in mein Zimmer“, sagte Adriana schnippisch und streckte Sergio die Zunge raus. „Eintritt verboten!“
Sergio stand im Türrahmen und grinste schief. „Wie schade …“, seufzte er künstlich, als ich hinter Adriana an ihm vorbei musste. Beim Vorbeigehen nahm ich einen ganz dezenten Geruch von Rasierwasser und leicht geschwitzter Haut wahr. Für einen Moment hatte ich das Gefühl, als würde mir ganz schummrig werden.
Adriana schloss die Tür hinter sich zu, schaltete den Ventilator und den CD Player ein und fing an herumzutänzeln. Sie wirkte wieder fröhlich und ausgelassen.
„Lexi …!“, warnte sie mit einem vergnügten Unterton in der Stimme. „Du weißt, was jetzt kommt!“
Ich hatte es mir in einem der Sitzsäcke gemütlich gemacht. „Oh, nein, doch nicht etwa die Modenschau?“, lachte ich.
Adriana ging zu ihrem Schrank und holte einen mit Kleidungsstücken prallgefüllten, blauen Müllsack hervor. „Ich hab hier ganz viele coole Klamotten, jede Menge Sommerkleider. Wir werden ein schönes für morgen aussuchen.“
„Janna, mein Outfit ist doch völlig auseichend“, protestierte ich, allerdings nur halbherzig. Adriana würde nicht locker lassen, und ich fand’s auf einmal auch ziemlich spaßig, ihre Klamotten anzuprobieren.
Wir verbrachten den ganzen Abend bis Mitternacht mit der Outfitsuche für mich. Bestimmt hatte ich dreißig oder mehr Kleider an- und ausgezogen und war vor Adrianas kritischen Augen auf und ab marschiert. Zwischendurch tanzten und lachten wir viel, und ich bekam kleine Geschichten über Adrianas Schwarm, Joshua Meyer, zu hören.
„Er hat mich mal in der Hofpause angerempelt“, erzählte Adriana aufgeregt mit aufgerissenen Augen. „Vielleicht war das Absicht!“
Nach kurzen Schweigesekunden prusteten wir beide gleichzeitig los. Irgendwann aber waren wir so erschöpft, dass nichts mehr ging.
Adrianas Mutter und Yvo schliefen längst, und Sergio war in seinem Zimmer verschwunden. Etwas Licht drang durch den Spalt unter seiner Tür hindurch, als ich mit Adriana ins Bad ging, um mich bettfertig zu machen.
Bevor wir uns „Gute Nacht“ sagten, verriet sie mir, dass sie manchmal schlimm schnarche, dann solle ich einfach ein wenig an ihr rütteln. Kaum hatte sie den Kopf aufs Kissen gelegt, schlief sie auch schon ein.
Ich hatte weniger Glück. Egal welche Position ich einnahm, der Schlaf wollte mich nicht aufnehmen. Außerdem schien die Luft immer schwüler zu werden, man merkte bereits, dass heißes Wetter aufzog. Das mit den achtunddreißig Grad zum Wochenende konnte also gut hinkommen. Wir hatten uns nur mit einem dünnen Laken zugedeckt, aber selbst das schien jetzt zuviel. Also deckte ich mich auf. Das war schon viel besser.
Ich ließ den Tag vor meinem geistigen Auge Revue passieren, dann den Abend: das Abendessen mit Yvo und seinem Pudding Aufstand, die Modenschau mit Adriana, um die ich nicht gekommen war. Immer wieder hatte ich auch Bilder von Sergio im Kopf. Sein Gesicht, die Narbe über seiner rechten Augenbraue, seine fast schon zierliche, schöne Nase, die vielen Tattoos auf seinen Armen, der kräftige Nacken, seine verblüffend sanfte Stimme, wenn er mit Yvo sprach … Die ganze Zeit hatte ich es mir nicht eingestehen wollen, aber nun holte es mich gnadenlos ein: Ich konnte nicht mehr leugnen, dass ich ihn auf eine gewisse Weise sehr anziehend fand, auch wenn es mich furchtbar ärgerte …
Als ich nach einer gefühlten Stunde immer noch nicht eingeschlafen war, während Adriana sich lange schon im Tiefschlaf befand und leise vor sich hin schnarchte, spürte ich zu allem Überfluss auch noch meine volle Blase. Ich würde auf die Toilette gehen müssen, sonst konnte ich das Einschlafen völlig vergessen, würde bis zum Morgengrauen wach da liegen und dann den ganzen Tag groggy sein. Das war keine gute Option! Also musste ich mich wohl oder übel zur Toilette begeben!
Da war nur leider ein Problem: Dummerweise musste ich an Sergios Tür vorbei.
Was, wenn er noch wach war?
Mit Sicherheit würde er mich hören und sich einbilden, dass ich mit Absicht vor seiner Tür herumgeisterte, um noch mal einen Blick auf seinen Luxusbody werfen zu können. Grrr.
Ich zögerte … Jedoch nicht all zu lange, denn meine Blase machte im wahrsten Sinne des Wortes Druck. Notgedrungen krabbelte ich schließlich doch noch - so leise wie möglich - aus dem Bett und schlich mich aus dem Zimmer. Wie spät mochte es sein? Ich hatte keine Ahnung. Auf dem Flur war es muckmäuschenstill und relativ dunkel. Auf Zehenspitzen schlich ich weiter. Zum Glück konnte ich durch den Spalt unter Sergios Zimmertür kein Licht erkennen. Wahrscheinlich schlief er auch schon tief und fest …
Als ich genau vor seiner Tür stand, horchte ich angestrengt auf mögliche Geräusche, glaubte plötzlich leise Musik wahrzunehmen … Der Eindruck war allerdings so vage, dass ich es für Einbildung hielt. Ich hätte mein Ohr direkt an seine Tür drücken müssen, um es ganz genau prüfen zu können, aber das kam ja wohl nicht in Frage. Es wäre verrückt und unangebracht gewesen … Schnell lief ich weiter ins Bad und schloss - erleichtert darüber, dass ich unterwegs keine unerwartete Begegnung gehabt hatte - die Tür hinter mir zu. Doch trotz aller Vorsicht ließ sich ein Klicklaut nicht verhindern, ebenso wenig das Rauschen der Klospülung. Hoffentlich hatte es niemanden geweckt … Ich hielt vor dem Spiegel inne und lauschte … Alles war ruhig geblieben!
Auf Zehenspitzen trat ich wieder auf den Flur, unterließ es, die Badtür ganz zuzuschließen, und machte ein, zwei, drei Schritte … da öffnete sich Sergios Zimmertür …
Mit nur Armyshorts bekleidet und freiem Oberkörper stand er plötzlich vor mir. Ich erschrak so heftig, dass ich einen Hüpfer machte und dann erstarrte. Ich brachte keinen Ton heraus und sah ihn verschreckt an, als hätte er mich bei etwas Verbotenem ertappt.
Unter seiner Brust war ein großes Tattoo, zwei ineinander verschlungene Schlangen, die sich gegenseitig anfauchten. Ich konnte keine Farben erkennen, da es viel zu dunkel dafür war.
Sergio lehnte am Türrahmen und stemmte die freie Hand gegen die Hüfte. „Kannst du nicht schlafen, Lexi?“, fragte er fast flüsternd mit einer tiefen, kehligen Stimme.
„Ich … ähm, musste auf’s Klo … und … ähm … es ist so schwül … aber Janna schläft trotzdem wie … wie ein Baby …“ Mein Stottern war mir peinlich. Mit einer Hand hielt ich mein knappes Schlafshirt am Saum fest, damit ja nichts hoch rutschen konnte. Außerdem wusste ich nicht so recht, wohin mit meinen Blicken. Sein Anblick war ganz und gar irritierend.
Sergio grinste schief. „Das ist typisch für sie“, flüsterte er, „nicht mal ein Erdbeben könnte sie wecken.“
Ich kicherte verkrampft, hielt die Hand vor den Mund, damit es nicht zu laut wurde. „Kannst du … ähm … auch nicht schlafen?“
Er drehte den Rücken gegen den Türrahmen, verschränkte die Arme vor der Brust und schob die Hände unter die Achseln.
„Ich schlafe immer erst sehr spät ein.“
Jetzt erst bemerkte ich, dass aus seinem Zimmer tatsächlich ganz leise Musik drang. Er hatte kein Licht gemacht, so dass ich keine Details erkennen konnte.
„Und dann … hörst du Musik?“ Ich blinzelte zu ihm hoch.
Er fixierte mich eindringlich. „Mhm …“
Ich wusste nicht mehr weiter.
Es war höchste Zeit, zurück ins Bett zu kriechen und die Augen ganz fest zuzukneifen.
Nach ein paar Sekunden des Schweigens, die mir viel zu lang und qualvoll vorkamen, beugte er sich ein wenig zu mir herunter und sagte: „Ich … könnte dir ja anbieten, mit mir ein wenig Musik zu hören … aber … hab ja versprochen, dass ich dich nicht angraben werde … also … tut mir Leid, Lexi …“
Was für ein … Irgh!
Meine Verlegenheit wurde von einer guten Portion Missmut verdrängt. Was für ein eingebildeter Typ!
„Ich geh jetzt ins Bett! Nacht, Sergio!“, zischte ich und eilte zurück in Adrianas Zimmer.
Sie schlief immer noch in derselben Position wie ich sie verlassen hatte. Zum Glück war ihr Schnarchen leiser geworden. Ich versuchte noch eine Weile, mich über Sergio aufzuregen, aber stattdessen spürte ich ein eigenartiges Hochgefühl, das sich in mir festsetzen wollte. Ich schob es auf die schöne Freundschaft mit Adriana, die gleich am ersten Schultag begonnen hatte, auf die Strandparty, die bevorstand, den Sommer …
Das Bild, wie er im Türrahmen gestanden hatte, wollte mir nicht aus dem Kopf gehen.
Oh je, ich war jetzt glockenwach …