So tun als ob …?

 

Im Bus nach Hause war die Klimaanlage ausgefallen und folglich klebte die Sommerhitze in den matten Gesichtern der Fahrgäste wie zerknitterte Frischhaltefolie. Es war ihnen anzusehen, dass sie ungeduldig ihr Ziel herbeisehnten.

Ich fühlte mich wie elektrisiert: Bestnote in Mathe, dann Sergios Ankündigung, er werde mich anrufen … Wie die Mädchen in der Mensa geschaut hatten, nachdem er mich von seiner Schulter abgesetzt hatte! Wenn Blicke töten könnten …!

Ich hatte versucht, seine Nähe zu meiden, aber es war praktisch nicht möglich, wie ich gesehen hatte. Und nun hüpfte mein Herz aufgeregt in meiner Brust herum und wollte sich nicht beruhigen.

Zuhause duschte ich ausgiebig, zog mir kurze Shorts und ein Schlabbershirt an und band meine Haare zu einem hohen Zopf zusammen. Meine Mutter hatte wieder Spätschicht und würde irgendwann gegen Mitternacht oder später heimkommen. Sie hatte die Wohnung unglaublich gründlich aufgeräumt und auch die Küche war blitzblank. Wow, sie war wohl übermotiviert gewesen! Auf dem Herd stand ein Topf mit Gulasch, aber ich war immer noch pappsatt von den Nudeln.

Im Haushalt gab es somit nichts zu tun, auch hatten wir heute keine Hausaufgaben aufbekommen. Natürlich hätte ich trotzdem lernen können, aber die Motivation fehlte mir ganz und gar, ich war viel zu unruhig, fragte mich, wann Sergio anrufen würde und ob überhaupt.

Ich beschloss, keine Trübsal zu blasen, komme was wolle, und an meinem Aquarellbild weiterzumalen. Es war ja so gut wie fertig. Alle erdenklichen Schattierungen von Grün waren mir gelungen, gerade so wie sie sich in unserem Hinterhof präsentierten, und ins Zentrum hatte ich die mächtige Eiche platziert, durch deren Blätter und Äste feine Sonnenstrahlen flossen. Was fehlte, waren hier und da etwas Rot und Gelb, wie die Blumen in manchen Balkonen oder in dem kleinen Beet neben der Eiche.

Bevor ich den Pinsel zu schwingen begann, riss ich alle Fenster auf, um für ein wenig Abkühlung zu sorgen, aber die Luft da draußen schien noch wärmer geworden zu sein.

Ich fuhr meinen Computer hoch und startete meine Liste der MP3 Downloads, ein wenig musikalische Begleitung würde meiner Stimmung gut tun, mich vielleicht inspirieren – und hoffentlich meinen Gedanken die Schwere nehmen.

Kaum hatte ich begonnen, ein paar Farbtupfer in mein Bild zu setzen, klingelte es unerwartet an der Wohnungstür. Ich legte meinen Pinsel auf ein dafür vorgesehenes Tuch neben der Staffelei und eilte zur Tür.

Als ich durch den Spion spähte, sah ich in das freundlich blickende Gesicht einer jungen Frau mit einem rosafarbenen Kopftuch. Ich erkannte sie, hatte sie erst kürzlich unten im Hausflur getroffen und war sehr nett von ihr begrüßt worden. Ohne zu zögern öffnete ich die Tür.

„Hallo, Entschuldigung für die Störung, ich bin Seyda aus der Wohnung über euch“, sagte sie in einem absolut akzentfreien Deutsch. Sie hielt einen Teller in der Hand, der mit Alufolie abgedeckt war.

„Oh, Hallo …“, antwortete ich, ebenso freundlich wie die Unbekannte vor mir.

„Wir sind erst vor ein paar Tagen aus dem Urlaub zurückgekommen und haben gehört, dass ihr hier neu eingezogen seid“, sagte sie lächelnd. Ihre hübschen dunklen Augen waren dick mit schwarzem Kajal umrandet und ihre vollen Lippen waren von Natur aus dunkelrot. „Ich habe ein wenig gekocht und wollte euch hiermit Willkommen heißen.“

Sie hielt mir den Teller hin, und ich nahm ihn höflich entgegen.

„Das ist … sehr nett, vielen Dank“, sagte ich etwas verlegen und fügte schnell hinzu. „Also, ich heiße Alexa. Meine Mutter arbeitet im Vivantes Klinikum als Krankenschwester …“

„Oh, das ist gut“, meinte sie erfreut. „Eine Krankenschwester! Mein Mann Hamit arbeitet in einem türkischen Restaurant als Koch. Aber zuhause, da koche nur ich, da bin ich die Küchenchefin!“ Sie lachte verschmitzt. „Na gut, Alexa, sag deiner Mutter noch liebe Grüße, und ich würde mich sehr freuen, wenn ihr mal zum Teetrinken hoch kommt.“

„Ja, gerne, richte ich aus, danke!“

Seyda lief mit einem zufriedenen Lächeln in ihrem ebenmäßigen Gesicht die Treppen wieder hoch, und ich schloss die Tür erst, als sie nicht mehr zu sehen war.

In der Küche lupfte ich ein wenig die Alufolie, um zu sehen, welche Leckerei wir da bekommen hatten, konnte aber die interessant aussehende Speise nicht identifizieren: Es sah aus wie Salat mit roter Hirse vermischt … Hm? Es roch scharf und nach frischen Kräutern und Lauchzwiebeln und glänzte, als wäre viel Öl darin. Gerade wollte ich ein wenig davon probieren - die Neugier hatte gesiegt - als mein Handy schrill und laut, wie es seit einiger Zeit eingestellt war, losklingelte. Ich erschrak so heftig, dass mir die Gabel mit dem Probehappen aus der Hand glitt und klirrend auf den Boden fiel. Der Boden war nun schön eingesaut, während mein Handy weiter Alarm schlug. Ich stürzte mit pochendem Herzen aus der Küche, um den Anruf entgegen zu nehmen.

Das Handy lag auf meinem Schreibtisch. Kurz bevor ich es erreichte, verstummte es zu meinem Verdruss. Hastig nahm ich es hoch und starrte aufgeregt aufs Display: Es war Sergios Nummer.

Oh mein Gott! Er hatte angerufen!

Ich überlegte, ob ich gleich zurückrufen sollte, war aber aus irgendeinem Grund unschlüssig, zögerte für einige Momente, doch kaum hatte ich mich dafür entschieden, klingelte es schon wieder los und mein Herz sprang mir beinah aus dem Brustkorb.

„Hallo“, räusperte ich ins Handy.

„Hey, Lexi, Sergio hier. Ich stör hoffentlich nicht, oder? Was machst du gerade?“ Sergios Stimme klang heiter und drang bis in meine Eingeweide durch. Ich merkte, wie ich sofort übers ganze Gesicht schmunzelte und an meinem Zopf fummelte. „Ähm, du störst doch nicht, überhaupt nicht. Ich mache eigentlich nichts … na ja, ich male ein bisschen, nichts Wichtiges, bin fast fertig, aber es kann auch warten.“

„Mhm.“

Ich blubberte schnell weiter: „Sergio, heute in der Schule wollte ich dir noch danken, aber kam irgendwie nicht dazu. Ohne dich hätte ich in Mathe niemals so gut abgeschnitten. Garantiert nicht.“

„Du übertreibst“, lachte er. „Aber wenn du schon beim Thema bist … du weißt schon … der Gefallen! Wie sieht’s aus, bist du bereit dafür?“

„Ähm, ich weiß nicht, Sergio, was kann ich dir denn schon für einen Gefallen tun?“

„Einen großen zum Beispiel“, sagte er. Er klang geheimnisvoll, aber auch merkwürdig ernst.

Ich hielt inne.

„Und?“, hakte er ungeduldig nach.

Meine Skepsis war ungebrochen. „Was muss ich denn dafür tun?“

Er schwieg für einen kurzen Moment. Dann sagte er: „Mich begleiten … ich meine … Ich brauche eine Begleitung … eine weibliche Begleitung, die ich … na ja, als meine Freundin ausgeben kann.“

Oh? Ich glaubte, nicht recht gehört zu haben. Musste er denn bei diesem Anliegen auf mich zurückgreifen, wo ihm beinah sämtliche Mädchen aus unserer Schule zu Füßen lagen und ihm weitaus mehr als nur einen Gefallen tun würden?

„Warum denn ich, Sergio?“, fragte ich entsprechend verdutzt.

Er schnalzte mit der Zunge. „Warum du? Weil du irgendwie perfekt bist für die Rolle. Es sei denn, also … es sei denn, du willst nicht. Ich werde dich bestimmt nicht unter Druck setzen, ist klar. Du schuldest mir natürlich gar nichts, Lexi, das war nur ein blöder Spruch! Also, was sagst du?“

Ich brauchte nicht wirklich zu überlegen. Alles zog mich in seine Nähe, auch wenn mein Verstand mich vor ihm warnte, weil er der Meinung war, dass ein Typ wie Sergio Lovic mit mir höchstens seine Spielchen treiben oder mich im besten Fall wie eine Schwester betrachten würde … oder eben wie irgendeine Freundin seiner Schwester, die ich ja tatsächlich auch war.

„Okay, ich mach’s“, sagte ich.

Meine Bauchdecke begann zu zittern. Schließlich hatte ich keine Ahnung, worauf ich mich da einließ, aber ich konnte es ihm nicht abschlagen … oder mir selber nicht abschlagen, das war mir nicht so ganz klar …

Ich sollte also so tun, als sei ich seine Freundin. Auch wenn ich schon die Rote Flagge vor meinem geistigen Auge sah, glaubte ich, dass es durchaus schlimmer hätte kommen können …

Ich hörte ein lautes Jauchzen am anderen Ende der Leitung. „Cool! Lexi! Das ist einfach nur obercool.“

„Na ja, ich hoffe, wir kommen glaubwürdig rüber“, lachte ich nervös.

„Das werden wir. Zweifelst du etwa daran?“

„Ja, weil … dein Bekannter aus dem Restaurant … wie hieß er noch mal?“

„Charly.“

„Ja, also, dieser Charly war der Meinung, dass wir nicht zusammen passen, kannst du dich erinnern?“ Gespannt wartete ich auf seine Antwort. Er schien kurz zu überlegen.

„Dann hat er offensichtlich keine Ahnung, der liebe Charly!“, meinte er überzeugt.

„Mhm, vielleicht.“

„Lexi, hast du heute Abend schon Zeit? Die ganze Aktion dauert so etwa zwei bis drei Stunden … höchstens.“

Ich nickte heftig, zum Glück konnte er mich nicht sehen. „Ja, kein Problem. Meine Mom kommt spät von der Schicht, und ich hab, wie gesagt, nichts Wichtiges vor … ähm … sagst du mir jetzt mal genauer, was du mit mir vorhast, Sergio?“

„Klar doch. Ich möchte meinen Opa besuchen“, sagte er. Er musste sich räuspern, bevor er weitersprechen konnte. „Er macht’s vielleicht nicht mehr lange, verstehst du, und … tja, außer mir besucht ihn keiner mehr, weil der alte Starrkopf niemanden sehen will … tja … nur mich … und er fragt jedes Mal, warum ich meine Freundin nicht mitbringe … jedes Mal! Und jedes Mal will er wissen, wann ich sie denn endlich heiraten werde und … ob ich schon Kinder hab …“ Er stockte. „Opa denkt, dass man mit achtzehn alt genug für all diese Dinge ist …“

„Oh, das ist … irgendwie total … ich weiß nicht … toll, dass du dich so um ihn kümmerst!“, kam es begeistert aus mir heraus.

„Gut, Lexi, ich hol dich dann so gegen neunzehn Uhr ab? Ist das okay für dich?“

„Ja, ist es. Muss ich was Besonderes anziehen, Sergio … für deinen Opa, mein ich?“

Eine kurzes Schweigen, bevor er antwortete. „An was hast du denn gedacht?“ Ich konnte ihn direkt schmunzeln hören! Meine Frage schien ihn irgendwie amüsiert zu haben.

„Also nicht?“

„Zieh an, was dir gefällt, es spielt keine große Rolle. Also, dann bis nachher, Lexi!“

„Ja, bis dann.“

Ich legte auf und starrte ungläubig in die Luft. Ich hatte eine Verabredung mit Sergio - oder zumindest so etwas Ähnliches wie eine Verabredung … aber immerhin!

Du bist eine Masochistin, sagte ein dünnes Stimmchen tief in mir drin, doch ich scherte mich nicht darum.

Egal was Sergio gesagt hatte, ich konnte schlecht in den Hot Pants, in denen ich steckte, vor seinen alten Opa treten. Schnell kramte ich aus meinem Kleiderschrank eine schwarze Dreiviertel Jeans und eine grüne Seidenbluse hervor. Die Bluse war sehr dünn, fast ein wenig transparent sogar, aber das würde der alte Mann sicher nicht bemerken. Darunter zog ich einen Sport-BH an und krempelte die Ärmel etwas hoch. Im Badezimmer betrachtete ich kritisch meinen Look.

Ich behielt den lässigen Pferdeschwanz. Auf die Schnelle eine vernünftige Frisur hinzukriegen, war noch nie mein Ding gewesen. Etwas Wangenrouge und Wimperntusche aus der Schminktruhe meiner Mutter ließen mich hoffentlich etwas reifer aussehen. Mehr war nicht drin.

Ein nervöser Blick auf die Uhr verriet mir, dass Sergio bald da sein würde. Meine innerliche Aufregung schraubte sich immer weiter hoch, während ich meine Staffelei und die Farben wieder wegräumte.

Dann klingelte es an der Haustür, und ich stolperte schnell zur Freisprechanlage.

„Ich bin’s, ich warte unten …“ Sogar die metallische Version von Sergios Stimme klang schön.

„Komme sofort“, antwortete ich und japste nach Luft.

 

Wir fuhren in einem alten Volvo nach Rudow. Sergio hatte sich den Wagen mal wieder von einem seiner Kumpel geliehen und schien darüber sehr froh. Verstohlen betrachtete ich ihn von der Seite. Irgendwie schien er von Tag zu Tag immer besser auszusehen, ich hatte keine Ahnung, wie er das machte. Seine Augen leuchteten schwarz und undurchdringlich, die Wimpern waren so lang und dicht, dass sie sich in den Augenwinkeln verhakten. Seine Lippen waren leicht geöffnet, während sein Blick konzentriert auf die Fahrbahn gerichtet war. Er trug ein schwarzes T-Shirt und ausgeblichene Jeans.

„Er ist eigentlich noch nicht wirklich alt … so wie andere Opas, mein ich, aber er ist vom Leben gezeichnet, vieles lief nicht besonders gut für ihn, eigentlich ziemlich beschissen, er musste in den Krieg ziehen, obwohl er nicht mal in seinem Land aufgewachsen ist und hat … blöderweise … sein Bein verloren …“, erzählte er mit kontrolliert ruhiger Stimme.

„Das ist traurig … und schrecklich“, antwortete ich betroffen.

Sergio nickte, ohne die Augen vom Straßenverkehr abzuwenden.

„Du hast gesagt, dass er es nicht mehr lange macht“, sagte ich. „Was hast du damit gemeint?“

Ich fragte mich, ob sein Opa, wenn er denn noch nicht so alt war, noch zusätzlich eine schwere Krankheit hatte?

Sergio schwieg einen Moment lang und schien zu überlegen, wie er es formulieren sollte.

„Es ist mehr … eine dunkle Vorahnung“, sagte er betrübt, kräuselte die Nase und räusperte sich, als hätte er plötzlich einen Kloß im Hals, „… sein dummes Gerede über … Selbstmord … immer mal wieder, weiß nicht, klingt nicht gut, wenn du mich fragst … na ja, vielleicht heitern wir ihn heute mal auf, hm? Du und ich … “ Jetzt lächelte er mit einem knappen Seitenblick zu mir rüber und seine Gesichtszüge entspannten sich wieder. Verlegen sah ich weg und aus dem Seitenfenster. Ich hatte keine Ahnung, wo wir waren.

Schließlich parkten wir auf dem kleinen, umzäunten Parkplatz eines mausgrauen, alten Gebäudes, über dessen Eingangstür ein Schild mit der Aufschrift „Jonathans Senioren- und Pflegeheim“ hing. Ich betrachtete das graue und wenig einladend wirkende Gemäuer, während Sergio den Wagen abschloss und sich neben mich stellte.

Er runzelte kritisch die Stirn. „Ja, sieht aus wie aus dem ersten Weltkrieg, stimmt’s? Innen drinnen wird’s nicht viel besser, aber das Personal ist nett.“

Er hatte recht.

Auch drinnen dominierten die Farbe grau und eine antiquierte, muffige Atmosphäre, aber sofort kam uns eine Pflegekraft entgegen, die Sergio freudestrahlend begrüßte. „Oh, wer kommt denn da hereinspaziert, schönen, guten Tag, Herr Lovic!“

Sie musste so um die dreißig sein, trug einen schneeweißen, gestärkten Kittel, hochgesteckte blonde Haare, hatte jede Menge Lachfältchen um die hellen Augen herum und war sich ihrer offenbar sehr sicher.

„Hallo, Schwester Doreen, wie läuft’s denn so. Tja, wir kommen meinen Opa besuchen …“, entgegnete Sergio mit einem unwiderstehlichen Lächeln im Gesicht. Und Schwester Doreen, die groß und schlank war und nun dicht vor Sergio stand, die rechte Hand gelassen auf die Hüfte gestützt, schien ein wenig zu begeistert, wie mir schien.

„Da wird er sich aber freuen, Sergio. Er ist in seinem Zimmer und macht auf mürrisch, fragt ständig nach dir und wirft mit Obst, wenn man ihn aufzuheitern versucht, aber über einen so schönen Besuch freut er sich ganz bestimmt … Und?“ Sie drehte sich zu mir. „Wen hast du da dabei?“ Musternd sah sie mich von oben bis unten an. Ihr eingefrorenes Lächeln war mir nicht so ganz geheuer.

Sergio zögerte keinen Moment mit seiner Antwort. „Das ist meine Freundin Lexi“, sagte er wie aus der Pistole geschossen und strahlte gekonnt übers ganze Gesicht. Dann streckte er den Arm aus und nahm meine Hand in seine, während Schwester Doreen missmutig die dünn tätowierten Brauen hob. „Oh, schön, wirklich schön! Na, dann mal viel Spaß … und ruft mich, wenn ihr was braucht oder eine Frage habt, aber du weißt ja Bescheid, Sergio!“ Sie drehte sich um und schritt auf energischen Gummisohlen davon.

Sergio zog mich mit sich. Seine Hand war warm und kräftig, und mein Herz raste. Wir liefen durch einen langen Gang, an vielen nummerierten Türen vorbei, bis wir vor der Nummer Fünfundzwanzig stehen blieben. Er klopfte einmal und drückte schließlich die Klinke herunter.

Ein grauhaariger, sehr hagerer Mann saß auf einem Stuhl vor dem geöffneten Fenster und starrte wie in tiefe Gedanken versunken nach draußen. An der Wand neben ihm lehnten zwei Gehhilfen.

„Opa, Ich bin’s, Sergio …“, sagte Sergio ein paar Mal, bis sein Opa endlich reagierte. Er sah tatsächlich nicht so alt aus, wie man sich Opas im Allgemeinen vorstellte, musste allerhöchstens sechzig sein.

„Sergio … ach, ich dachte, du kommst jetzt auch nicht mehr!“, rief er.

Ich wusste nicht, ob er es im Spaß oder im Ernst gesagt hatte und blickte unsicher um mich, während Sergio lachte und ihm einmal sanft auf die Schulter klopfte.

Das Zimmer war nicht sehr groß: ein Bett, ein Schrank, zwei Sessel, ein Stuhl, ein kleiner, quadratischer Tisch, ein winziger Fernseher und an der Wand ein eingerahmtes Ölbild eines Vogelschwarms vor dunkelblauem Himmel. Bei genauem Betrachten erkannte ich, dass es Möwen waren.

Sergio und ich setzten uns auf den Bettrand, und irgendwie schien sein Opa meine Anwesenheit immer noch nicht richtig wahrgenommen zu haben, denn er sagte nichts, sah mich auch nicht an.

„Junge, Junge … du siehst gut aus, Sergio … wie Milan, aber du bist soviel gescheiter, und du hast ein Herz und nicht soviel Unfug im Kopf und all diesen …“

„Ich hab jemanden mitgebracht!“, schnitt Sergio ihm das Wort ab und wartete gespannt.

„Was? Wen denn?“ Sein Opa schien verwirrt, und merkwürdigerweise entdeckte er mich erst jetzt und runzelte fragend die Stirn.

Er hatte ein interessantes Gesicht, mit vielen tiefen, senkrechten Falten und einer sehr dunklen, ledrigen Haut. Seine Augen waren grau und trüb, aber wirkten dennoch vertrauensvoll und freundlich.

„Wer ist das, Sergio?“, fragte er, die Augenbrauen skeptisch zusammengezogen, den Blick starr auf mich gerichtet.

„Meine Freundin. Sie heißt Lexi“, antwortete Sergio mit einem stolzen Ton in der Stimme, und für einen Augenblick fühlte ich mich wie von Engeln umarmt, wünschte, es wäre wirklich so, wie er es sagte …

„Dann lass mal sehen.“ Sein Opa beugte sich noch ein wenig weiter vor und stierte mich auf einmal so intensiv an, als würde er jeden Zentimeter meines Gesichts inspizieren wollen. „Ja, ja, sehr schön, wirklich. Wann heiratet ihr? Ist sie katholisch?“

Sein linkes Bein war fast komplett amputiert, nur ein kurzer Stumpf, der ab und zu beim Reden zuckte, war noch übrig.

Sergio lachte los. „Wir wissen noch nicht. Was meinst du, Lexi? Heiraten wir noch in diesem Jahr?“ Er grinste und zwinkerte mir mit einem Auge zu. Ich lächelte schüchtern zurück. „Ähm, ich weiß nicht“, murmelte ich, das Theater mitspielend, „… vielleicht, wenn alles klappt …“ Ich hatte keine Ahnung, was ich da sagte, aber es schien soweit das Richtige zu sein.

Sergio wandte sich seinem Opa zu, der jetzt äußerst aufmerksam geworden war. „Genau, Opa, wenn alles so läuft, wie wir es uns wünschen, dann heiraten wir noch dieses Jahr! Und du bist herzlich eingeladen …“

„Das ist sehr freundlich von euch. Ihr passt gut zusammen, das sehe ich in euren Augen, da ist das magische Leuchten der Liebe drin, wie deine Großmutter immer gesagt hat, Gott hab sie selig. Bei Milan und Jelena hab ich es nie gesehen, und man sieht ja, was aus ihnen geworden ist … drei Kinder und kein Band, das sie zusammen hält.“ Er kniff die Augen zusammen und sah jetzt griesgrämig aus dem Fenster. „Die brauchen sich bei mir nicht blicken zu lassen …“

Von seinem Zimmerfenster aus sah man in einen kleinen Garten mit einem Springbrunnen in der Mitte und einer überdachten Terrasse mit Sitzbänken. Zwei sehr alte Frauen saßen nebeneinander auf einem der Bänke, und ein älterer Mann, ebenfalls im Rollstuhl, saß direkt vor ihnen. An seiner regen Gestik und den Gesichtern der beiden Frauen konnte man erkennen, dass er die Damen gut zu unterhalten wusste.

Sergio sah mich etwas besorgt an. Ich überlegte kurz und wandte mich an seinen Opa: „Möchten Sie vielleicht in den Garten, Herr Lovic?“

Er hob überrascht die Augenbrauen und strich sich durch die dichten, grauen Haare, die ihm dadurch plötzlich zu Berge standen.

„Oh, nein, nein, ich bleibe lieber in meinem Zimmer, kleine Lexi. Hier drinnen bin ich vor den Vampiren und Werwölfen sicher, die mir nach meiner armen Seele trachten …“, knurrte er mit einem leicht verschmitzten Blitzen in den Augen.

Sergio schmunzelte. „Ein bisschen frische Luft täte dir ganz gut, ist ziemlich stickig hier drin, und Vampire und Werwölfe gibt’s in Berlin nicht, hab noch nie einen getroffen ...“

Doch Sergios Opa schüttelte energisch den Kopf. „Da sei mal froh. Nein, mein Junge, ich fühl mich wohl hier drin, und ich werde mich nicht rühren! Sag das auch deinem Vater, Sergio, falls er fragen sollte, der räudige Hund, und er soll es bloß nicht wagen, hier aufzutauchen, ebenso deine Mutter und all die anderen Gottlosen aus der Familie, außer Adriana und … wie hieß noch euer Nachzügler?“

„Yvo!“ Sergio machte ein Gesicht, als hätte er bitter aufgestoßen.

„Ja, so hieß er doch: Yvo. Wie geht’s deiner Schwester und dem kleinen Yvo, hm? Sind sie gesund?“

Sergio nickte, riss sich zusammen und lächelte wieder. „Bestens! Janna schickt dir Grüße, Opa, und Yvo spricht inzwischen in ganzen Sätzen.“

Der alte Mann schien wieder in Gedanken versunken und blickte aus dem Fenster.

Sergio wollte gerade etwas sagen, klappte den Mund aber wieder zu, als sein Opa laut seufzte. „Passt gut auf euch auf, Sergio, ihr Jungen müsst es besser machen als wir dummen Alten, ihr seid die Zukunft der Familie. Ich bin schon bald nicht mehr da, und deine Eltern kannst du vergessen. Du hast eine liebe Freundin, mein Junge, das sehe ich. Ich wünsche euch viele Kinder, aber ich gebe dir den einen guten Rat: Wenn du möchtest, dass sie gesund aufwachsen … deine Kinder … dann musst du bei ihnen bleiben und bei deiner Frau und darfst nicht abhauen, weil das Leben kein Zuckerschlecken ist, hörst du. Kinder großziehen ist harte Arbeit, und man kann jede Menge Fehler machen, das ist menschlich, aber wenn man abhaut, ist das unmenschlich und hinterlässt Seelensplitter. Ich habe bei deinem Vater auch eine Menge falsch gemacht, und das der verfluchte Krieg dazwischen bombte, war nicht gerade hilfreich, aber es war mein größeres Unglück, dass meine Frau noch im Kindbett gestorben ist … Die Straße hat deinen Vater groß gezogen, Sergio, und ich konnte es nicht verhindern, aber es ist nicht richtig, seinen Vater zu hassen … so, und nun erzähl mir mal, was ihr heute noch so vorhabt, ihr beiden, denn ich weiß, was ich vorhabe. Ich werde dieser eingebildeten Schwester mal gehörig meine Meinung sagen! Seit Stunden warte ich auf die Bücher, die sie mir besorgen wollte.“

Sergio sah mich mit einem auffordernden Blick an, der sagte, dass es Zeit war aufzubrechen.

„Gut, dann machen wir uns mal auf den Weg, Opa, wir wollten irgendwo noch was essen gehen … ähm … Lexi und ich kommen dich bald wieder besuchen. Hast du irgendeinen Wunsch? Was sind das für Bücher, die du willst?“

Sein Opa winkte ab: „Diese Schwester Doreen bringt mir die aus der Bücherei, muss ihr nur noch mal in den Hintern treten … Ich danke euch für euren Besuch … und junge Dame … freu mich sehr, deine Bekanntschaft gemacht zu haben, war ja auch mal Zeit, nicht wahr … Sei schön lieb zu Sergio! So einen guten Jungen findest du nicht alle Tage!“

Bei diesen Worten wurden meine Wangen heiß. Ich hoffte insgeheim, dass Sergio mein Erröten nicht bemerkt hatte.

„Opa, schon gut!“, nuschelte Sergio mit einem verlegenen Lächeln in meine Richtung. Dann umarmte er seinen Opa, der sich etwas steif von seinem Stuhl erhob, eine Gehhilfe unter die Achsel schob und die Umarmung seines Enkels mit dem anderen Arm etwas hölzern erwiderte.

Ich streckte ihm meine Hand zum Abschiedsgruß entgegen. Ein Lächeln umspielte seine müden Augen, als er sie in seine große, raue Hand nahm und mich zu sich heranzog. Er umarmte mich kaum merklich, klopfte mir einmal sanft auf den Rücken und ließ mich wieder los.

„Schönen Abend wünsch ich euch“, sagte er leise.

„Tschau, Opa“, erwiderte Sergio und griff wieder wie selbstverständlich nach meiner Hand. Mein Herz machte sofort einen Sprung.

„Schönen Abend, Herr Lovic“, sagte ich, während ich dicht hinter Sergio ihm zur Tür folgte.

„Pass gut auf dich auf und mach keine Dummheiten, Opa“, rief Sergio noch, als wir aus dem Zimmer traten, dann zog er die Tür hinter uns zu.

Gemeinsam liefen wir den Gang entlang Richtung Eingangshalle. Sergio hielt immer noch meine Hand fest in seiner, und ich hatte absolut nichts dagegen.

Hinter der Theke im Eingangsbereich stand Schwester Doreen und telefonierte. Sie plapperte angeregt etwas von Formularen und Anmeldelisten. Sergio stellte sich vor ihr auf und wartete geduldig, bis sie aufgelegt hatte.

„Mein Opa wartet auf seine Bücher“, sagte er bestimmt, klopfte mit dem Finger auf die Theke und sah nicht unbedingt freundlich aus. Irritiert nickte ihm Schwester Doreen mit aufgerissenen Augen zu. „Oh, natürlich, Sergio, hab’s nicht vergessen, wollte sie ihm bringen, sobald ihr gegangen seid.“

Sergio zeigte kurz mit dem Zeigefinger in die Luft. „Sehr gut, danke und Wiedersehen“, brummte er und zog mich mit sich zum Ausgang.

„Bis bald, dann“, rief uns Schwester Doreen betreten hinterher.

„Okay, manchmal muss man ein wenig Dampf machen, aber alles in allem ist das Personal ganz zuverlässig“, meinte Sergio, seiner Mimik nach zu urteilen immer noch ein wenig verärgert.

Wir liefen über den Parkplatz zum Volvo. Unterwegs merkten wir, dass wir uns immer noch an der Hand hielten und ließen im selben Moment im stillen Einvernehmen los

Mir ging eine Frage durch den Kopf, die ich unbedingt stellen musste: „Wer zahlt denn eigentlich den Aufenthalt deines Opas, Sergio?“ Ich hatte nämlich von meiner Mutter oft gehört, dass Heimaufenthalte teuer waren und manche Familien für die Vollzeitpflege ihrer Angehörigen tief in die Tasche greifen mussten.

„Ein Teil ist seine Invalidenrente, einen Teil zahlt irgendein Amt und den Rest zahlen Familienangehörige … irgendwie … da kommt das Geld von … ähm … verschiedenen Seiten“, weihte er mich ein, doch mit dieser Information war ich nur noch verwirrter als vorher. Die Familienverhältnisse der Lovic’ blieben für mich ein Rätsel.

„Von allen Seiten?“

„Mhm.“ Er hob eine Augenbraue und verzog den Mundwinkel. „Ich weiß …“, sagte er.

„Du weißt was?“

„Dass das alles schon wieder … na ja … dubios rüberkommt:“

„Nur ein bisschen“, lachte ich. „Na gut, mehr als nur ein bisschen.“

„Stört dich das?“ Er blieb stehen und sah mich unsicher an. Seine Lippen pressten sich angespannt aufeinander.

Ich schüttelte den Kopf, „Nicht wirklich“, und sah ihm wie gebannt in die Augen, was ein nervöses Kribbeln in meinem Bauch zur Folge hatte.

„Na, ein Glück!“, sagte er. Er schien erleichtert. „Übrigens …“

„Ja?“

„Danke, dass du so super mitgespielt hast da drin.“

„Oh, gern geschehen.“

Es fiel mir nicht sehr schwer.

Das schiefe Grinsen war wieder da. „Steig ein. Ich fahr dich nach Hause.“

Auf dem Nachhauseweg erzählte er, dass sein Opa 1991 im Kroatienkrieg kämpfen musste, weil er ausgerechnet während des Bürgerkriegs in Jugoslawien eingereist war, um Verwandte zu besuchen und dabei gleich an der Grenze als Wehrdienstpflichtiger abkommandiert worden war. Man habe ihm eine Waffe in die Hand gedrückt und ihn völlig unerwartet mitten in die Gefechte geworfen. Sein Bein sei bei der Explosion einer Landmine zerfetzt worden, als er gerade versuchte, einem verletzten Kameraden zu helfen. Dennoch habe er wahnsinniges Glück gehabt, dass er aus dem Kriegsgebiet herausgeflogen werden konnte. Damit sei sein Kriegseinsatz zwar kurz, aber in jeglicher Hinsicht sehr schmerzhaft gewesen und habe ihm den Lebensmut geraubt.

Das Thema war zwar bedrückend, aber Sergio schien keine Probleme zu haben, darüber zu reden. Fast hatte ich sogar den Eindruck, dass er reden wollte. Also fragte ich auch nach seiner Oma, da sein Opa erzählt hatte, dass sie im Kindbett gestorben sei.

„Das stimmt leider“, antwortete er, die Stirn in Falten gelegt, „… wenige Minuten nach der Geburt meines Vaters … Sie war wie mein Großvater erst achtzehn Jahre alt, aber ihr Herz blieb einfach stehen … tja, tragische Geschichte.“

Wir fuhren eine Weile schweigend, ohne uns dabei unwohl zu fühlen.

Irgendwann trat Sergio auf die Bremsen und fuhr den Wagen rechts ran. Erst jetzt bemerkte ich, dass wir bereits bei mir angekommen waren. Die Dämmerung hatte den Himmel dunkelblau eingefärbt. Die Luft war zwar kühler geworden, aber immer noch recht schwül.

„Da wären wir … Danke nochmals für deine Begleitung, Lexi. Man hat es vielleicht nicht gesehen, aber ich weiß, dass wir meinen Opa glücklich gemacht haben.“

Ich beobachtete wie gebannt seinen Mund, während er sprach, bis ich es merkte und beschämt wegsah.

Ein merkwürdiger Moment der Stille entstand.

Voller Sehnsucht starrte ich auf meine Hände, die auf meinem Schoß lagen und keine Anstalten machten, die Autotür zu öffnen. Stattdessen wollten sie ihn gern berühren, wollten etwas, das nur er hatte …

Okay, dann wenigstens eine Umarmung zum Abschied?

Das war doch inzwischen nicht mehr verfänglich, oder? Wir hatten uns doch schon Mal zum Abschied umarmt, als wir zusammen Pizza essen waren.

Ich war hin- und hergerissen.

„Das freut mich … Er scheint dich wirklich sehr zu mögen“, sagte ich schließlich und musste mich räuspern, weil meine Stimme bei der letzten Silbe etwas weggebrochen war.

„Mhm“, meinte er nur und schwieg wieder.

Er sah mich auf eine undurchdringliche Art an, als wartete er auf etwas …? Na, vermutlich darauf, dass ich endlich ausstieg und er losfahren konnte.

Ich nahm allen Mut zusammen, lächelte und streckte ihm meine Arme entgegen. „Tschau, Sergio, ich fand …“

Weiter kam ich nicht, denn Sergio erwiderte meine Umarmung, zog mich dabei dicht an sich heran und küsste mich zärtlich auf die Wange. Sein Blick tauchte so tief in meine Augen ein, dass mein Kopf vor lauter Aufregung auf einmal wie leergefegt war. Dann plötzlich berührte er kaum merklich mit seinen weichen Lippen meinen Mund. Sein zärtlicher, hauchdünner Kuss war genauso überraschend wie erregend …

Als er sich schon wieder zurückziehen wollte, konnte ich es unmöglich zulassen. Etwas in mir drin spielte verrückt. Ich schwang mich auf seinen Schoß, umschlang ihn mit den Armen und drückte unbändig meinen Mund auf seinen. Ich küsste ihn mit meinem ganzen heillosen Verlangen, das einfach nicht mehr warten wollte. Als wäre ich von einem übermächtigen Strudel erfasst und mitgerissen worden, konnte ich nicht mehr aufhören. Sergio zog mich an sich. Seine Hände fuhren meinen Rücken auf und ab.

Jemand hupte uns von hinten an. Wir zuckten kurz, hörten aber mit unserer Knutscherei nicht auf. Der Wagen fuhr schließlich langsam an uns vorbei, und der Fahrer rief verärgert durch seine heruntergelassene Fensterscheibe, dass wir „Idioten“ gefälligst woanders unseren Spaß haben sollten.

Mir schwirrte der Kopf.

Innerlich zitterte ich auf eine wohlige Weise, wie ich es bisher noch nicht gekannt hatte. Sergios Hände streichelten meine Arme, während ich mich an seinem Nacken festhielt. Seine schönen Augen waren geschlossen. Ich war mir sicher, dass er die Situation genauso genoss, jedenfalls sah es so aus … Und es fühlte sich einfach fantastisch an.

Nie zuvor hatte mich mein eigenes Verhalten so verwirrt und war so unberechenbar wie in diesen Minuten mit Sergio. Und nie zuvor hatte ich einen Jungen auf diese Weise geküsst, so voller Leidenschaft, die meinen ganzen Körper in Beschlag nahm. Ich hatte mir den ersten „richtigen“ Kuss schon oft vorgestellt und mich gefragt, wie und wo es wohl passieren würde? Und vor allem mit wem? Das war natürlich immer die wichtigste Frage gewesen. Jetzt hatte ich meine Antwort.

Sergios Augenlider hoben sich ein wenig. Dann drehte er vorsichtig seinen Kopf zur Seite und sein Blick wanderte an mir vorbei in eine andere Richtung. „Lexi … warte …“, bat er flüsternd.

Nein, hör nicht auf.

Ich wollte seinen Kopf wieder zu mir drehen, aber er leistete Widerstand. Ich verstand nicht, weshalb.

„Lexi … ähm …“

Meine Lippen wollten sich noch nicht von den seinen lösen, denn vielleicht würden sie eine Gelegenheit wie diese nie wieder bekommen.

Enttäuschung mischte sich in mein überbordendes Glücksgefühl, denn Sergio blickte noch immer an mir vorbei, die Augenbrauen fragend hochgezogen, und ließ ein gekünsteltes Schmunzeln seinen Mund umspielen. Dann ergriff er meine Handgelenke und zwang mich, ihm zuzuhören.

„Lexi … da ist jemand … stopp mal“, versuchte er erneut, meine Aufmerksamkeit auf etwas zu lenken, was unmöglich interessanter sein konnte als er.

Seufzend gab ich dennoch nach.

Ein kräftiges Klopfen an die Fensterscheibe auf der Beifahrerseite ließ nun auch mich aufsehen. Die Person, die da gebückt und mit einem zweifelhaften Grinsen, das die Augenpartie konsequent ausschloss, sich bemerkbar zu machen versuchte, war keine geringere als meine Mutter. Ich erschrak so heftig, als wäre ich beim Raub der Kronjuwelen erwischt worden. Sicher war ich in Sekundenschnelle dunkelrot angelaufen. Sergio schmunzelte weiter, obwohl sich unverkennbar eine gewisse Unsicherheit auf seinem Gesicht ausbreitete.

Nun machte meine Muter eine kurbelnde Bewegung mit der Faust, während ich immer noch wie erstarrt auf Sergios Schoß saß und mich kein Stück rührte. Sergio ließ die Fensterscheibe per Knopfdruck herunter.

„Hallo, Alexa, liebste Tochter“, säuselte meine Mutter übertrieben, während sie Sergio taxierte, „stellst du mir den jungen Mann mal vor, auf dessen Schoß du offenbar festgewachsen bist?“

Ich nickte hilflos. Sergios Schmunzeln war nun gänzlich aus seinem Gesicht gewichen, und seine kräftigen Arme setzten mich mit einem Ruck zurück auf den Beifahrersitz.

„Das … das ist Sergio Lovic, Mama, Adrianas Bruder … und … äh … warum bist du schon zuhause?“, stammelte ich betreten daher.

„Ich hatte Glück und durfte früher gehen“, ließ sie mich in jenem geduldigen, monotonen Tonfall wissen, der auf ein dickes Ende deutete. „Zu viele Überstunden. Also …“ Sie stellte sich wieder gerade und verschränkte die Arme vor der Brust. Außer ihrem Kinn konnten wir von ihrem Gesicht nicht mehr viel sehen.

Sergio gab mir mit einem dezenten Kopfnicken zu verstehen, dass wir besser aussteigen sollten, was wir dann auch gleichzeitig taten. Steif lächelnd ging er um den Volvo herum und auf meine Mutter zu. „Hallo, Frau Lessing … Ihre Tochter und ich waren meinen Opa besuchen, er … ähm … ist Kriegsveteran, hat nicht oft Besuch, und ich hab Lexi noch heimgefahren“, ratterte er drauflos, während er meiner verstummten Mutter die Hand reichte. Sie sah ihn so misstrauisch an, als wäre er ein Gebrauchtwagenhändler vor dem Konkurs. Völlig hemmungslos begutachtete sie die Tattoos auf seinen Unterarmen und hob abschätzig die Augenbrauen. Ihrem Gesichtsausdruck konnte man die Besorgnis und den Widerwillen, den die intensive Hautbemalung bei ihr auslöste, deutlich ansehen. Mit einem verstörten Seitenblick, der Bände sprach, streifte sie mich kurz, aber äußerst wirkungsvoll. Obwohl mich ihre Reaktion nicht wirklich überrascht hatte, war ich doch über ihre Heftigkeit sehr erschrocken. Natürlich kam erschwerend hinzu, dass sie mich mit diesem fremden, auffällig tätowierten, unverschämt muskulösen, fast einsneunzig großen, dunklen Typen unartig verknotet vorgefunden hatte, ohne vorher irgendeinen Hinweis in diese Richtung erhalten und sich psychologisch wenigstens ein klein wenig gewappnet zu haben.

„Ja, das … war wirklich freundlich von Ihnen, oder soll ich du sagen …?. Nun ja, Lexi und ich gehen dann mal nach oben, ist ja auch schon recht spät. Schön, dass wir uns kennengelernt haben. Dann gute Nacht.“ Sie gab sich wirklich große Mühe, die Haltung zu wahren

„Find ich auch, Frau Lessing … Auch für Sie schönen Abend!“ Sergio sah sich hilfesuchend nach mir um. „Tschüss, Lexi, wir … sehen uns dann in der Schule.“

„Tschüss, Sergio“, nuschelte ich, streifte beim Vorbeigehen mit den Fingerspitzen kurz seine Hand und lief eilig meiner Mutter hinterher. Einmal drehte ich mich flüchtig nach ihm um, sah mit Zufriedenheit, dass seine Augen wieder lächelten, während er zurück in den Wagen stieg. Ich holte tief Luft und hoffte, dass die bevorstehende Unterredung mit meiner Mutter nicht allzu anstrengend werden würde. Aber egal, was da nun kommen sollte, das Glücksgefühl in meiner Brust war so intensiv, dass es durch nichts erschüttert werden konnte.