24. Kapitel

Als ich auf der Straße stand, fing es gerade an hell zu werden.
Es war ziemlich kalt, aber das fand ich angenehm, weil ich so schwitzte. Ich wußte absolut nicht, was ich tun sollte. Ich wollte in kein Hotel gehen und Phoebes Geld ausgeben. Deshalb ging ich bis zur Lexington Avenue und fuhr von dort mit der Untergrundbahn zu Grand Central Station. Dort waren meine Koffer, und ich dachte, ich könnte in dem blöden Wartesaal auf einer Bank schlafen. Eine Zeitlang war das auch tatsächlich gar nicht so übel, weil nur wenig Leute da waren und ich die Füße auf die Bank legen konnte. Aber ich will nicht weiter davon reden. Es war nicht besonders schön. Freiwillig versuchen soll das niemand. Im Ernst. Man wird nur deprimiert.
Ich schlief nur bis gegen neun Uhr, weil dann haufenweise Leute kamen und ich die Beine von der Bank heruntertun mußte.
Mit den Füßen auf dem Boden kann ich nie richtig schlafen. Ich blieb also aufrecht sitzen. Kopfweh hatte ich immer noch. Es war sogar jetzt viel schlimmer. Und ich war deprimierter als in meinem ganzen bisherigen Leben, glaube ich.
Obwohl ich eigentlich nicht wollte, fing ich an, über Mr. Antolini nachzudenken - und was er wohl zu seiner Frau sagen würde, wenn sie fragte, warum ich nicht dort übernachtet hätte.
Dieser Punkt machte mir zwar keine Sorgen, denn ich wußte, wie wendig er war. Er konnte leicht irgendeine Erklärung für sie erfinden. Wahrscheinlich sagte er, ich sei nach Hause gegangen oder so. Aber der andere Punkt machte mir Sorgen: daß ich aufgewacht war, weil er mir den Kopf tätschelte oder was weiß ich. Ich meine, ich überlegte mir, ob ich mich wohl damit täuschte, daß er etwas Schwules mit mir vorgehabt hatte. Ob es ihm vielleicht einfach Vergnügen machte, jemandem, der schläft, den Kopf zu tätscheln. Wie soll man mit solchem Zeug sicher sein, daß man sich nicht täuscht? Das kann man nicht. Ich überlegte mir sogar, ob es richtiger gewesen wäre, mein Gepäck zu holen und wieder in seine Wohnung zu fahren, so wie ich es zu ihm gesagt hatte. Ich meine, ich dachte darüber nach, daß er mich jedenfalls sehr freundlich aufgenommen hatte, auch wenn er vielleicht schwul war. Es hatte ihn gar nicht verstimmt, als ich ihn so spät anrief, und er hatte mich aufgefordert, ihn sofort zu besuchen, falls ich dazu Lust hätte. Dann hatte er sich wirklich Mühe gegeben, mir zu raten, daß man seine eigenen geistigen Möglichkeiten und so weiter kennenlernen müsse, und er war damals auch der einzige gewesen, der sich um diesen James Castle gekümmert hatte, als er tot auf der Treppe lag. An das alles dachte ich. Und je mehr ich darüber nachdachte, um so deprimierter wurde ich. Ich hätte vielleicht doch wieder in seine Wohnung gehen sollen. Vielleicht hatte er tatsächlich nur so zum Vergnügen meinen Kopf getätschelt. Jedenfalls fand ich es immer deprimierender und verwickelter, je länger ich darüber nachdachte. Außerdem taten mir die Augen höllisch weh. Sie brannten, weil ich so wenig geschlafen hatte. Und dazu bekam ich einen Schnupfen und hatte nicht einmal ein Taschentuch. In meinen Koffern waren noch ein paar frische, aber ich wollte die Koffer nicht aus dem Gepäckfach holen und sie vor allen Leuten auspacken.
Auf der Bank neben mir hatte jemand ein Magazin liegenlassen, und ich blätterte darin, weil ich dachte, daß ich dann Mr. Antolini und einen Haufen anderes Zeug wenigstens für kurze Zeit vergessen würde. Aber der erste blöde Artikel, den ich zu lesen anfing, machte es fast noch schlimmer. Er war über Hormone. Es wurde beschrieben, wie man aussehen sollte - das Gesicht und die Augen und alles -, wenn die Hormone intakt wären, und ich sah absolut nicht so aus. Auf mich paßte die Beschreibung von dem Kerl in dem Artikel, bei dem die Hormone nicht in Ordnung sind. Ich fing an, mir über meine Hormone Sorgen zu machen. Dann las ich einen Artikel darüber, wie man feststellen könne, ob man Krebs habe. Wenn man wunde Stellen im Mund habe, die nicht sofort heilen, hieß es, dann sei das ein Zeichen, daß man vermutlich Krebs habe. Und ich hatte ja seit gut zwei Wochen innen an der Lippe eine wunde Stelle. Deshalb vermutete ich, daß ich Krebs bekäme. Dieses Magazin war wirklich ein kleiner »Aufmunterer«. Schließlich legte ich es weg und ging spazieren. Ich dachte, daß ich wahrscheinlich in ein paar Monaten an Krebs sterben würde.
Ganz im Ernst. Ich war überzeugt davon. Das besserte meine Stimmung absolut nicht.
Draußen sah es so aus, als ob es bald regnen würde, aber ich machte trotzdem einen Spaziergang.
Erstens einmal dachte ich, daß ich irgend etwas frühstücken sollte. Ich hatte gar keinen Hunger, aber ich dachte, ich müßte doch wenigstens etwas essen. Wenigstens irgend etwas mit Vitaminen. Ich ging in östlicher Richtung, wo die billigen Restaurants sind, weil ich möglichst wenig Geld ausgeben wollte.
Auf dem Weg kam ich an zwei Burschen vorbei, die von einem Lastwagen einen großen Tannenbaum abluden. Der eine rief immer: »Heb den verdammten Hund doch höher! Halt ihn doch höher, Herrgott noch mal!« Das war wirklich eine herrliche Art, über einen Christbaum zu reden. Es klang schrecklich, aber dabei auch komisch, so daß ich lachen mußte.
Das war schlimm, denn sobald ich zu lachen anfing, hatte ich das Gefühl, daß ich mich übergeben müsse. Tatsächlich. Ich fing schon fast damit an, aber dann kam es doch nicht dazu. Ich weiß nicht warum. Ich meine, ich hatte ja nichts Unverdauliches oder so gegessen, und im allgemeinen habe ich einen sehr guten Magen. Jedenfalls ging es also vorbei, und ich dachte, wahrscheinlich würde es mir gut tun, etwas zu essen. Ich setzte mich also in ein sehr billig aussehendes Restaurant und bestellte Zuckersemmeln und Kaffee. Die Semmeln aß ich dann aber nicht. Ich hätte sie nicht gut schlucken können. Wenn man sehr deprimiert ist, kann man eben nicht mehr richtig schlucken. Der Kellner war aber sehr freundlich. Er nahm sie wieder weg und ließ mich nicht dafür bezahlen. Ich trank nur den Kaffee. Dann ging ich fort und machte mich auf den Weg zur Fifth Avenue.
Es war Montag, schon fast Weihnachten, und alle Geschäfte waren offen. Die Fifth Avenue machte keinen zu üblen Eindruck. Es war sogar recht weihnachtlich. Alle die verwahrlost aussehenden Nikolausmänner standen an den Straßenecken und läuteten mit ihren Glöckchen, und auch die Heilsarmeemädchen, die keinen Lippenstift und so weiter benutzen, läuteten mit Glöckchen. Ich hielt eigentlich immer Ausschau nach den beiden Nonnen, die ich am Sonntag beim Frühstück getroffen hatte, aber ich entdeckte sie nirgends. Ich wußte zwar, daß sie nicht auftauchen würden, weil sie mir ja gesagt hatten, daß sie als Lehrerinnen nach New York gekommen waren, aber ich suchte sie trotzdem fortwährend.
Jedenfalls war es also plötzlich ganz weihnachtsmäßig.
Millionen von kleinen Kindern waren mit ihren Müttern in der Stadt, stiegen aus Omnibussen oder kletterten hinein und drängten sich an den Geschäftseingängen. Ich hätte Phoebe gern dabeigehabt. Sie ist zwar nicht mehr so klein, daß sie in den Spielwarenabteilungen außer sich geriete, aber es macht ihr großen Spaß, so herumzustrolchen und die Leute anzuschauen.
Vorletztes Jahr nahm ich sie um diese Zeit zum Einkaufen mit.
Wir verbrachten einen tollen Nachmittag. Ich glaube, es war bei Bloomingdale.
Wir gingen in die Schuhabteilung und behaupteten, daß sie - die gute Phoebe - ein Paar von diesen hohen Schnürstiefeln brauche, die mindestens eine Million Ösen haben. Der arme Verkäufer wurde halb wahnsinnig. Phoebe probierte ungefähr zwanzig Paar Schuhe an, und der arme Teufel mußte jedes bis zuoberst zuschnüren. Es war ein gemeiner Streich, aber Phoebe war hingerissen. Schließlich kauften wir ein Paar Mokassins.
Der Verkäufer blieb sehr freundlich. Er bemerkte, glaube ich, daß wir nur Unsinn machten, weil Phoebe immer zu kichern anfängt.
Ich ging immer weiter und weiter die Fifth Avenue entlang ohne Krawatte und so. Plötzlich fing etwas Unheimliches an.
Jedesmal wenn ich eine Nebenstraße kreuzen mußte und von dem verdammten Randstein hinuntertrat, hatte ich das Gefühle, daß ich die andere Straßenseite nicht erreichen könne. Es war, als ob ich hinunter, hinunter, hinunter sinken müßte und mich kein Mensch je wieder sehen würde. Ich bekam einen schönen Schrecken. Niemand kann sich das vorstellen. Ich schwitzte wie ein Idiot - mein ganzes Hemd und die Wäsche und alles wurde tropfnaß. Dann fing ich an, bei jeder Kreuzung so zu tun, als ob ich mit meinem Bruder Allie spräche.
Ich sagte: »Allie, laß mich nicht verschwinden. Allie, laß mich nicht verschwinden. Bitte Allie.« Und wenn ich glücklich auf der andern Seite ankam, ohne zu verschwinden, würde ich ihm danken. Nach dem nächsten Häuserblock fing es wieder von vorne an. Aber ich ging doch weiter. Vermutlich fürchtete ich mich vor dem Stehenbleiben - ich erinnere mich nicht mehr genau, ehrlich gesagt. Aber ich weiß noch, daß ich noch fast bis zur Seventeenth Street und weit über den Zoo hinausging. Dann setzte ich mich auf eine Bank. Ich konnte kaum atmen und schwitzte blödsinnig. Dort blieb ich ungefähr eine Stunde lang sitzen, glaube ich. Schlußendlich beschloß ich, wirklich wegzugehen.
Ich wollte nie mehr nach Hause und nie mehr in eine Schule gehen. Nur Phoebe wollte ich noch einmal sehen und mich von ihr verabschieden und ihr das Geld zurückgeben, und dann wollte ich nach Westen trampen. Ich dachte, ich könnte zum Holland Tunnel gehen und mich dort von einem Auto mitnehmen lassen und dann vom nächsten und so weiter, bis ich nach ein paar Tagen irgendwo im Westen ankäme, wo es schön und sonnig wäre und mich niemand kennen würde. Dort fände ich sicher Arbeit in irgendeiner Tankstelle und könnte den Leuten Benzin und Öl in ihre Autos füllen, dachte ich. Es war mir auch gleichgültig, welche Art von Arbeit ich finden würde.
Wenn mich nur niemand kannte und ich auch keinen Menschen kannte. Ich dachte mir aus, daß ich mich taubstumm stellen würde. Auf diese Weise brauchte ich keine verdammten, blöden, nutzlosen Gespräche mit irgend jemand zu führen. Falls jemand mir etwas mitzuteilen hatte, mußte er es eben auf einen Zettel schreiben. Das würde die Leute bald langweilen, dachte ich, und dann hätte ich für den Rest meines Lebens alle Gespräche hinter mir. Alle würden mich für einen armen taubstummen Hund halten und mich in Ruhe lassen. Ich müßte nur Benzin und Öl in ihre blöden Autos füllen und bekäme ein Gehalt dafür, und von dem verdienten Geld würde ich mir irgendwo eine kleine Blockhütte bauen und dort für den Rest meines Lebens bleiben.
Die Hütte müßte am Waldrand stehen, aber nicht im Wald drinnen, damit sie immer ganz sonnig wäre. Ich würde mir selber kochen, und später, falls ich heiraten wollte oder so, würde mir dieses schöne Mädchen begegnen, ebenfalls eine Taubstumme, und wir würden heiraten. Sie würde zu mir in die Blockhütte ziehen, und wenn sie mir etwas zu sagen hätte, müßte sie es auf einen verdammten Zettel schreiben, so wie alle andern auch. Falls wir Kinder bekämen, würden wir sie irgendwo verstecken. Wir könnten ihnen viele Bücher kaufen und sie selber Lesen und Schreiben lehren.
Diese Vorstellung erregte mich. Im Ernst. Ich wußte zwar, daß der Punkt mit der angeblichen Taubstummheit verrückt war, aber die Vorstellung gefiel mir doch sehr. Jedenfalls war ich entschlossen, nach dem Westen zu fahren. Ich wollte mich nur vorher noch von Phoebe verabschieden, sonst nichts. Deshalb rannte ich plötzlich wie besessen über die Straße - ich wurde dabei fast überfahren, falls das jemand interessiert - und kaufte in einem Schreibwarengeschäft einen Notizblock und einen Bleistift. Ich wollte Phoebe schreiben, wo sie mich treffen solle, damit ich mich von ihr verabschieden und ihr das Weihnachtsgeld zurückgeben könne, und dann wollte ich mit dem Blatt in die Schule gehen und jemanden im Büro bitten, es ihr zu geben. Vorläufig steckte ich Notizblock und Bleistift nur in die Tasche und lief so schnell ich konnte in ihre Schule. Ich war zu aufgeregt, um die Nachricht schon in dem Geschäft zu schreiben. Ich beeilte mich deshalb so, weil sie meine Botschaft bekommen sollte, bevor sie zum Essen heimging, und es war schon ziemlich spät.
Natürlich wußte ich, wo die Schule war, weil ich selber früher auch dorthin gegangen war. Als ich hinkam, hatte ich ein komisches Gefühl. Ich war nicht sicher gewesen, ob ich mich noch an alles erinnerte, aber tatsächlich hatte sich nichts verändert. Es war noch genau so wie damals. Innen lag der große Hof, in dem es immer dunkel war, und die Lampen waren mit einem Gitter geschützt, damit sie nicht in Stücke gingen, wenn ein Ball dagegen flog. Auf dem Boden waren immer noch die gleichen weißen Kreise für Spiele und so, und die gleichen Korbballringe ohne Netze daran, nur die Bretter mit den Ringen.
Ich sah keinen Menschen, vermutlich weil die große Pause vorbei war und die Mittagspause noch nicht angefangen hatte.
Nur ein kleiner Negerjunge begegnete mir auf dem Weg zu den Toiletten. In seiner Hüfttasche steckte eine Art Passierschein aus Holz, genau wie wir ihn damals gehabt hatten, zum Zeichen, daß man mit Erlaubnis der Lehrerin auf die Toilette ging. Ich schwitzte immer noch, aber nicht mehr ganz so stark. Ich setzte mich im Gang auf die unterste Treppenstufe und zog den Notizblock heraus. Die Treppe roch noch genau wie früher, so als ob einer draufgepinkelt hätte.
Diese Schulhaustreppen haben immer diesen Geruch. Ich schrieb:

Liebe Phoebe,
ich kann doch nicht mehr bis Mittwoch warten, und wahrscheinlich mache ich mich heute nachmittag auf den Weg nach Westen. Warte um Viertel nach zwölf an der Tür vom Kunstmuseum auf mich, wenn Du kannst; dann gebe ich Dir Dein Weihnachtsgeld zurück. Ich habe nicht viel ausgegeben.
Viele Grüße Holden

Die Schule war ganz nah beim Museum, und da Phoebe auf dem Heimweg ohnedies daran vorbeikam, wußte ich, daß sie mich leicht dort treffen konnte.
Dann ging ich die Treppe hinauf zum Rektorzimmer, um das Blatt jemandem zu geben, der es Phoebe in ihr Klassenzimmer bringen konnte. Ich faltete es mindestens zehnmal, damit es niemand aufmachte. In diesen elenden Schulen kann man keinem trauen. Aber wenn sie hörten, daß ich ihr Bruder war, gaben sie es sicher weiter.
Während ich die Treppe hinaufging, hatte ich plötzlich wieder das Gefühl, daß ich mich übergeben müßte. Aber es kam wieder nicht dazu. Ich setzte mich einen Augenblick, und daraufhin wurde es mir besser. Aber als ich dort saß, sah ich etwas, das mich verrückt machte. Jemand hatte "dich..." an die Wand geschrieben. Das machte mich wirklich fast verrückt. Ich stellte mir vor, wie Phoebe und alle die andern Kinder es lesen und darüber nachdenken würden, was es bedeutete, bis es ihnen schließlich irgendein kleiner Schmutzfink erklärte - natürlich ganz verzerrt. Und dann würden sie erst recht darüber nachdenken und vielleicht sogar ein paar Tage lang bedrückt sein. Ich hätte den Urheber gerne umgebracht. Vermutlich war es irgendein perverser Strolch, der sich abends oder nachts in die Schule geschlichen hatte, um dort zu pinkeln. Ich malte mir aus, wie ich ihn dabei erwischen und ihm den Kopf solange auf die Steintreppe schlagen würde, bis er blutüberströmt und tot und fertig wäre, verflucht noch mal. Aber ich wußte gleichzeitig, daß ich den Mut dazu nicht hätte. Ich wußte es genau! Das deprimierte mich noch mehr. Ich hatte sogar kaum den Mut, das Wort mit der Hand wegzureiben, falls jemand die Wahrheit wissen will. Ich hatte Angst, daß mich jemand dabei überraschen könnte und dann denken würde, ich hätte es selber geschrieben.
Immerhin rieb ich es schließlich trotzdem aus. Dann ging ich in das Rektorzimmer.
Die Vorsteherin war offenbar nicht da, aber eine ungefähr hundertjährige Dame saß an der Schreibmaschine. Ich sagte, ich sei Phoebe Caulfields Bruder, Klasse 46-1, und bat sie, doch bitte Phoebe meinen Zettel zu geben. Es sei sehr wichtig, weil meine Mutter krank sei und nicht für das Mittagessen sorgen könne, und Phoebe müsse mich deshalb zum Lunch in einem Restaurant treffen.
Die alte Dame war sehr freundlich. Sie nahm den Zettel und rief ein Fräulein aus dem Büro, worauf dieses Fräulein mit dem Zettel fortging. Dann schwätzte ich ein bißchen mit der hundertjährigen Dame. Sie war wirklich sehr nett, und ich sagte, daß sowohl ich wie meine Brüder hier in die Schule gegangen seien. Sie fragte, in welcher Schule ich denn jetzt sei, und als ich Pencey nannte, sagte sie, das sei eine ausgezeichnete Schule.
Selbst wenn es mir wichtig gewesen wäre, hätte ich nicht die Kraft gehabt, ihr das auszureden. Außerdem sollte sie Pencey ruhig für eine ausgezeichnete Schule halten, wenn das ihre Ansicht war. Ich sage hundertjährigen Leuten lieber nichts Neues. Sie hören es doch nicht gern. Nach ein paar Minuten ging ich weg. Komisch, sie schrie mir »Viel Glück!« nach, genau wie der alte Spencer, als ich mich in Pencey von ihm verabschiedete. Großer Gott, ich kann das nicht ausstehen, wenn mir jemand »Viel Glück!« nachschreit. Ich finde es deprimierend.
Ich ging über eine andere Treppe hinunter und sah wieder "dich..." an der Wand. Ich wollte es wieder mit der Hand wegreiben, aber diesmal war es mit einem Messer oder was weiß ich in die Wand gekratzt. Man konnte es nicht wegreiben.
Es ist ohnedies hoffnungslos. Auch wenn man tausend Jahre Zeit hätte, könnte man nicht die Hälfte von all den "dich..." auf der Welt zum Verschwinden bringen. Ganz unmöglich.
Auf der Uhr im Hof war es erst zwanzig vor zwölf. Es blieb mir also noch viel Zeit totzuschlagen, bevor Phoebe kommen konnte. Ich ging zum Museum hinüber. Ich wußte nicht, wohin ich sonst hätte gehen sollen. Ich dachte, ich könnte vielleicht in einer Telefonkabine noch Jane Gallagher anrufen, bevor ich nach Westen fuhr, aber ich war nicht in der richtigen Stimmung.
Außerdem wußte ich auch gar nicht sicher, ob sie schon zu Hause war. Ich ging also nur ins Museum und lungerte dort herum.
Während ich drinnen am Eingang wartete, kamen zwei kleine Jungen und fragten mich, wo die Mumien seien. Der eine - der mich fragte - hatte seine Hosen offen. Ich sagte es ihm.
Daraufhin knöpfte er sie sofort vor mir zu - er fand es nicht einmal nötig, sich hinter einen Pfeiler oder so zu stellen.
Furchtbar komisch. Ich hätte gern gelacht, aber ich hatte Angst, daß es mir dann wieder übel würde. »Wo sind die Mumien, du?« fragte er noch einmal. »Weißt du das?«
Ich neckte die beiden ein bißchen. »Die Mumien? Was ist das?« fragte ich.
»Weißt du, die Mumien - die, die tot sind. Die in der Kluft begraben sind.« Kluft, das warf mich um.
Er meinte Gruft.
»Warum seid ihr beide nicht in der Schule?« fragte ich.
»Wir haben heute keine Schule«, sagte der Wortführer. Er log so sicher, wie ich am Leben bin, der kleine Gauner. Weil ich nichts zu tun hatte, bis Phoebe kommen konnte, suchte ich mit ihnen die Mumien. Herrgott, ich hatte doch früher genau gewußt, wo sie waren, aber ich war seit Ewigkeiten nicht mehr im Museum gewesen.
»Interessiert ihr euch denn so für Mumien?« sagte ich.
»Ja.«
»Kann dein Freund nicht reden?«
»Er ist nicht mein Freund. Er ist mein Bruder.«
»Kann er nicht reden?« Dabei schaute ich den andern an, der nie ein Wort von sich gab. »Kannst du nicht reden?« fragte ich.
»Doch«, sagte er. »Hab aber keine Lust.«
Schließlich fanden wir den Raum, wo die Mumien sind, und gingen hinein.
»Weißt du, wie die Ägypter ihre Toten begraben haben?« fragte ich den einen.
»Nein.«
»So, es ist aber sehr interessant. Sie haben ihnen das Gesicht in Tücher gewickelt, die mit irgendwelchen chemischen Geheimmitteln durchtränkt waren. Auf diese Weise konnten sie tausend Jahre in den Gräbern liegen, ohne daß sie verwesten und so. Niemand weiß, wie man das machen muß, nur die Ägypter. Nicht einmal die modernen Wissenschaftler.«
Zu den Mumien führte ein schmaler Gang mit Steinplatten an den Wänden, die direkt aus einem Pharaonengrab stammten. Es war ziemlich unheimlich, und wahrscheinlich gefiel es den beiden Helden nicht übermäßig. Sie hielten sich auffallend nah an mich, und der eine, der nie etwas sagte, packte mich sogar am Ärmel. »Komm, wir gehn«, sagte er zu seinem Bruder. »Ich hab sie schon gesehen. Komm doch, he.« Er machte kehrt und lief weg.
»Der hat es aber mit der Angst bekommen!« sagte der andere und lief ebenfalls weg.
Ich blieb also allein in dem Grab zurück. Es gefiel mir irgendwie. Es war so schön friedlich. Aber niemand kann sich vorstellen, was ich plötzlich an der Wand sah. Wieder ein "dich...". Jemand hatte es mit einem roten Stift unter den Steinplatten, also unter den Glasscheiben an die Mauer geschmiert.
Das ist es eben. Man kann nirgends einen friedlichen Ort finden, weil es keinen gibt. Manchmal weint man, es gebe einen, aber wenn man hinkommt, und an nichts dergleichen denkt, schmiert einem jemand "dich..." direkt vor die Nase. Ich glaube, wenn ich jemals sterbe und sie mich auch auf einen Friedhof schleppen und mir einen Grabstein und so hinsetzen, wird »Holden Caulfield« daraufstehen und die Jahreszahl, wann ich geboren wurde und gestorben bin, und darunter schreibt dann sicher jemand "dich...". Davon bin ich überzeugt.
Als ich aus dem Mumienraum kam, mußte ich in die Toilette.
Weil ich so eine Art Durchfall hatte, falls jemand die ganze Wahrheit wissen will. Der Durchfall war mir ziemlich gleichgültig, aber als ich aus der Toilette kam, wurde ich gerade vor der Tür ohnmächtig. Dabei hatte ich noch Glück, ich meine, ich hätte mir ja beim Umfallen den Hals brechen können, aber ich landete nur auf der Seite.
Komischerweise war es mir nachher besser. Tatsächlich. Der Arm tat mir zwar etwas weh, aber ich war nicht mehr so schwindlig.
Unterdessen war es ungefähr zehn nach zwölf. Ich ging also wieder an die Tür und wartete auf Phoebe. Ich dachte, daß ich sie jetzt vielleicht zum letztenmal sehen würde. Ich meine, ich stellte mir vor, daß ich meine Verwandten zwar irgendwann wiedersehen würde, aber sicher viele Jahre lang nicht. Vielleicht käme ich zurück, wenn ich fünfunddreißig oder so wäre, dachte ich, falls jemand krank würde und mich vor seinem Tod noch einmal sehen wollte, aber jedenfalls würde ich meine Blockhütte nur aus diesem einzigen Grund verlassen. Ich malte mir sogar meine Rückkehr aus.
Meine Mutter wäre natürlich wahnsinnig aufgeregt und würde weinen und mich bitten, daß ich dableiben und nicht wieder in meine Blockhütte gehen solle, aber ich ginge trotzdem fort. Ich wäre ganz kühl und gelassen. Ich würde sie beruhigen und dann im Wohnzimmer an den Tisch gehen und mir eine Zigarette aus der Schachtel nehmen, ganz kühl und gelassen. Ich würde sie alle zwar auffordern, mich gelegentlich zu besuchen, aber bestehen würde ich nicht darauf. Nur die gute alte Phoebe ließe ich in den Sommerferien und Weihnachtsferien und Osterferien zu mir kommen. Und auch D.B. dürfte eine Zeitlang kommen, wenn er einen schönen, friedlichen Ort zum Schreiben brauchte, aber Filme dürfte er in meiner Hütte nicht schreiben, sondern nur Erzählungen und Bücher.
Es wäre mein Gesetz, daß niemand, der mich besuchte, etwas Verlogenes tun dürfte. Falls jemand etwas Verlogenes tun wollte, könnte er nicht bei mir bleiben.
Plötzlich schaute ich auf die Uhr über der Garderobe und sah, daß es fünfundzwanzig vor eins war.
Ich bekam Angst, daß die alte Dame in der Schule vielleicht dem andern Fräulein gesagt haben könne, man solle Phoebe meinen Zettel nicht geben. Vielleicht hatten sie ihn verbrannt oder so. Ich bekam wirklich eine Heidenangst. Ich wollte Phoebe unbedingt sehen, bevor ich mich auf den Weg machte.
Ich hatte ja noch ihr Weihnachtsgeld und alles.
Endlich kam sie doch. Ich sah sie durch die Glastür. Ich erkannte sie von weitem, weil sie meine verrückte Jagdmütze auf dem Kopf hatte - die rote Farbe sah man meilenweit. Ich machte die Tür auf und ging ihr über die Steintreppe hinunter entgegen. Ich verstand nur nicht, warum sie einen großen Koffer mitbrachte. Sie kreuzte gerade die Fifth Avenue und schleppte dabei diesen verdammten großen Koller. Sie konnte ihn kaum tragen. Im Näherkommen sah ich, daß es mein eigener alter Koffer war, den ich früher in Whooton gehabt hatte. Ich konnte mir absolut nicht vorstellen, was sie damit wollte. »Hi«, sagte sie, als wir voreinander standen. Sie war von diesem blöden Koffer ganz außer Atem.
»Ich hatte schon gemeint, daß du vielleicht gar nicht kommst«, sagte ich. »Was zum Teufel ist denn da drin? Ich brauche nichts. Ich gehe so fort, wie ich bin. Ich hole nicht einmal die Koffer am Bahnhof. Was zum Teufel hast du da drin?«
Sie stellte den Koffer auf den Boden. »Meine Kleider«, sagte sie. »Ich geh mit. Darf ich? O.K.?«
»Was?« sagte ich. Ich fiel fast um, als sie das sagte. Ganz im Ernst, das schwöre ich. Ich wurde wieder schwindlig und dachte, ich fiele wieder ohnmächtig um oder was weiß ich.
»Ich bin im Nebenlift hinuntergefahren, damit Charlene mich nicht sieht. Er ist gar nicht schwer. Ich hab nur zwei Kleider und meine Mokassins drin und Wäsche und Socken und noch ein paar Sachen. Versuch, gar nicht schwer. Heb ihn einmal... Kann ich nicht mit? Holden? Darf ich nicht? Bitte.«
»Nein. Halt die Klappe.«
Ich dachte, ich würde ohnmächtig. Ich meine, ich wollte ihr eigentlich nicht sagen, daß sie die Klappe halten solle, aber ich dachte eben, daß ich wieder ohnmächtig würde.
»Warum nicht? Bitte, Holden! Ich tu gar nichts - ich will nur mit dir fort, sonst nichts! Ich nehm auch die Kleider nicht mit, wenn du nicht willst - ich nehm nur meine -«
»Du nimmst überhaupt nichts mit. Weil du überhaupt nicht mitkommst. Ich geh allein weg. Also schweig jetzt.«
»Bitte, Holden, bitte laß mich mit. Ich bin sicher ganz ganz - du brauchst gar nicht -«
»Du gehst aber nicht mit. Schweig jetzt! Gib mir den Koffer«, sagte ich. Ich nahm ihn ihr ab. Beinah hätte ich ihr eine Ohrfeige gegeben. Ein paar Sekunden lang dachte ich tatsächlich, ich würde ihr eine geben. Ganz im Ernst.
Sie fing an zu heulen.
»Ich hab gemeint, daß du in einer Schüleraufführung mitspielen sollst. Ich hab gemeint, daß du in dem Stück den Benedict Arnold spielen sollst!« sagte ich. Das sagte ich sehr grob. »Was bildest du dir eigentlich ein? Daß du einfach nicht in dem Stück spielst, Herrgott noch mal?« Daraufhin weinte sie erst recht. Das freute mich nur. Ich wollte plötzlich, daß sie nur heulen möge, bis ihr die Augen aus dem Kopf fielen. Ich hatte beinah einen Haß gegen sie. Am meisten war ich wohl darüber wütend, daß sie nicht mehr in dem Stück mitspielen konnte, wenn sie mit mir wegging.
»Komm jetzt«, sagte ich und stieg wieder die Treppe zum Museum hinauf. Ich wollte den blöden Koffer in der Garderobe abgeben, dann konnte sie ihn um drei Uhr nach der Schule wieder holen.
In die Schule konnte sie ihn ja nicht mitschleppen. »Komm, vorwärts«, sagte ich.
Sie ging aber nicht mit mir die Stufen hinauf. Sie wollte nicht.
Ich ging trotzdem in die Garderobe und gab den Koffer ab und kam wieder zurück. Sie stand immer noch auf dem Trottoir, aber als ich zu ihr kam, drehte sie mir den Rücken zu. Zu so etwas ist sie imstande. Sie kann sich einfach umdrehen, wenn sie in der Stimmung ist.
»Ich gehe überhaupt nirgends hin«, sagte ich. »Ich hab's mir anders überlegt. Hör also auf zu heulen und schweig.« Dabei heulte sie gar nicht. Ich sagte es aber trotzdem. »Komm jetzt, ich bring dich wieder in die Schule. Komm jetzt. Du kommst noch zu spät.«
Sie gab keine Antwort. Ich versuchte ihre Hand zu nehmen, aber sie wollte nicht. Sie drehte sich immer nur von mir weg.
»Hast du denn gegessen? Sag, hast du gegessen?« fragte ich.
Sie wollte nicht antworten. Statt dessen nahm sie nur die rote Jagdmütze ab - die ich ihr geschenkt hatte - und warf sie mir mitten ins Gesicht. Dann drehte sie mir den Rücken zu. Das gab mir fast den Rest, aber ich sagte nichts. Ich hob die Mütze auf und steckte sie in meine Tasche.
»Komm, he du. Ich bring dich in die Schule.«
»Ich geh aber nicht in die Schule.«
Ich wußte nicht mehr, was ich darauf antworten sollte. Ich blieb ein paar Minuten so stehen.
»Du mußt aber in die Schule. Du willst doch im Stück mitspielen? Du willst doch den Benedict Arnold spielen?«
»Nein.«
»Doch, natürlich. Ganz sicher. Komm, wir gehn«, sagte ich. »Erstens geh ich überhaupt nicht fort, das hab ich dir schon gesagt. Ich geh heim. Ich geh heim, sobald du in der Schule bist. Zuerst hol ich am Bahnhof meine Koffer und dann geh ich sofort-«
»Ich geh aber nicht in die Schule, hab ich gesagt. Du kannst machen, was du willst, aber ich geh nicht in die Schule«, sagte sie. »Also halt die Klappe.« Sie hatte noch nie "halt die Klappe" zu mir gesagt. Es klang schrecklich. Großer Gott, wirklich schrecklich. Viel schlimmer als Fluchen.
Anschauen wollte sie mich immer noch nicht, und wenn ich ihr die Hand auf die Schulter legen wollte oder so, wich sie mir jedesmal aus.
»Hör, willst du mit mir spazierengehn?« fragte ich. »Sollen wir zum Zoo gehen? Wenn ich einverstanden bin, daß du heut nachmittag nicht in die Schule gehst und einen Spaziergang mit mir machst, willst du dann mit dem Blödsinn aufhören?«
Da sie nicht antwortete, sagte ich es noch einmal. »Wenn ich dich heut nachmittag die Schule schwänzen lasse und einen kleinen Spaziergang mit dir mache, hörst du dann mit dem Blödsinn auf? Gehst du dann morgen wieder wie ein braves Mädchen in die Schule?«
»Vielleicht, aber vielleicht auch nicht«, sagte sie. Dann rannte sie plötzlich wild auf die Straße, ohne überhaupt auf die Autos achtzugeben. Manchmal ist sie verrückt.
Ich lief ihr aber nicht nach. Ich wußte, daß sie hinter mir hergehen würde, und machte mich deshalb auf der Parkseite auf den Weg zum Zoo, und sie ging auf der verdammten andern Straßenseite in der gleichen Richtung. Sie schaute nie zu mir herüber, aber ich merkte, daß sie mich vermutlich aus ihrem verrückten Augenwinkel beobachtete. Jedenfalls gingen wir auf diese Weise die ganze Strecke zum Zoo. Nur einmal wurde ich unruhig - als nämlich ein zweistöckiger Omnibus daherkam und ich eine Weile lang nicht mehr sehen konnte, wo zum Teufel sie war. Beim Zoo schrie ich zu ihr hinüber: »Phoebe! Ich geh in den Zoo! Komm jetzt!« Sie wollte mich nicht anschauen, aber offenbar hatte sie mich doch gehört, denn als ich mich oben an der Treppe, die zum Zoo hinunterführt, wieder nach ihr umdrehte, sah ich sie die Straße kreuzen und mir nachgehen.
Im Zoo waren nicht viele Leute, weil ziemlich schlechtes Wetter war, aber ein paar standen bei den Seelöwen am Schwimmbassin. Ich ging vorbei, aber da die gute Phoebe stehenblieb und so tat, als müßte sie die Fütterung sehen - ein Wärter warf den Seelöwen Fische zu -, drehte ich wieder um.
Ich hielt das für eine gute Gelegenheit, um wieder mit ihr ins reine zu kommen. Ich stellte mich hinter sie und legte ihr beide Hände auf die Schultern, aber sie machte eine Kniebeuge und schlüpfte mir weg - ich habe schon gesagt, daß sie sich manchmal ziemlich rotzig benehmen kann, wenn sie in der Stimmung ist. Sie blieb weiter dort stehen, während die Seelöwen gefüttert wurden, und ich stand hinter ihr. Ich legte ihr nicht mehr die Hände auf die Schultern oder so, weil sie mir sonst wirklich davongerannt wäre. Kinder sind komisch. Man muß sehr achtgeben, was man tut.
Als wir von den Seelöwen weggingen, wollte sie zwar immer noch nicht neben mir hergehen, aber sie hielt sich in weniger großer Entfernung. Sie ging auf dem einen Trottoir und ich auf dem andern.
Das war nicht überwältigend, aber doch besser als ein Kilometer Abstand wie vorher. Dann sahen wir uns auf der kleinen Anhöhe die Bären an, obwohl es da nicht viel zu sehen gab. Nur ein einziger Bär war draußen - der Eisbär. Der braune saß in seiner verdammten Höhle und wollte sich nicht zeigen.
Man sah nur sein Hinterteil. Ein kleiner Junge neben mir, dem ein Cowboyhut tief über den Ohren saß, sagte fortwährend zu seinem Vater: »Mach, daß er herauskommt! Mach doch, daß er herauskommt!« Ich schaute Phoebe an, aber sie wollte nicht lachen. Kinder wollen ja nie lachen oder so, wenn sie beleidigt sind.
Nach den Bären gingen wir aus dem Zoo hinaus und kreuzten eine Straße zum Park hinüber und gingen dann durch eine Unterführung, die genau so nach Pinkel roch wie alle diese Unterführungen.
Es war der Weg zum Karussell. Phoebe wollte immer noch nicht mit mir reden, aber sie lief jetzt neben mir her. Ich griff nach dem Gürtel hinten an ihrem Mantel, einfach nur so zum Vergnügen, aber das wollte sie nicht haben. Sie sagte: »Behalt deine Hände bei dir, falls dir das möglich ist.« Sie war immer noch beleidigt. Aber nicht mehr so sehr wie vorher. Wir kamen immer näher zum Karussell, man hörte schon die blöde Musik, die offenbar dazugehört. Es war: O Marie! Das gleiche Lied hatten sie schon vor fünfzig Jahren gespielt, als ich selber noch ein Kind war. Das ist nett an den Karussells, daß sie immer dasselbe spielen.
»Ich dachte, das Karussell sei im Winter zu«, sagte Phoebe.
Das war das erste Mal, daß sie wirklich etwas sagte.
Wahrscheinlich hatte sie vergessen, daß sie beleidigt war.
»Vielleicht wegen Weihnachten«, sagte ich.
Darauf antwortete sie nicht. Wahrscheinlich war ihr wieder eingefallen, daß sie beleidigt war.
»Willst du Karussell fahren?« fragte ich. Ich wußte, daß sie sicher große Lust hatte. Als sie noch klein war und Allie und D.B. und ich sie oft in den Park mitnahmen, war sie ganz versessen darauf.
Man konnte sie kaum mehr von dem verdammten Karussell wegkriegen.
Ich hatte erwartet, daß sie nicht antworten würde, aber sie sagte: »Ich bin zu groß dafür.«
»Nein, gar nicht. Geh doch. Ich warte hier auf dich. Geh doch«, sagte ich. Wir standen jetzt davor.
Ein paar Kinder saßen darauf, zum größten Teil noch sehr kleine, und ein paar Eltern warteten in der Nähe, auf den Bänken und so. Ich ging zum Schalter, wo man Karten bekommt, und kaufte eine für Phoebe. Dann gab ich sie ihr. Sie stand dicht neben mir. »Da«, sagte ich. »Wart noch - da, nimm auch den Rest von deinem Geld wieder.« Dabei gab ich ihr das Geld, das sie mir geliehen hatte.
»Behalt du's. Behalt du's für mich«, sagte sie. Und dann hängte sie an: »- bitte.«
Das ist deprimierend, wenn jemand »bitte« zu einem sagt. Ich meine, wenn es Phoebe oder so jemand ist. Es deprimierte mich wahnsinnig. Aber ich steckte also das Geld in die Tasche.
»Willst du nicht auch fahren?« fragte sie. Dabei schaute sie mich irgendwie komisch an. Offenbar war sie nicht mehr so beleidigt.
»Vielleicht das nächste Mal. Ich schau dir zu«, sagte ich.
»Hast du die Karte?«
»Ja.«
»Dann los - ich setz mich da auf die Bank. Ich schau dir zu.«
Ich setzte mich auf eine Bank, und sie lief zum Karussell und stieg hinauf. Zuerst ging sie um das ganze Karussell herum.
Dann wählte sie ein großes braunes, sehr abgeschabtes altes Pferd. Als das Karussell sich zu drehen anfing, sah ich ihr zu, wie sie herumfuhr. Es saßen nur fünf oder sechs andere Kinder oben, und das Karussell spielte Smoke Gets in Your Eyes, aber sehr auf Jazz und komisch. Die Kinder versuchten alle den goldenen Ring zu erwischen, auch Phoebe, und ich hatte manchmal Angst, daß sie von dem blöden Pferd fallen würde, aber ich sagte nichts und unternahm nichts. Wenn die Kinder den goldenen Ring erwischen wollen, muß man es sie versuchen lassen und nichts sagen. Wenn sie herunterfallen, dann fallen sie eben in Gottes Namen, aber man darf nichts zu ihnen sagen.
Als das Karussell stillstand, sprang sie von ihrem Pferd und kam zu mir.
»Fahr auch einmal«, sagte sie.
»Nein, ich schau dir nur zu. Ich glaube, ich schau dir nur zu«, sagte ich. Ich gab ihr wieder etwas von ihrem Geld. »Da, kauf dir noch ein paar Karten.«
Sie nahm das Geld. »Ich bin dir nicht mehr böse«, sagte sie.
»Ich weiß. Eil dich - es geht schon gleich wieder los.«
Dann gab sie mir plötzlich einen Kuß. Dann streckte sie die Hand aus und sagte: »Es regnet. Es fängt an zu regnen.«
»Ich weiß.«
Dann - es warf mich fast um - griff sie in meine Manteltasche und zog meine Jagdmütze heraus und setzte sie mir auf.
»Willst du sie denn nicht?«
»Du kannst sie eine Zeitlang tragen.«
»Schön. Aber lauf jetzt schnell. Du versäumst sonst noch den Anfang. Du bekommst sonst dein Pferd nicht mehr.« Sie zögerte aber noch.
»Hast du das vorhin im Ernst gesagt? Gehst du wirklich nicht fort? Gehst du wirklich nachher heim?« fragte sie.
»Ja«, sagte ich. Es war mir auch wirklich ernst. Ich hätte sie nicht angelogen. Ich bin nachher tatsächlich nach Hause gegangen. »Schnell, los jetzt«, sagte ich. »Das Ding geht los.«
Sie rannte weg und kaufte ihre Karte und kam gerade noch rechtzeitig auf das verdammte Karussell. Oben lief sie um das Ganze herum, bis sie wieder ihr Pferd gefunden hatte. Dann stieg sie auf und winkte, und ich winkte ihr auch. Es fing wie aus Kübeln an zu regnen. Wirklich aus Kübeln, das schwöre ich. Sämtliche Eltern und Mütter und alle rannten zum Karussell und stellten sich dort unter das Dach, um nicht bis auf die Haut durchnäßt zu werden, aber ich blieb noch auf meiner Bank sitzen. Ich wurde durch und durch naß, besonders hinten am Hals und an den Beinen. Die Jagdmütze war ein guter Schutz, aber ich wurde doch sehr naß. Es war mir allerdings gleichgültig. Ich war plötzlich so verflucht glücklich, weil Phoebe immer im Kreis herum fuhr. Ich hätte beinah geheult, so verflucht glücklich war ich, falls das jemand interessiert. Ich weiß nicht warum. Einfach weil sie so verdammt nett aussah, während sie dort herumfuhr - in ihrem blauen Mantel und allem. Großer Gott, so was muß man gesehen haben.