22. Kapitel
Ich telefonierte nur ganz kurz, weil ich Angst
hatte, daß meine Eltern mitten in das Gespräch hereinplatzen
könnten. Sie kamen aber nicht. Mr. Antolini war sehr freundlich. Er
sagte, ich könne jetzt sofort zu ihm kommen, falls ich Lust hätte.
Offenbar hatte ich ihn und seine Frau geweckt, denn es dauerte
höllisch lang, bis sie ans Telefon kamen. Als erstes fragte er, ob
etwas schiefgegangen sei, und ich sagte, nein, gar nichts, ich sei
allerdings von Pencey geflogen. Ich dachte, ich könnte ihm das
ebensogut gleich erzählen. Er antwortete darauf: »Du lieber
Himmel.« Er hatte viel Humor und so. Er sagte, ich solle nur gleich
kommen, wenn ich wolle.
Er war wohl der beste von allen meinen Lehrern gewesen. Mr. Antolini war noch ziemlich jung, nicht viel älter als mein Bruder D.B., und man konnte mit ihm Unsinn machen, ohne den Respekt für ihn zu verlieren. Er war auch derjenige gewesen, der damals diesen James Castle endlich aufhob, nachdem er aus dem Fenster gesprungen war. Mr. Antolini fühlte ihm den Puls und so weiter, und dann zog er seine Jacke aus und legte sie über James Castle und trug ihn den ganzen Weg in die Krankenabteilung. Er kümmerte sich überhaupt nicht darum, daß seine Jacke ganz blutig wurde.
Als ich wieder in D.B.s Zimmer kam, hatte Phoebe das Radio angedreht. Tanzmusik. Sie hatte es ganz leise eingestellt, damit das Dienstmädchen nichts davon hörte. Man muß sie gesehen haben. Sie saß ohne Decken mitten im Bett und hatte die Beine wie ein Yogi untergeschlagen. Sie hörte der Musik zu. Sie kann mich umwerfen.
»Komm«, sagte ich, »willst du tanzen?« Ich hatte es ihr schon beigebracht, als sie noch ganz klein war. Sie tanzt sehr gut. Das meiste hat sie zwar von selbst gelernt, nicht von mir. Man kann niemandem beibringen, wie man wirklich gut tanzt.
»Du hast Schuhe an«, sagte sie.
»Ich zieh sie aus. Komm.«
Sie sprang mit einem großen Satz aus dem Bett und wartete, bis ich die Schuhe ausgezogen hatte, und dann fingen wir an. Sie tanzt wirklich verdammt gut. Ich sehe es im allgemeinen nicht gern, wenn Erwachsene mit Kindern tanzen, weil es meistens schrecklich aussieht. Wenn zum Beispiel irgendein alter Esel in einem Restaurant mit seinem Kind tanzt. Meistens ziehen sie aus Versehen so einem kleinen Mädchen das Kleid hinten in die Höhe, und das Kind kann überhaupt nicht tanzen, und das Ganze sieht schrecklich aus, aber mit Phoebe tanze ich nie vor Publikum. Wir tun es nur zu Hause.
Aber mit ihr ist es ohnedies etwas anderes, weil sie wirklich tanzen kann. Sie paßt sich allen Bewegungen an. Man muß sie nur ganz nah halten, damit es nicht stört, daß man viel längere Beine hat. Sie folgt allen Schritten. Man kann sogar ein bißchen Jitterbug mit ihr tanzen oder Tango, tatsächlich.
Wir tanzten ungefähr viermal. In den Pausen ist sie furchtbar komisch. Sie bleibt in Tanzstellung stehen und will nicht einmal sprechen. Auch man selber muß genauso stehenbleiben und warten, bis das Orchester weiterspielt. Das wirft mich um. Man darf auch nicht lachen oder so.
Nach vier Tänzen drehte ich das Radio ab. Phoebe hopste wieder ins Bett und schlüpfte unter die Decke. »Ich mache Fortschritte, nicht wahr?« fragte sie.
»Und wie«, sagte ich. Dann setzte ich mich wieder auf den Bettrand. Ich war sozusagen außer Atem. Ich hatte so viel geraucht, daß ich fast keine Luft mehr bekam. Phoebe war überhaupt nicht außer Atem.
»Fühl meine Stirn«, sagte sie plötzlich.
»Warum?«
»Fühl. Nur ganz schnell.« Ich legte die Hand an ihre Stirn. Ich fühlte aber weiter nichts Besonderes.
»Ist sie fiebrig?« fragte sie.
»Nein. Sollte sie das sein?«
»Ja - ich mach es absichtlich. Fühl noch mal.«
Ich versuchte es wieder und fühlte immer noch nichts, aber ich sagte: »Doch, ich glaube, es fängt an.« Ich wollte nicht, daß sie einen verdammten Minderwertigkeitskomplex bekäme.
Sie nickte. »Ich kann es so machen, daß es bis über das Thermometer hinaufsteigt.«
»Thermometer. Wer hat das gesagt?«
»Alice Holmborg hat es mir gezeigt. Man muß die Beine kreuzen und den Atem anhalten und an etwas sehr, sehr Heißes denken. Eine Heizung oder so. Dann wird die ganze Stirn so heiß, daß man jemand die Hand verbrennen kann.«
Das warf mich um. Ich zog die Hand von ihrer Stirn weg, als ob es furchtbar gefährlich wäre.
»Danke für die Warnung«, sagte ich.
»Ach, dir hätte ich nicht die Hand verbrannt. Ich hätte aufgehört, bevor es zu heiß - sst!« Dabei setzte sie sich blitzschnell auf.
Sie jagte mir einen wahnsinnigen Schrecken damit ein. »Was ist los?« fragte ich.
»Die Haustür!« flüsterte sie. »Sie kommen!«
Ich sprang auf und rannte zum Schreibtisch und drehte das Licht aus. Dann drückte ich die Zigarette auf meinem Schuh aus und steckte sie in die Tasche. Dann fächelte ich wie besessen in der Luft herum, damit der Rauch wegginge - ich hätte überhaupt nicht rauchen sollen, großer Gott. Dann packte ich meine Schuhe und verschwand im Schrank und zog die Tür zu. Mein Herz schlug wie toll.
Ich hörte meine Mutter hereinkommen.
»Phoebe?« sagte sie. »Mach mir nichts vor. Ich habe das Licht schon gesehen, mein Fräulein.«
»Hallo!« hörte ich Phoebe antworten. »Ich konnte einfach nicht einschlafen. Ist es nett gewesen?«
»Sehr, sehr nett«, sagte meine Mutter, aber man merkte gut, daß sie es nicht wirklich meinte. Einladungen machen ihr nie viel Vergnügen. »Warum bist du denn noch wach, wenn ich fragen darf? Ist dir warm genug?«
»Warm genug ist mir, aber ich konnte nicht schlafen.«
»Phoebe, hast du hier drin geraucht? Die Wahrheit bitte, mein Fräulein.«
»Was?« fragte Phoebe.
»Du hast mich gut verstanden.«
»Ich habe nur eine Sekunde lang eine angezündet. Nur für einen einzigen Zug. Dann hab ich sie zum Fenster hinausgeworfen.«
»Und warum, wenn ich fragen darf?«
»Weil ich nicht schlafen konnte.«
»Ich hab das nicht gern, Phoebe. Gar nicht gern. Möchtest du noch eine Decke?«
»Nein, danke. Gute Nacht!« sagte Phoebe. Sie wollte meine Mutter loswerden, das war deutlich zu hören.
»Wie war der Film?« fragte meine Mutter.
»Ausgezeichnet. Bis auf Alicens Mutter. Sie hat sich immer herübergebeugt und sie gefragt, ob sie sich grippig fühle, während dem ganzen Film. Wir sind im Taxi heimgefahren.«
»Laß mich deine Stirn fühlen.«
»Ich hab mich nicht angesteckt. Sie hat gar keine Grippe. Es war nur ihre Mutter.«
»Schön. Dann schlaf jetzt. Wie war das Abendessen?«
»Lausig«, sagte Phoebe.
»Du weißt, was dein Vater über dieses Wort gesagt hat. Was war denn daran lausig? Du hast ein ausgezeichnetes Lammkotelett bekommen. Ich bin bis in die Lexington Avenue gegangen, nur um-«
»Das Lammkotelett war schon recht, aber Charlene atmet mich immer an, wenn sie etwas auf den Tisch stellt. Sie atmet auf das Essen und alles. Einfach überallhin.«
»Gut, aber dann schlaf jetzt. Gib mir einen Kuß. Hast du gebetet?«
»Schon im Badezimmer. Gut Nacht.«
»Gute Nacht. Schlaf jetzt aber gleich. Ich hab furchtbares Kopfweh«, sagte meine Mutter. Sie hat wirklich sehr oft Kopfweh.
»Nimm ein paar Aspirin«, sagte Phoebe. »Holden kommt doch am Mittwoch heim, nicht?«
»Soviel ich weiß. Schnell unter die Decke. Ganz hinunter.«
Ich hörte, wie meine Mutter hinausging und die Tür zumachte. Danach wartete ich noch ein paar Minuten. Dann kam ich aus dem Schrank. Ich prallte mitten auf Phoebe, weil sie im Dunkeln aus dem Bett gekommen war, um mich zu holen. »Hab ich dir weh getan?« fragte ich. Wir durften jetzt nur noch flüstern. »Ich muß weiter«, sagte ich. Ich tastete mich im Dunkeln zum Bett, setzte mich wieder auf den Rand und fing an, meine Schuhe anzuziehen. Ich war ziemlich nervös, muß ich sagen.
»Geh noch nicht jetzt«, flüsterte Phoebe. »Wart noch, bis sie schlafen!«
»Nein, jetzt ist es am besten«, sagte ich. »Jetzt ist sie im Badezimmer, und der Vater hört wohl die Nachrichten oder was. Jetzt geht es am besten.« Ich war so verdammt nervös, daß ich mir kaum die Schuhe zuschnüren konnte. Sie hätten mich zwar nicht umgebracht, wenn sie mich zu Hause erwischt hätten, aber es wäre doch sehr unangenehm gewesen. »Wo zum Teufel steckst du denn?« fragte ich.
Ich konnte sie im Dunkeln nicht sehen.
»Hier.« Sie stand ganz nah bei mir.
»Meine verdammten Koffer sind noch am Bahnhof«, sagte ich. »Hör, hast du wohl etwas Geld, Phoebe? Ich bin sozusagen bankrott.«
»Nur das für Weihnachten. Für die Geschenke und so. Ich hab noch gar keine gekauft.«
»Oh.« Ich wollte ihr nicht das Weihnachtsgeld wegnehmen.
»Willst du etwas davon?« fragte sie.
»Ich will dir dein Weihnachtsgeld nicht wegnehmen.«
»Ich kann dir aber etwas leihen«, sagte sie. Dann hörte ich, wie sie an D.B.s Schreibtisch sämtliche Schubladen aufzog und darin herumtastete. Es war stockdunkel im Zimmer. »Wenn du fortgehst, kannst du mich nicht in dem Theaterstück sehen«, sagte sie. Ihre Stimme hatte einen komischen Klang.
»Doch, natürlich. Ich geh sicher nicht vorher fort. Meinst du denn, ich wollte auf das Theater verzichten?« sagte ich.
»Wahrscheinlich bleib ich ungefähr bis Dienstag abend bei Mr. Antolini. Dann komm ich heim. Wenn ich kann, ruf ich dich vorher an.«
»Da«, sagte die gute Phoebe. Sie versuchte mir das Geld zu geben, konnte aber meine Hand nicht finden.
»Wo?«
Sie drückte mir das Geld in die Hand.
»He, ich brauch doch nicht soviel«, sagte ich. »Gib mir nur zwei Dollar, mehr nicht. Im Ernst. Da, nimm's wieder.« Ich versuchte es ihr zurückzugeben, aber sie wollte es nicht nehmen.
»Du kannst alles behalten. Du kannst es mir ja dann zurückgeben. Bring's ins Theater.«
»Wieviel ist es denn, um Himmels willen?«
»Acht Dollar und fünfundachtzig Cents - nein, fünfundsechzig Cents. Ich hab etwas davon ausgegeben.«
Dann fing ich plötzlich an zu heulen. Ich konnte nicht anders.
Ich heulte zwar so leise, daß mich niemand hören konnte, aber ich heulte doch richtig. Die gute alte Phoebe bekam natürlich einen Mordsschrecken, als ich anfing zu heulen, und kam zu mir und wollte mich trösten, aber wenn man einmal angefangen hat, kann man nicht im nächsten Augenblick aufhören. Ich saß immer noch auf dem Bettrand, und Phoebe schlang mir die Arme um den Hals, und ich legte auch einen Arm um sie, aber ich konnte doch lange nicht aufhören. Ich dachte, ich würde ersticken oder was weiß ich. Herr im Himmel, der armen Phoebe jagte ich einen Mordsschrecken ein. Das verdammte Fenster stand offen, und ich spürte, wie sie vor Kälte zitterte, weil sie nur im Pyjama war. Ich versuchte sie wieder ins Bett zu befördern, aber sie wollte nicht. Schließlich hörte ich doch auf, aber jedenfalls dauerte es sehr lang. Dann knöpfte ich mir den Mantel zu und so. Ich sagte, ich würde mit ihr in Verbindung bleiben. Sie sagte, ich könnte bei ihr im Bett schlafen, aber ich antwortete, es wäre besser, wenn ich jetzt ginge, weil dieser Mr. Antolini auf mich warte. Dann zog ich die Jagdmütze aus der Tasche und gab sie ihr. Sie hat solche verrückten Mützen gern.
Sie wollte sie nicht nehmen, aber ich bestand darauf.
Höchstwahrscheinlich hat sie die ganze Nacht mit der Mütze auf dem Kopf geschlafen. Sie hat so komische Mützen gern. Dann sagte ich noch einmal, ich würde mit ihr telefonieren, sobald ich Gelegenheit hätte, und dann ging ich weg.
Aus der Wohnung herauszukommen fand ich aus verschiedenen Gründen viel einfacher als das Hineinkommen.
Erstens war es mir jetzt absolut gleichgültig, ob sie mich erwischen würden.
Wirklich. Ich dachte, wenn sie mich erwischten, dann sollten sie mich eben erwischen. Es wäre mir irgendwie fast willkommen gewesen.
Ich fuhr diesmal nicht mit dem Lift, sondern ging die ganze Treppe zu Fuß hinunter. Über die Hintertreppe. Ich hätte mir an den ungefähr zehn Millionen Mülleimern fast den Hals gebrochen, aber zu guter Letzt war ich glücklich unten. Der Liftboy bekam mich gar nicht zu Gesicht. Vermutlich denkt er, ich wäre heute noch oben bei den Dicksteins.
Er war wohl der beste von allen meinen Lehrern gewesen. Mr. Antolini war noch ziemlich jung, nicht viel älter als mein Bruder D.B., und man konnte mit ihm Unsinn machen, ohne den Respekt für ihn zu verlieren. Er war auch derjenige gewesen, der damals diesen James Castle endlich aufhob, nachdem er aus dem Fenster gesprungen war. Mr. Antolini fühlte ihm den Puls und so weiter, und dann zog er seine Jacke aus und legte sie über James Castle und trug ihn den ganzen Weg in die Krankenabteilung. Er kümmerte sich überhaupt nicht darum, daß seine Jacke ganz blutig wurde.
Als ich wieder in D.B.s Zimmer kam, hatte Phoebe das Radio angedreht. Tanzmusik. Sie hatte es ganz leise eingestellt, damit das Dienstmädchen nichts davon hörte. Man muß sie gesehen haben. Sie saß ohne Decken mitten im Bett und hatte die Beine wie ein Yogi untergeschlagen. Sie hörte der Musik zu. Sie kann mich umwerfen.
»Komm«, sagte ich, »willst du tanzen?« Ich hatte es ihr schon beigebracht, als sie noch ganz klein war. Sie tanzt sehr gut. Das meiste hat sie zwar von selbst gelernt, nicht von mir. Man kann niemandem beibringen, wie man wirklich gut tanzt.
»Du hast Schuhe an«, sagte sie.
»Ich zieh sie aus. Komm.«
Sie sprang mit einem großen Satz aus dem Bett und wartete, bis ich die Schuhe ausgezogen hatte, und dann fingen wir an. Sie tanzt wirklich verdammt gut. Ich sehe es im allgemeinen nicht gern, wenn Erwachsene mit Kindern tanzen, weil es meistens schrecklich aussieht. Wenn zum Beispiel irgendein alter Esel in einem Restaurant mit seinem Kind tanzt. Meistens ziehen sie aus Versehen so einem kleinen Mädchen das Kleid hinten in die Höhe, und das Kind kann überhaupt nicht tanzen, und das Ganze sieht schrecklich aus, aber mit Phoebe tanze ich nie vor Publikum. Wir tun es nur zu Hause.
Aber mit ihr ist es ohnedies etwas anderes, weil sie wirklich tanzen kann. Sie paßt sich allen Bewegungen an. Man muß sie nur ganz nah halten, damit es nicht stört, daß man viel längere Beine hat. Sie folgt allen Schritten. Man kann sogar ein bißchen Jitterbug mit ihr tanzen oder Tango, tatsächlich.
Wir tanzten ungefähr viermal. In den Pausen ist sie furchtbar komisch. Sie bleibt in Tanzstellung stehen und will nicht einmal sprechen. Auch man selber muß genauso stehenbleiben und warten, bis das Orchester weiterspielt. Das wirft mich um. Man darf auch nicht lachen oder so.
Nach vier Tänzen drehte ich das Radio ab. Phoebe hopste wieder ins Bett und schlüpfte unter die Decke. »Ich mache Fortschritte, nicht wahr?« fragte sie.
»Und wie«, sagte ich. Dann setzte ich mich wieder auf den Bettrand. Ich war sozusagen außer Atem. Ich hatte so viel geraucht, daß ich fast keine Luft mehr bekam. Phoebe war überhaupt nicht außer Atem.
»Fühl meine Stirn«, sagte sie plötzlich.
»Warum?«
»Fühl. Nur ganz schnell.« Ich legte die Hand an ihre Stirn. Ich fühlte aber weiter nichts Besonderes.
»Ist sie fiebrig?« fragte sie.
»Nein. Sollte sie das sein?«
»Ja - ich mach es absichtlich. Fühl noch mal.«
Ich versuchte es wieder und fühlte immer noch nichts, aber ich sagte: »Doch, ich glaube, es fängt an.« Ich wollte nicht, daß sie einen verdammten Minderwertigkeitskomplex bekäme.
Sie nickte. »Ich kann es so machen, daß es bis über das Thermometer hinaufsteigt.«
»Thermometer. Wer hat das gesagt?«
»Alice Holmborg hat es mir gezeigt. Man muß die Beine kreuzen und den Atem anhalten und an etwas sehr, sehr Heißes denken. Eine Heizung oder so. Dann wird die ganze Stirn so heiß, daß man jemand die Hand verbrennen kann.«
Das warf mich um. Ich zog die Hand von ihrer Stirn weg, als ob es furchtbar gefährlich wäre.
»Danke für die Warnung«, sagte ich.
»Ach, dir hätte ich nicht die Hand verbrannt. Ich hätte aufgehört, bevor es zu heiß - sst!« Dabei setzte sie sich blitzschnell auf.
Sie jagte mir einen wahnsinnigen Schrecken damit ein. »Was ist los?« fragte ich.
»Die Haustür!« flüsterte sie. »Sie kommen!«
Ich sprang auf und rannte zum Schreibtisch und drehte das Licht aus. Dann drückte ich die Zigarette auf meinem Schuh aus und steckte sie in die Tasche. Dann fächelte ich wie besessen in der Luft herum, damit der Rauch wegginge - ich hätte überhaupt nicht rauchen sollen, großer Gott. Dann packte ich meine Schuhe und verschwand im Schrank und zog die Tür zu. Mein Herz schlug wie toll.
Ich hörte meine Mutter hereinkommen.
»Phoebe?« sagte sie. »Mach mir nichts vor. Ich habe das Licht schon gesehen, mein Fräulein.«
»Hallo!« hörte ich Phoebe antworten. »Ich konnte einfach nicht einschlafen. Ist es nett gewesen?«
»Sehr, sehr nett«, sagte meine Mutter, aber man merkte gut, daß sie es nicht wirklich meinte. Einladungen machen ihr nie viel Vergnügen. »Warum bist du denn noch wach, wenn ich fragen darf? Ist dir warm genug?«
»Warm genug ist mir, aber ich konnte nicht schlafen.«
»Phoebe, hast du hier drin geraucht? Die Wahrheit bitte, mein Fräulein.«
»Was?« fragte Phoebe.
»Du hast mich gut verstanden.«
»Ich habe nur eine Sekunde lang eine angezündet. Nur für einen einzigen Zug. Dann hab ich sie zum Fenster hinausgeworfen.«
»Und warum, wenn ich fragen darf?«
»Weil ich nicht schlafen konnte.«
»Ich hab das nicht gern, Phoebe. Gar nicht gern. Möchtest du noch eine Decke?«
»Nein, danke. Gute Nacht!« sagte Phoebe. Sie wollte meine Mutter loswerden, das war deutlich zu hören.
»Wie war der Film?« fragte meine Mutter.
»Ausgezeichnet. Bis auf Alicens Mutter. Sie hat sich immer herübergebeugt und sie gefragt, ob sie sich grippig fühle, während dem ganzen Film. Wir sind im Taxi heimgefahren.«
»Laß mich deine Stirn fühlen.«
»Ich hab mich nicht angesteckt. Sie hat gar keine Grippe. Es war nur ihre Mutter.«
»Schön. Dann schlaf jetzt. Wie war das Abendessen?«
»Lausig«, sagte Phoebe.
»Du weißt, was dein Vater über dieses Wort gesagt hat. Was war denn daran lausig? Du hast ein ausgezeichnetes Lammkotelett bekommen. Ich bin bis in die Lexington Avenue gegangen, nur um-«
»Das Lammkotelett war schon recht, aber Charlene atmet mich immer an, wenn sie etwas auf den Tisch stellt. Sie atmet auf das Essen und alles. Einfach überallhin.«
»Gut, aber dann schlaf jetzt. Gib mir einen Kuß. Hast du gebetet?«
»Schon im Badezimmer. Gut Nacht.«
»Gute Nacht. Schlaf jetzt aber gleich. Ich hab furchtbares Kopfweh«, sagte meine Mutter. Sie hat wirklich sehr oft Kopfweh.
»Nimm ein paar Aspirin«, sagte Phoebe. »Holden kommt doch am Mittwoch heim, nicht?«
»Soviel ich weiß. Schnell unter die Decke. Ganz hinunter.«
Ich hörte, wie meine Mutter hinausging und die Tür zumachte. Danach wartete ich noch ein paar Minuten. Dann kam ich aus dem Schrank. Ich prallte mitten auf Phoebe, weil sie im Dunkeln aus dem Bett gekommen war, um mich zu holen. »Hab ich dir weh getan?« fragte ich. Wir durften jetzt nur noch flüstern. »Ich muß weiter«, sagte ich. Ich tastete mich im Dunkeln zum Bett, setzte mich wieder auf den Rand und fing an, meine Schuhe anzuziehen. Ich war ziemlich nervös, muß ich sagen.
»Geh noch nicht jetzt«, flüsterte Phoebe. »Wart noch, bis sie schlafen!«
»Nein, jetzt ist es am besten«, sagte ich. »Jetzt ist sie im Badezimmer, und der Vater hört wohl die Nachrichten oder was. Jetzt geht es am besten.« Ich war so verdammt nervös, daß ich mir kaum die Schuhe zuschnüren konnte. Sie hätten mich zwar nicht umgebracht, wenn sie mich zu Hause erwischt hätten, aber es wäre doch sehr unangenehm gewesen. »Wo zum Teufel steckst du denn?« fragte ich.
Ich konnte sie im Dunkeln nicht sehen.
»Hier.« Sie stand ganz nah bei mir.
»Meine verdammten Koffer sind noch am Bahnhof«, sagte ich. »Hör, hast du wohl etwas Geld, Phoebe? Ich bin sozusagen bankrott.«
»Nur das für Weihnachten. Für die Geschenke und so. Ich hab noch gar keine gekauft.«
»Oh.« Ich wollte ihr nicht das Weihnachtsgeld wegnehmen.
»Willst du etwas davon?« fragte sie.
»Ich will dir dein Weihnachtsgeld nicht wegnehmen.«
»Ich kann dir aber etwas leihen«, sagte sie. Dann hörte ich, wie sie an D.B.s Schreibtisch sämtliche Schubladen aufzog und darin herumtastete. Es war stockdunkel im Zimmer. »Wenn du fortgehst, kannst du mich nicht in dem Theaterstück sehen«, sagte sie. Ihre Stimme hatte einen komischen Klang.
»Doch, natürlich. Ich geh sicher nicht vorher fort. Meinst du denn, ich wollte auf das Theater verzichten?« sagte ich.
»Wahrscheinlich bleib ich ungefähr bis Dienstag abend bei Mr. Antolini. Dann komm ich heim. Wenn ich kann, ruf ich dich vorher an.«
»Da«, sagte die gute Phoebe. Sie versuchte mir das Geld zu geben, konnte aber meine Hand nicht finden.
»Wo?«
Sie drückte mir das Geld in die Hand.
»He, ich brauch doch nicht soviel«, sagte ich. »Gib mir nur zwei Dollar, mehr nicht. Im Ernst. Da, nimm's wieder.« Ich versuchte es ihr zurückzugeben, aber sie wollte es nicht nehmen.
»Du kannst alles behalten. Du kannst es mir ja dann zurückgeben. Bring's ins Theater.«
»Wieviel ist es denn, um Himmels willen?«
»Acht Dollar und fünfundachtzig Cents - nein, fünfundsechzig Cents. Ich hab etwas davon ausgegeben.«
Dann fing ich plötzlich an zu heulen. Ich konnte nicht anders.
Ich heulte zwar so leise, daß mich niemand hören konnte, aber ich heulte doch richtig. Die gute alte Phoebe bekam natürlich einen Mordsschrecken, als ich anfing zu heulen, und kam zu mir und wollte mich trösten, aber wenn man einmal angefangen hat, kann man nicht im nächsten Augenblick aufhören. Ich saß immer noch auf dem Bettrand, und Phoebe schlang mir die Arme um den Hals, und ich legte auch einen Arm um sie, aber ich konnte doch lange nicht aufhören. Ich dachte, ich würde ersticken oder was weiß ich. Herr im Himmel, der armen Phoebe jagte ich einen Mordsschrecken ein. Das verdammte Fenster stand offen, und ich spürte, wie sie vor Kälte zitterte, weil sie nur im Pyjama war. Ich versuchte sie wieder ins Bett zu befördern, aber sie wollte nicht. Schließlich hörte ich doch auf, aber jedenfalls dauerte es sehr lang. Dann knöpfte ich mir den Mantel zu und so. Ich sagte, ich würde mit ihr in Verbindung bleiben. Sie sagte, ich könnte bei ihr im Bett schlafen, aber ich antwortete, es wäre besser, wenn ich jetzt ginge, weil dieser Mr. Antolini auf mich warte. Dann zog ich die Jagdmütze aus der Tasche und gab sie ihr. Sie hat solche verrückten Mützen gern.
Sie wollte sie nicht nehmen, aber ich bestand darauf.
Höchstwahrscheinlich hat sie die ganze Nacht mit der Mütze auf dem Kopf geschlafen. Sie hat so komische Mützen gern. Dann sagte ich noch einmal, ich würde mit ihr telefonieren, sobald ich Gelegenheit hätte, und dann ging ich weg.
Aus der Wohnung herauszukommen fand ich aus verschiedenen Gründen viel einfacher als das Hineinkommen.
Erstens war es mir jetzt absolut gleichgültig, ob sie mich erwischen würden.
Wirklich. Ich dachte, wenn sie mich erwischten, dann sollten sie mich eben erwischen. Es wäre mir irgendwie fast willkommen gewesen.
Ich fuhr diesmal nicht mit dem Lift, sondern ging die ganze Treppe zu Fuß hinunter. Über die Hintertreppe. Ich hätte mir an den ungefähr zehn Millionen Mülleimern fast den Hals gebrochen, aber zu guter Letzt war ich glücklich unten. Der Liftboy bekam mich gar nicht zu Gesicht. Vermutlich denkt er, ich wäre heute noch oben bei den Dicksteins.