23. Kapitel

Mr. und Mrs. Antolini hatten eine sehr elegante Wohnung am Sutton Place, mit einem Wohnzimmer, das zwei Stufen tiefer lag als der Eingang, und einer Bar und so. Ich war schon mehrmals dort gewesen, denn nachdem ich von Elkton Hills fortgegangen war, hatte Mr. Antolini ziemlich oft bei uns zu Abend gegessen, um über mich auf dem laufenden zu bleiben. Damals war er noch nicht verheiratet. Später spielte ich oft mit ihm und Mrs. Antolini Tennis - im West Side Tennis Club in Forest Hills, Long Island. Mrs. Antolini stammte von dort. Sie hatte einen Haufen Geld. Sie war ungefähr sechzig Jahre älter als er, aber offenbar vertrugen sie sich ganz gut. Erstens einmal waren beide sehr gebildet, richtige Intellektuelle, hauptsächlich Mr. Antolini - nur wirkte er eigentlich eher witzig als intellektuell, wenn man mit ihm zusammen war, so ähnlich wie D.B. Mrs. Antolini war meistens ernst. Sie hatte ziemlich schlimmes Asthma. Beide hatten alle Kurzgeschichten von D.B. gelesen, auch Mrs. Antolini, und als D.B. nach Hollywood ging, telefonierte Mr. Antolini mit ihm und sagte, er solle nicht dorthin gehen. Er ging dann aber doch. Mr. Antolini sagte, wenn jemand so schreiben könne wie D.B., habe er nichts in Hollywood zu suchen. Das ist praktisch dasselbe, was ich auch gesagt hatte.
Ich wäre zu Fuß gegangen, weil ich Phoebes Weihnachtsgeld für nichts ausgeben wollte, was nicht unbedingt nötig war, aber als ich ins Freie kam, fühlte ich mich ganz sonderbar. Irgendwie schwindlig. Deshalb nahm ich ein Taxi. Sehr ungern, aber ich nahm doch eines. Es dauerte eine Ewigkeit, bis ich überhaupt eines fand.
Als mich der Liftboy - dieser Hund - endlich hinaufgefahren hatte, läutete ich an der Wohnung. Mr. Antolini machte in Morgenrock und Pantoffeln auf. Er war ein ziemlich intellektueller Typ und trank im allgemeinen ziemlich viel.
»Holden, da bist du!« sagte er. »Mein Gott, er ist schon wieder einen halben Meter gewachsen. Schön, daß du kommst.«
»Wie geht es Ihnen, Mr. Antolini? Und wie geht's Mrs. Antolini?«
»Beiden vorzüglich. Her mit dem Mantel.« Er zog mir den Mantel aus und hängte ihn auf. »Ich hatte erwartet, einen Säugling in deinen Armen zu sehen. Ohne Heim, ohne Obdach. Schneeflocken auf deinen Wimpern.« Manchmal ist er sehr witzig. Er drehte sich um und schrie zur Küche hin: »Lillian! Was macht der Kaffee?« Lillian war Mrs. Antolinis Vorname.
»Schon fertig!« schrie sie zurück. »Ist das Holden? Hallo, Holden!«
»Hallo, Mrs. Antolini!«
In dieser Wohnung schrie man immer, weil die beiden nie zu gleicher Zeit im gleichen Zimmer waren.
Komisch.
»Setz dich, Holden«, sagte Mr. Antolini. Offenbar war er ziemlich in Fahrt. Das Zimmer sah so aus, als ob sie gerade eine Einladung gegeben hätten. Überall standen Gläser und Schalen mit Salzmandeln. »Entschuldige diesen Anblick«, sagte er. »Wir hatten ein paar Buffalo-Freunde meiner Frau zu Gast... Eigentlich die Büffel selber, müßte man sagen.«
Ich lachte, und Mrs. Antolini schrie mir aus der Küche etwas zu, aber ich konnte sie nicht verstehen.
»Was hat sie gesagt?« fragte ich Mr. Antolini.
»Sie sagte, du dürftest sie nicht anschauen, wenn sie kommt. Sie hat sich gerade erst vom Bett erhoben. Nimm dir eine Zigarette. Rauchst du jetzt?«
»Danke«, sagte ich. Ich nahm eine Zigarette aus der Schachtel, die er mir hinhielt. »Hin und wieder rauche ich mäßig.«
»Das nehme ich an«, sagte er. Dabei zündete er sie mit dem großen Feuerzeug an, das auf dem Tisch stand. »So, du und Pencey seid also nicht mehr vereint«, sagte er. Er drückte sich immer in dieser Weise aus. Manchmal amüsierte es mich sehr, manchmal aber auch nicht. Er übertrieb diese Art eigentlich ein bißchen. Ich meine damit nicht, daß er nicht witzig war oder so - das war er sicher -, aber manchmal geht es einem auf die Nerven, wenn jemand fortwährend solche Sachen sagt wie: »Du und Pencey seid also nicht mehr vereint.« Auch D.B. machte das manchmal zu ausgiebig.
»Woran lag es denn?« fragte Mr. Antolini. »Wie hast du im Englischen abgeschnitten? Ich werfe dich kurzerhand hinaus, falls du im Englischen ungenügend warst, du kleines Aufsatzschreiber-As.«
»Ach, im Englisch ging es gut. Es war zwar mehr Literatur. Ich habe im ganzen Quartal nur ungefähr zwei Aufsätze geschrieben«, sagte ich. Aber im mündlichen Ausdruck bin ich durchgefallen. »Mündlicher Ausdruck war Pflichtfach. In dem bin ich durch gefallen.«
»Warum?«
»Ach, ich weiß nicht.« Ich hatte nicht viel Lust, näher darauf einzugehen. Es war mir immer noch irgendwie schwindlig, und ich hatte plötzlich wahnsinniges Kopfweh. Tatsächlich. Aber da es ihn offenbar so brennend interessierte, erzählte ich ihm mehr davon. »Im mündlichen Ausdruck muß jeder in der Klasse aufstehn und einen Vortrag halten. Aus dem Stegreif, wissen Sie. Und wenn er vom Thema abweicht, so soll man so schnell man nur kann Abschweifung! brüllen. Das hat mich halb verrückt gemacht. Ich bekam eine schlechte Note - eine Sechs.«
»Warum?«
»Ach, ich weiß nicht. Dieses Abschweifen oder Nicht-Abschweifen ging mir auf die Nerven. Ich weiß nicht. Das Dumme ist eben, daß ich es sogar gern habe, wenn jemand abschweift. Das ist viel interessanter und so.«
»Legst du keinen Wert darauf, daß jemand beim Thema bleibt, wenn er etwas erzählt?«
»Doch, sicher! Ich möchte schon, daß er beim Thema bleibt. Aber ich habe es nicht gern, wenn er zu übertrieben beim Thema bleibt. Ich weiß nicht. Es gefällt mir wohl einfach nicht, wenn jemand die ganze Zeit immer nur beim Thema bleibt. Die mit den besten Noten im mündlichen Ausdruck haben ihr Thema die ganze Zeit ohne Abschweifung verfolgt - das gebe ich zu. Aber da war dieser Junge, Richard Kinsella. Er hielt sich nicht allzu genau ans Thema, und bei ihm brüllten sie immer Abschweifung. Das fand ich schrecklich, denn er war sehr nervös - und dann fingen seine Lippen immer an zu zittern, wenn er drankam, und man konnte ihn fast nicht verstehen, wenn man weit hinten saß. Wenn seine Lippen dann etwas aufhörten zu zittern, dann gefielen mir seine Vorträge besser als alle anderen. Er ist aber auch praktisch durchgefallen, wie ich. Er bekam eine Vier, weil sie bei ihm die ganze Zeit über Abschweifung brüllten. Zum Beispiel hielt er diesen Vortrag über diese Farm, die sein Vater in Vermont gekauft hatte. Die andern brüllten vom Anfang bis zum Schluß: Abschweifung!, und der Lehrer, Mr. Vinson, gab ihm eine Sechs, weil er nichts davon gesagt hatte, was für Tiere und Gemüsearten und solches Zeug auf der Farm wuchsen. Dieser Kinsella fing zum Beispiel von lauter solchem Zeug an, und dann erzählte er plötzlich von einem Brief, den sein Onkel an seine Mutter geschrieben habe, und dieser Onkel habe mit zweiundvierzig Jahren Kinderlähmung bekommen und habe sich im Spital von niemand besuchen lassen wollen, weil er nicht wollte, daß ihn jemand in den orthopädischen Schienen sähe. Das hatte natürlich nicht viel mit der Farm zu tun, zugegeben, aber es war einfach nett. Mir gefällt es jedenfalls, wenn jemand von seinem Onkel erzählt. Besonders, wenn einer mit der Farm von seinem Vater anfängt und sich dann plötzlich viel mehr für seinen Onkel interessiert. Ich finde es gemein, fortwährend Abschweifung! zu brüllen, wenn er so sympathisch und erregt ist... Ich weiß nicht.«
Es ist schwer zu erklären. Ich war auch nicht in der Stimmung, es besser zu erklären. Ich hatte plötzlich so furchtbare Kopfschmerzen. Ich hoffte nur, daß Mrs. Antolini um Gottes willen bald mit dem Kaffee käme. So etwas kann mich wahnsinnig ärgern - ich meine, wenn jemand behauptet, daß der Kaffee schon fertig sei, und es dann gar nicht wahr ist.
»Holden, gestatte mir eine kurze und etwas langweilige pädagogische Frage: Meinst du nicht, daß alles seine Zeit hat? Wenn jemand von der Farm seines Vaters anfängt, meinst du nicht, daß er bei seinem Thema bleiben sollte, bevor er von den Schienen seines Onkels weitererzählt? Oder falls die Schienen seines Onkels ein so aufregendes Thema sind, warum entscheidet er sich dann nicht lieber von Anfang an für dieses Thema - anstatt für die Farm?«
Ich war nicht zum Denken und Sprechen aufgelegt. Ich hatte Kopfweh und fühlte mich miserabel.
Ich hatte sogar eine Art Magenkrämpfe, falls das jemand interessiert.
»Ja - ich weiß nicht. Wahrscheinlich schon. Ich meine, wahrscheinlich hätte er tatsächlich seinen Onkel als Thema nehmen sollen und nicht die Farm, wenn er das interessanter fand. Aber ich meine eben, oft weiß man ja gar nicht, was man am interessantesten findet, bis man von etwas zu reden angefangen hat, das man nicht am interessantesten findet. Ich meine, manchmal kann man das doch gar nicht verhindern. Ich finde, wenn jemand wenigstens überhaupt interessant erzählt und mit irgend etwas in Schwung kommt, sollte man ihn in Ruhe lassen. Mir gefällt es, wenn jemand angeregt erzählt. Es ist sympathisch. Sie haben eben diesen Lehrer nicht gekannt. Dieser Mr. Vinson konnte einen manchmal verrückt machen, er und die ganze verdammte Klasse. Er sagte immer, man müsse vereinfachen und zusammenfassen. Aber mit manchen Sachen geht das einfach nicht. Ich meine, man kann doch nicht etwas vereinfachen und zusammenfassen, nur weil jemand das verlangt. Sie hätten eben diesen Mr. Vinson kennen sollen. Ich meine, er war wohl sehr intelligent so und so, aber man hat trotzdem gemerkt, daß er nicht viel Verstand hatte.«
»Kaffee, meine Herren - endlich«, sagte Mrs. Antolini. Sie trug Kaffee und Kuchen und so 'n Zeug auf einem Tablett herein. »Holden, schau mich nur nicht an. Ich sehe gräßlich aus.«
»Hallo, Mrs. Antolini«, sagte ich. Dabei wollte ich aufstehen, aber Mr. Antolini hielt mich an der Jacke fest. Mrs. Antolini hatte lauter metallene Lockenwickler in den Haaren und war ohne Make-up und Lippenstift und so. Sie wirkte nicht gerade hinreißend. Ziemlich alt sogar.
»Ich stell euch das einfach hier hin«, sagte sie. »Langt nur tüchtig zu.« Sie schob alle Gläser auf die Seite und stellte das Tablett auf den Rauchtisch. »Wie geht's deiner Mutter, Holden?«
»Sehr gut, danke. Ich habe sie zwar länger nicht gesehen, aber das letzte-«
»Lieber, wenn Holden irgend etwas braucht, findest du alles im Wäscheschrank. Im obersten Fach. Ich geh ins Bett. Ich bin erledigt«, sagte Mrs. Antolini. Sie machte tatsächlich einen erledigten Eindruck. »Könnt ihr beide die Couch selber herrichten?«
»Wir werden schon mit allem fertig werden«, sagte Mr. Antolini. Er gab ihr einen Kuß, und sie sagte mir gute Nacht und ging ins Schlafzimmer. Sie küßten sich immer vor Leuten und ziemlich oft.
Ich trank eine halbe Tasse Kaffee und aß ein Stück Kuchen, das steinhart war. Mr. Antolini nahm nun wieder ein Glas Whisky mit Eis. Er machte ihn sich immer sehr stark. Wenn er sich nicht in acht nimmt, könnte er ein Säufer werden.
»Vor ein paar Wochen habe ich mit deinem Vater zu Mittag gegessen«, sagte er plötzlich. »Hast du das gewußt?«
»Nein, das wußte ich nicht.«
»Aber du bist dir natürlich klar darüber, daß er sich deinetwegen große Sorgen macht.«
»Ja, das weiß ich, das weiß ich«, sagte ich.
»Bevor er mich anrief, hatte er offenbar gerade einen langen und eher beunruhigenden Brief von deinem letzten Rektor bekommen - des Inhalts, daß du dich absolut nicht anstrengtest. Daß du Stunden schwänzt - und dich für keine Lektion vorbereitest. Kurz ausgedrückt, daß du auf der ganzen Linie -«
»Ich habe keine Stunden geschwänzt. Das durfte man nicht. In ein paar bin ich ein paarmal nicht gegangen, aber geschwänzt habe ich keine.«
Ich war nicht in der Stimmung für eine Diskussion. Nach dem Kaffee war es mir im Magen besser, aber ich hatte immer noch diese fürchterlichen Kopfschmerzen.
Mr. Antolini zündete sich wieder eine Zigarette an. Er rauchte unsinnig viel. Dann sagte er: »Offen gesagt, weiß ich gar nicht, was ich dir noch sagen soll, Holden.«
»Ich weiß. Man kann schwer mit mir sprechen, das weiß ich.«
»Ich habe das Gefühl, daß du dich irgendeinem schrecklichen, schrecklichen Sturz näherst. Aber ich könnte nicht sagen, welcher Art... Hörst du mir zu?«
»Ja.«
Offensichtlich versuchte er sich sehr zu konzentrieren.
»Es kann die Art von Herunterkommen sein, daß du im Alter von dreißig Jahren in irgendeiner Bar sitzt und einen Haß gegen jeden fühlst, der so aussieht, als ob er im College Fußball gespielt hätte.
Oder vielleicht eignest du dir auch gerade so viel Bildung an, daß du alle die Leute unerträglich findest, die mir und mich verwechseln. Oder du landest in irgendeinem Büro, wo du die zunächst sitzende Stenotypistin mit Papierklammern bewirfst. Aber verstehst du überhaupt, was ich mit all dem meine?«
»Ja, natürlich«, sagte ich. Das stimmte auch. »Aber Sie täuschen sich mit dem, was Sie von Haß gesagt haben. Ich meine, daß ich Fußballspieler und so weiter hassen würde. Ich hasse nicht viele Leute. Vielleicht wären sie mir eine kurze Zeit verhaßt, so wie dieser Stradlater in Pencey und der andere dort, Robert Ackley. Ich gebe das zu, daß ich die manchmal gehaßt habe, aber es dauert nie lang, meine ich. Wenn ich sie eine Zeitlang nicht gesehen hatte, wenn sie nicht in mein Zimmer kamen oder wenn sie sogar ein paarmal nicht unten beim Essen erschienen, dann fehlten sie mir eigentlich. Ich meine, irgendwie fehlten sie mir.«
Mr. Antolini schwieg eine Weile. Er stand auf und holte sich einen neuen Eiswürfel für seinen Whisky und setzte sich wieder.
Man merkte, daß er nachdachte. Mir wäre es lieber gewesen, wenn er das Gespräch erst am nächsten Morgen fortgesetzt hätte, aber das wollte er offenbar nicht. Die Leute wollen meistens gerade dann reden, wenn man selber keine Lust hat.
»Schön. Hör mir jetzt einen Augenblick gut zu... Vielleicht kann ich mich nicht so ausdrücken, wie ich gern möchte, aber in den nächsten Tagen will ich dir einen Brief darüber schreiben. Dann kannst du es dir richtig überlegen. Aber hör mir jetzt trotzdem zu.« Er versuchte sich wieder zu konzentrieren. Dann sagte er: »Dieser Sturz oder Abstieg, den ich für dich voraussehe, ist von besonderer Art - eine besonders furchtbare Art von Sturz. Der Abstürzende selbst fühlt oder hört sich nicht unten aufschlagen. Er fällt und fällt nur. Das gilt für alle die Menschen, die zu irgendeiner Zeit ihres Lebens etwas gesucht haben, das ihre Umwelt ihnen nicht bieten konnte. Oder etwas, wovon sie dachten, daß es ihnen die Umwelt nicht bieten könne. Infolgedessen gaben sie das Suchen auf. Sie gaben es auf, bevor sie überhaupt wirklich angefangen hatten. Kannst du mir folgen?«
»Ja, Sir.«
»Wirklich?«
»Ja.«
Er stand auf und schenkte sich noch einen Rachenputzer ein.
Dann setzte er sich wieder. Während längerer Zeit schwieg er.
»Ich möchte dich nicht erschrecken«, sagte er. »Aber ich kann mir sehr gut vorstellen, wie du auf irgendeine Weise zugrunde gehen würdest, und zwar für eine höchst wertlose Sache.« Er warf mir einen komischen Blick zu. »Würdest du es aufmerksam lesen, wenn ich dir etwas aufschreiben würde? Und es behalten?«
»Ja, natürlich«, sagte ich. Ich habe das Blatt immer noch, das er mir damals gab.
Er ging an seinen Schreibtisch hinüber und schrieb im Stehen etwas auf ein Blatt. Dann kam er zurück und setzte sich mit dem Blatt in der Hand wieder hin. »Eigenartigerweise stammt es nicht von einem Dichter. Ein Psychoanalytiker namens Wilhelm Stekel hat es geschrieben. Er sagte - Hörst du mir noch zu?«
»Ja, natürlich höre ich zu.«
»Er sagte: Das Kennzeichen des unreifen Menschen ist, daß er für eine Sache nobel sterben will, während der reife Mensch bescheiden für eine Sache leben möchte.«
Er beugte sich vor und gab mir das Blatt. Ich las es sofort, und dann dankte ich ihm und steckte es in die Tasche. Es war nett von ihm, sich soviel Mühe zu machen. Wirklich. Aber leider konnte ich mich gar nicht recht konzentrieren. Herr im Himmel, ich war plötzlich so verflucht müde. Mr. Antolini dagegen schien offenbar nicht im geringsten müde zu sein. Er war sogar ganz hübsch aufgedreht.
»Allmählich wirst du dir wohl darüber klarwerden müssen, welche Richtung du einschlagen willst. Und dann mußt du dich auf den Weg machen. Aber ohne Aufschub. Du kannst es dir nicht leisten, noch eine Minute zu verlieren. Du nicht.«
Da er mich ansah, nickte ich natürlich, aber es war mir nicht ganz klar, von was er redete. Ich war ziemlich sicher, daß ich ihn richtig verstand, aber doch nicht ganz. Ich war zu verflucht müde.
»Und - das sage ich sehr ungern -« sagte er, »aber ich glaube, sobald du einen Begriff davon hast, in welche Richtung du gehen willst, wird dein erster Schritt darin bestehen, daß du dir in der Schule Mühe gibst. Es geht nicht anders. Du hast zu lernen - ob dir diese Vorstellung nun sympathisch oder unsympathisch ist. Das Wissen liegt dir am Herzen. Und wahrscheinlich wirst du sehen - sobald du dich einmal über alle diese Mr. Vineses und ihren mündlichen Aus -«
»Mr. Vinsons«, sagte ich. Er hatte sagen wollen »alle diese Mr. Vinsons«, nicht »alle diese Mr. Vineses«. Aber ich hätte ihn trotzdem nicht unterbrechen sollen.
»Also gut - die Mr. Vinsons. Sobald du dich einmal über alle die Mr. Vinsons hinwegsetzen kannst, wirst du - vorausgesetzt, daß du es wirklich willst und danach suchst und darauf wartest - immer näher zu den Kenntnissen vordringen, die dir sehr, sehr kostbar sein werden. Unter anderem siehst du dann, daß du nicht der erste Mensch bist, den das Verhalten seiner Mitmenschen verwirrte und bedrückte. Du stehst in der Hinsicht durchaus nicht allein; dieses Wissen wird dich erregen und anfeuern. Unzählige Menschen waren schon in derselben moralischen und geistigen Verwirrung, die du jetzt gerade durchmachst. Glücklicherweise haben einige von ihnen darüber Bericht erstattet. Von ihnen wirst du lernen, falls du wirklich willst. Genauso wie eines Tages, wenn du selbst etwas zu bieten hast, auch irgendwelche anderen wieder von dir lernen werden. Das ist eine wunderbare Gegenseitigkeit. Und das ist keine Bildung. Das ist Geschichte. Das ist Poesie!« Er machte eine Pause und nahm wieder einen Schluck Whisky. Dann fing er wieder an. Er war wirklich in Fahrt. Ich war froh, daß ich nicht versucht hatte, ihn zum Aufhören zu bewegen. »Ich will damit nicht sagen, daß nur gebildete Männer imstande wären, der Welt etwas Wertvolles zu geben«, sagte er. »Das trifft durchaus nicht zu. Aber ich sage, daß gebildete und gelehrte Männer - vorausgesetzt, daß sie begabt und schöpferisch sind, was leider selten der Fall ist - im allgemeinen ungleich wertvollere Berichte hinterlassen als solche, die nur begabt und schöpferisch sind. Im allgemeinen können sie sich klarer ausdrücken und haben eine Vorliebe dafür, ihre Gedanken bis zu Ende zu verfolgen. Und - was wohl das Wichtigste ist - in neun von zehn Fällen haben sie mehr Bescheidenheit als der ungeschulte Denker. Kannst du mir überhaupt folgen?«
»Ja, Sir.«
Er schwieg wieder ziemlich lange. Ich weiß nicht, ob es andern auch so geht, aber mir fällt es sehr schwer, einfach dazusitzen und zu warten, bis jemand wieder etwas sagt, während er nachdenkt und so. Ich finde es wirklich anstrengend.
Ich versuchte fortwährend, mein Gähnen zu unterdrücken.
Nicht daß ich mich gelangweilt hätte oder so - das gar nicht -, aber ich war plötzlich so verdammt schläfrig.
»Noch etwas, das eine akademische Bildung dir vermitteln wird. Wenn du eine gewisse Strecke zurückgelegt hast, entsteht durch diese Bildung ein Gefühl für deine geistigen Möglichkeiten. Eine Vorstellung davon, was geistig für dich paßt und vielleicht auch, was nicht für dich paßt. Nach einiger Zeit entwickelst du ein Gefühl dafür, welche Art von Gedanken dir gemäß sind - welche deiner geistigen Größe sozusagen stehen. Das kann dir außerordentlich viel Zeit ersparen, in der du sonst Ideen anprobieren würdest, die dir nicht stehen, die nicht zu dir passen. Du wirst deine wirklichen Maße kennenlernen und dich geistig dementsprechend anziehen.«
In diesem Augenblick gähnte ich plötzlich. So eine Grobheit - aber ich konnte es nicht verhindern.
Mr. Antolini lachte aber nur. »Komm«, sagte er und stand auf.
»Wir wollen dir deine Couch herrichten.«
Ich ging hinter ihm her zum Wäscheschrank. Er versuchte die Leintücher und Decken und alles vom obersten Fach herunterzuholen, brachte es aber mit dem Whiskyglas in der Hand nicht fertig.
Daraufhin trank er es aus und stellte es auf den Fußboden, und dann nahm er das Zeug aus dem Schrank. Ich trug es mit ihm zur Couch. Wir bezogen zusammen mein Bett. Er machte es nicht besonders gut. Er spannte die Tücher nicht richtig straff.
Mir war das zwar gleichgültig. Ich war so müde, daß ich auch im Stehen hätte schlafen können.
»Wie geht's allen deinen Frauen?«
»Ganz gut.« Ich war ein miserabler Gesprächspartner, aber ich war einfach nicht in der Stimmung.
»Wie geht es Sally?« Er kannte Sally Hayes. Ich hatte sie ihm einmal vorgeführt.
»Gut. Ich war heute nachmittag mit ihr zusammen.« Großer Gott, das schien zwanzig Jahre her zu sein! »Wir haben nicht mehr viel gemeinsam.«
»Auffallend hübsches Mädchen. Und die andre? Die in Maine, von der du mir erzählt hast?«
»Ach - Jane Gallagher. Es geht ihr gut. Wahrscheinlich rufe ich sie morgen an.«
Unterdessen waren wir mit dem Bett fertig. »Da wäre dein Lager«, sagte Mr. Antolini. »Ich weiß nur nicht, was zum Kuckuck du mit deinen Beinen anfangen willst.«
»Das geht schon. Ich bin kurze Betten gewöhnt«, sagte ich. »Vielen Dank, Sir. Sie und Ihre Frau haben mir wirklich heute nacht das Leben gerettet.«
»Du weißt ja, wo das Badezimmer ist. Wenn du noch irgend etwas brauchst, schrei einfach. Ich bin vorläufig noch in der Küche - das Licht stört dich doch sicher nicht?«
»Nein, wahrhaftig nicht. Vielen Dank.«
»Schön. Dann gute Nacht, mein Hübscher!«
»Gute Nacht, Sir. Danke vielmals.«
Er verschwand in die Küche, und ich ging ins Badezimmer und zog mich aus und so. Die Zähne konnte ich mir nicht putzen, weil ich keine Zahnbürste bei mir hatte. Ich hatte auch keinen Pyjama, und Mr. Antolini hatte vergessen, mir einen zu leihen. Ich ging also ins Wohnzimmer zurück, drehte die kleine Lampe neben der Couch aus und legte mich nur in meinen kurzen Unterhosen ins Bett.
Die Couch war viel zu kurz für mich, aber ich hätte tatsächlich auch im Stehen schlafen können, sogar ohne die Augen zuzumachen. Ich lag noch ein paar Sekunden wach und dachte an alles, was Mr. Antolini gesagt hatte. Daß man seine eigenen geistigen Möglichkeiten kennenlernen müsse und so weiter. Er war wirklich ein intelligenter Mensch. Aber ich konnte meine verdammten Augen nicht offenhalten und schlief ein.
Dann passierte etwas, das ich nicht gern erzähle.
Ich wachte plötzlich auf. Ich weiß nicht, wieviel Uhr es war und so, aber jedenfalls wachte ich plötzlich auf. Ich fühlte etwas am Kopf, irgendeine Hand. Ich erschrak fürchterlich. Es war Mr. Antolinis Hand. Er saß neben der Couch am Boden, im Dunkeln, und streichelte oder tätschelte meinen verdammten Kopf. Ich machte einen meterhohen Luftsprung, glaube ich.
»Was zum Teufel machen Sie denn?« fragte ich.
»Nichts! Ich sitze nur hier und bewundere -«
»Aber was machen Sie denn?« fragte ich wieder. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte - ich fand es wahnsinnig peinlich.
»Könntest du nicht deine Stimme etwas dämpfen? Ich sitze hier nur-«
»Ich muß ohnedies«, sagte ich. Großer Gott, ich war vielleicht nervös. Ich fing im Dunkeln an, meine verdammten Hosen anzuziehen. Aber ich war so nervös, daß ich kaum dazu imstand war. Mir sind in den Schulen sicher mehr Perverse begegnet als jedem andern Menschen, und immer müssen sie sich ausgerechnet dann pervers aufführen, wenn ich in der Nähe bin.
»Wohin mußt du fortgehen?« fragte Mr. Antolini. Er versuchte sich verdammt gelassen und nonchalant zu benehmen, aber es war in Wirklichkeit nicht weit her damit, das kann man mir glauben.
»Ich habe noch meine Koffer und alles am Bahnhof. Vielleicht sollte ich lieber hingehn und sie holen. Ich hab meine sämtlichen Sachen drin.«
»Die sind morgen auch noch da. Geh nur wieder ins Bett. Ich selber geh jetzt auch schlafen. Was ist denn mit dir los?«
»Gar nichts, nur weil in meinem Koffer mein ganzes Geld ist. Ich komme gleich wieder zurück. Ich nehme ein Taxi und bin gleich wieder da«, sagte ich. Herr im Himmel, ich fiel im Dunkeln fast über mich selber. »Das Geld ist eben nicht meines. Es gehört meiner Mutter, und ich -«
»Sei nicht lächerlich, Holden. Geh wieder ins Bett. Ich geh selber auch. Das Geld ist auch morgen früh noch unver -«
»Nein, im Ernst. Ich muß es holen. Wirklich.« Ich war schon fast fertig angezogen, nur meine Krawatte fand ich nirgends. Ich konnte mich nicht erinnern, wo ich sie hingelegt hatte. Ich gab es auf und zog nur die Jacke an. Der gute Antolini saß jetzt etwas weiter weg in dem großen Sessel und beobachtete mich.
Obwohl es so dunkel war und ich ihn nicht richtig sehen konnte, wußte ich doch ganz genau, daß er mich anschaute. Er trank immer noch. Ich konnte das Whiskyglas in seiner Hand erkennen.
»Du bist ein sehr, sehr sonderbarer Bursche.«
»Ich weiß«, sagte ich. Meine Krawatte gab ich endgültig auf.
Ich ging einfach ohne Krawatte weg. »Auf Wiedersehen, Sir«, sagte ich. »Vielen Dank, wirklich.«
Er ging hinter mir her, während ich zur Wohnungstür ging, und als ich am Lift läutete, blieb er in dem verdammten Türrahmen stehen. Er sagte nur wieder, daß ich »ein sehr, sehr sonderbarer Bursche« sei. Sonderbar, weiß der Himmel. Dann wartete er im Türrahmen, bis dieser gottverfluchte Lift kam. Ich habe in meinem ganzen verdammten Leben noch nie so lange auf einen Lift gewartet, das schwöre ich.
Ich wußte nicht, über was ich reden sollte, während ich auf den Lift wartete, aber da er immer weiter dort stehenblieb, sagte ich: »Ich will jetzt damit anfangen, ein paar gute Bücher zu lesen. Das habe ich fest vor.« Man mußte doch irgend etwas sagen. Es war furchtbar peinlich.
»Also hol deine Koffer und komm gleich zurück. Ich schließe die Tür nicht ab.«
»Danke vielmals«, sagte ich. »Auf Wiedersehn!« Der Lift war jetzt endlich da. Ich stieg ein und fuhr hinunter. Herrgott, ich zitterte wie verrückt. Und schwitzte außerdem. Wenn so etwas passiert, fange ich immer an zu schwitzen. So'n Zeug habe ich mindestens zwanzigmal erlebt, seit ich klein war. Ich kann das nicht ausstehen.