18. Kapitel
Falls einer nicht in New York lebt, die Wicker
Bar befindet sich in diesem piekfeinen Hotel Seton. Ich ging früher
oft hin, aber jetzt nicht mehr. Ich gewöhne es mir allmählich ab.
Denn es ist ein Treffpunkt für lauter affektiertes Pack. Damals
traten dort zwei Französinnen auf, Tina und Janine. Ungefähr
dreimal an jedem Abend spielte die eine Klavier - absolut unmöglich
-, die andere sang Chansons, die entweder reichlich anzüglich oder
französisch waren. Bevor Janine - die singende Dame - anfing,
flüsterte sie immer zuerst in das verdammte Mikrophon: »Und jetzt
möschten wirr Ihnen unsere Impresion geben von Vulez-Vu
Fransä? Es ist die Geschichte von eine kleine Französin, die
kommt in eine große Stadt so wie New York und verliebt sich in eine
kleine Junge von Brokklyn. Hoffentlisch gefällt es Ihnen.«
Dann sang sie höllisch kokett ein blödes Lied, halb englisch und halb französisch, und versetzte damit sämtliche affektierte Esel in helles Entzücken. Wenn man lang genug dabei saß und sich den Applaus anhörte, bekam man nur einen Haß gegen alle Menschen auf der Welt. Auch der Mixer an der Bar war ekelhaft. Er war ein fürchterlicher Snob und redete kaum mit jemand, der nicht berühmt oder ein großes Tier oder etwas Ähnliches war. Mit jemand, der berühmt oder ein großes Tier war, benahm er sich aber noch viel schlimmer. Zu diesen Leuten sagte er mit dem breitesten, charmantesten Lächeln: »So, wie steht's in Connecticut?« oder »Wie steht's in Florida?«, es ist eine gräßliche Bar. Wirklich. Ich gehe allmählich überhaupt nicht mehr dorthin.
Da ich ziemlich früh dort ankam, setzte ich mich an die Bar - es war ziemlich voll - und bestellte zwei Whisky mit Soda, bevor Luce erschien. Ich stand zum Bestellen auf, damit sie meine Größe sehen konnten und mich nicht für einen verdammten Minderjährigen hielten. Dann betrachtete ich mir eine Weile lang den ganzen Kitschladen. Einer neben mir kohlte seiner Dame mächtig was vor. Er sagte immer wieder zu ihr, sie habe aristokratische Hände. Das warf mich um. Am andern Ende der Bar saßen lauter höchst zweifelhafte Knaben. Sie sahen eigentlich nicht äußerlich zweifelhaft aus - ich meine, sie hatten weder übertrieben lange Haare noch sonst etwas -, aber man wußte doch gleich Bescheid. Endlich tauchte Luce auf.
Dieser Luce. Das war einer! In Whooton hatte er das Amt gehabt, meine Schularbeiten zu beaufsichtigen, aber er pflegte immer nur über sexuelles Zeug zu dozieren, wenn spät abends eine Gruppe in seinem Zimmer versammelt war. Damit kannte er sich recht gut aus, besonders in bezug auf Perverse und so. Er erzählte uns immer viel von diesen krankhaften Burschen, die es mit Schafen machen oder sich Mädchenschlüpfer als Futter in den Hut nähen. Über Schwule und Lesbierinnen.
Er war über jeden Schwulen und jede Lesbierin in den Vereinigten Staaten informiert. Man brauchte nur irgendeinen beliebigen Namen zu erwähnen, dann teilte der gute Luce mit, ob der Betreffende pervers oder normal war. Oft traute ich meinen Ohren kaum, wenn er von Filmschauspielern und solchen Leuten redete. Lieber Gott, manche, die er als pervers bezeichnete, waren sogar verheiratet.
Ich sagte immer wieder: »Meinst du das wirklich von Joe Blow? Joe Blow? Dieser große, wilde Kerl, der immer Gangster und Cowboys spielt?« Und Luce antwortete: »Ganz gewiß.« Er sagte immer »ganz gewiß«. Er behauptete, es spiele keine Rolle, ob einer verheiratet oder unverheiratet sei. Die Hälfte aller verheirateten Männer sei pervers, nur wüßten sie es manchmal nicht. Er sagte, man könne von einem Tag auf den andern pervers werden, und jagte uns damit den größten Schrecken ein.
Ich wartete immer auf diese Verwandlung zum Schwulen bei mir. Komischerweise war aber wohl gerade Luce selbst ein bißchen schwul. Immer wenn man den Korridor entlangkam, sagte er: »Probiern Sie das doch mal an, wegen der Größe«, und dann kitzelte er einen wie verrückt.
Wenn er zum Beispiel auf die Toilette ging, ließ er immer die verdammte Tür offenstehen und schwätzte, während man sich die Zähne putzte oder sich wusch. So etwas gehört sicher schon in diese Richtung. Ich habe in den Schulen eine ganze Reihe von dieser Art kennengelernt, und alle machten mit Vorliebe solches Zeug. Deshalb hatte ich immer meine Zweifel über den guten Luce selber. Er war übrigens recht intelligent, das muß man sagen. Er sagte nie guten Tag. Als er sich zu mir setzte, sagte er statt einer Begrüßung, er könne nur ein paar Minuten bleiben. Er sei verabredet.
Dann bestellte er einen Martini.
»Du, ich habe einen Perversen für dich«, sagte ich. »Drüben an der Bar. Schau aber jetzt nicht hin. Ich habe ihn für dich reserviert.«
»Sehr witzig«, sagte er. »Typisch Caulfield. Wann wirst du wohl erwachsen?«
Ich langweilte ihn offenbar sehr. Aber er amüsierte mich. Er gehört zu den Leuten, die mich immer sehr amüsieren.
»Was macht dein Liebesleben?« fragte ich. Er konnte es nicht ertragen, wenn man solche Fragen an ihn stellte.
»Entspanne dich«, sagte er. »Mach's dir gemütlich und entspann dich, um Himmels willen.«
»Ich bin schon entspannt«, sagte ich. »Wie ist es in Columbia? Gefällt es dir?«
»Ganz gewiß. Sonst wäre ich nicht auf diese Universität gegangen.« Er konnte auch oft reichlich langweilig sein.
»Was studierst du?« fragte ich. »Perverse?« Ich machte nur Unsinn.
»Versuchst du vielleicht geistreich zu sein?«
»Nein, ich mache nur Spaß«, sagte ich. »Aber jetzt im Ernst, Luce. Du bist ein Intellektueller. Ich brauche deinen Rat. Ich bin in einer fürchterlichen -«
Er stöhnte laut. »Hör mal, Caulfield. Wenn du hier sitzen und friedlich trinken willst und zu einer ruhigen, friedlichen Unterhaltung bereit bist -«
»Schon gut, schon gut«, sagte ich, »reg dich nicht auf.«
Offensichtlich war er nicht in der Stimmung, über irgend etwas Ernsthaftes mit mir zu sprechen. Das ist mit diesen Intellektuellen immer so. Sie wollen nur dann über etwas Ernsthaftes reden, wenn sie selbst dazu aufgelegt sind. Ich begnügte mich also mit allgemeinen Themen. »Sag mir im Ernst, was macht dein Liebesleben?« fragte ich. »Hast du immer noch die gleiche wie damals in Whooton? Die mit den tollen -«
»Großer Gott, nein«, sagte er.
»Warum nicht? Was ist aus ihr geworden?«
»Keine Ahnung. Aber vermutlich, wenn du schon fragst, ist sie die Oberhure von New Hampshire geworden.«
»Das ist aber nicht nett. Wenn sie so anständig war und die ganze Zeit für dich hergehalten hat, dann solltest du wenigstens nicht in der Art über sie reden.«
»O Gott!« sagte Luce. »Soll das ein typisches Caulfield-Gespräch werden? Ich will's lieber gleich wissen.«
»Nein«, sagte ich, »aber jedenfalls ist das nicht nett. Wenn sie so anständig und freundlich war und dich -«
»Müssen wir unbedingt diese schrecklichen Gedankengänge weiterverfolgen?«
Ich schwieg. Ich fürchtete, daß er aufstehen und mich sitzenlassen könnte, wenn ich noch etwas davon sagte. Ich bestellte also nur einen dritten Whisky. Ich hatte Lust, mich gründlich zu betrinken.
»Welche hast du jetzt?« fragte ich. »Willst du mir das verraten?«
»Keine, die du kennst.«
»Aber wie heißt sie. Vielleicht kenne ich sie doch.«
»Eine von Greenwich Village. Bildhauerin. Wenn du das wissen mußt.«
»Wirklich? Im Ernst? Wie alt ist sie?«
»Das hab ich sie nie gefragt, um Himmels willen.«
»Aber wie alt ungefähr?«
»Wohl Ende Dreißig denke ich«, sagte Luce.
»Ende Dreißig? Wirklich? Hast du das gern?« fragte ich. »Hast du es gern, wenn die Frauen so alt sind?« Ich fragte ihn deshalb, weil er wirklich etwas von diesem Gebiet verstand. Er gehörte in meinem Bekanntenkreis zu den wenigen, von denen ich das wußte. Er hatte schon mit vierzehn Jahren seine Unschuld verloren. Tatsächlich.
»Ich schätze reife Frauen sehr, falls du das damit meinst. Ganz gewiß.«
»So? Warum? Im Ernst, eignen sie sich besser dafür?«
»Hör mal, wir wollen einen Punkt klarstellen. Ich lehne es ab, heute abend irgendwelche typischen Caulfield-Fragen zu beantworten. Wann zum Teufel wirst du wohl erwachsen?«
Ich schwieg wieder. Ich gab es eine Weile auf. Dann bestellte Luce einen zweiten Martini.
»Seit wann hast du denn diese Bildhauerin?« fragte ich. Es interessierte mich wirklich. »Hast du sie schon gekannt, als du noch in Whooton warst?«
»Das nicht. Sie kam erst vor ein paar Monaten nach Amerika.«
»Wirklich? Wo kommt sie her?«
»Von Shanghai.«
»Im Ernst? Eine Chinesin, um Himmels willen?«
»Offenbar.«
»Tatsächlich? Gefällt dir das? Daß sie eine Chinesin ist?«
»Offenbar.«
»Warum? Das interessiert mich wirklich, ganz im Ernst.«
»Ich finde eben zufällig die Philosophie des Ostens befriedigender als die westliche, wenn du mich schon fragst.«
»So? Was meinst du mit Philosophie? Das Sexuelle und so? Ist das in China besser? Meinst du das damit?«
»Nicht unbedingt in China, großer Gott. Des Ostens, habe ich gesagt. Müssen wir dieses geistlose Gespräch fortsetzen?«
»Ich meine es aber ganz ernst«, sagte ich. »Warum ist das im Osten besser?«
»Das ist ein zu kompliziertes Thema, um jetzt näher darauf einzugehen, großer Gott«, sagte Luce. »Im Osten betrachten sie eben das Sexuelle sowohl als physisches wie geistiges Erlebnis. Falls du das meinst, daß ich -«
»Ich auch! Genauso betrachte ich es auch, als ein - wie hast du gerade gesagt - sowohl physisches wie geistiges Erlebnis. Ich denke wirklich so darüber. Aber es hängt eben davon ab, mit wem zum Teufel ich es zu tun habe. Wenn es eine ist, die nicht einmal -«
»Nicht so laut, um Himmels willen, Caulfield. Wenn du deine Stimme nicht dämpfen kannst, dann wollen wir lieber das ganze Thema-«
»Schön, aber hör mir zu«, sagte ich. Ich wurde aufgeregt und redete tatsächlich etwas zu laut. Manchmal schreie ich ein bißchen, wenn ich aufgeregt bin. »Ja, das meine ich auch«, sagte ich. »Ich weiß, es soll körperlich und geistig eine Kunst und so sein, aber ich meine, es gelingt nicht mit jedem, jedem Mädchen, das man küßt und so, oder gelingt es dir immer?«
»Lassen wir das Thema fallen«, sagte Luce. »Hast du etwas dagegen?«
»Nein, aber zum Beispiel diese Chinesin und du. Was ist denn bei euch so Besonderes dran?«
»Wir wollen das Thema fallenlassen, hab ich gesagt.«
Ich wurde zu persönlich. Das sehe ich ein. Aber es gehörte zu seinen verstimmenden Eigenschaften, schon damals in Whooton, daß er das allerpersönlichste Zeug von einem wissen wollte und sich ärgerte, wenn man persönliche Fragen an ihn selber stellte. Diese Intellektuellen wollen nur dann ein intellektuelles Gespräch führen, wenn sie das Ganze beherrschen. Immer soll man schweigen, wenn sie selbst schweigen wollen. In Whooton konnte es Luce nicht ausstehen - das merkte man deutlich -, wenn er mit seinem sexuellen Vortrag fertig war und ein paar von uns noch in seinem Zimmer sitzen blieben und weiterschwätzten. Ich meine, die anderen Jungens und ich, in irgend jemands Zimmer. Das machte ihn wütend. Alle sollten in ihre Zimmer gehen und schweigen, sobald er nicht mehr die erste Geige spielte. Er hatte eben Angst, daß jemand etwas Gescheiteres sagen könnte als er. Er amüsierte mich wirklich.
»Vielleicht gehe ich nach China«, sagte ich. »Mein Liebesleben ist ein Elend.«
»Natürlich. Du bist eben innerlich unreif.«
»Das stimmt. Wahrhaftig, das weiß ich selber«, sagte ich. »Weißt du, an was es bei mir fehlt? Ich komme nie in eine richtige physische Stimmung - ich meine, wirklich in eine richtig physische -, wenn ich ein Mädchen nicht sehr gern habe. Ich meine, ich muß sie schon wirklich gern haben. Wenn das nicht so ist, dann habe ich schon gleich keine Lust mehr auf sie. Herr im Himmel, das kompliziert diese Sache fürchterlich für mich. Mein Liebesleben hinkt.«
»Selbstverständlich, großer Gott. Schon bei unserer letzten Begegnung habe ich dir gesagt, was du nötig hättest.«
»Eine Psychoanalyse, meinst du?« fragte ich. Dazu hatte er mir damals geraten. Sein Vater war Psychoanalytiker.
»Das ist deine Sache, großer Gott. Mich geht es wahrhaftig nichts an, was du aus deinem Leben machst.«
Ich sagte eine Zeitlang nichts. Ich dachte nach.
»Und wenn ich zu deinem Vater ginge und mich analysieren ließe«, sagte ich schließlich, »was würde er dann mit mir machen? Ich meine - was würde er mit mir machen?«
»Du lieber Himmel, gar nichts würde er mit dir machen. Er würde einfach mit dir sprechen, und du würdest mit ihm sprechen. Aber erst einmal würde er dir dazu verhelfen, daß du deine eigene Gefühlswelt erkennst.«
»Meine Gefühlswelt?«
»Ja. Dein Gefühlsleben spielt sich in... Aber ich gebe keinen Elementarkurs für Psychoanalyse. Wenn es dich interessiert, dann ruf ihn an und mach eine Konsultation mit ihm ab. Wenn nicht, dann laß es bleiben. Es könnte mir nicht gleichgültiger sein als es ist, ehrlich gesagt.«
Ich legte ihm die Hand auf die Schulter. Er amüsierte mich, Herr im Himmel. »Du bist ein freundlicher Hund«, sagte ich. »Weißt du das?«
Er schaute auf seine Armbanduhr. »Ich muß eiligst weg«, sagte er und stand auf. »War nett, dich zu sehen.« Er rief den Mixer und ließ sich die Rechnungen geben.
»Du«, sagte ich, als er gerade gehen wollte. »Hat dein Vater dich auch einmal analysiert?«
»Mich? Warum fragst du das?«
»Ohne Grund. Aber hat er das getan?«
»Nicht eigentlich. Er hat mir dabei geholfen, mich bis zu einem gewissen Grad auszubalancieren, aber eine eingehendere Analyse war nicht nötig. Warum fragst du?«
»Aus keinem besonderen Grund. Ich wollte es nur wissen.«
»Schön. Nimm's nicht zu schwer«, sagte er. Er legte das Trinkgeld hin und wollte gehen.
»Trink noch eins«, sagte ich. »Bitte. Ich bin wahnsinnig allein. Im Ernst.«
Er sagte aber, er könne leider nicht bleiben. Er habe sich schon verspätet. Dann ging er hinaus.
Dieser Luce. Von ihm konnte man wirklich Bauchkrämpfe bekommen, aber zweifellos hatte er einen reichen Wortschatz.
Er hatte den größten Wortschatz von allen in Whooton, als ich dort war. Wir waren einmal getestet worden.
Dann sang sie höllisch kokett ein blödes Lied, halb englisch und halb französisch, und versetzte damit sämtliche affektierte Esel in helles Entzücken. Wenn man lang genug dabei saß und sich den Applaus anhörte, bekam man nur einen Haß gegen alle Menschen auf der Welt. Auch der Mixer an der Bar war ekelhaft. Er war ein fürchterlicher Snob und redete kaum mit jemand, der nicht berühmt oder ein großes Tier oder etwas Ähnliches war. Mit jemand, der berühmt oder ein großes Tier war, benahm er sich aber noch viel schlimmer. Zu diesen Leuten sagte er mit dem breitesten, charmantesten Lächeln: »So, wie steht's in Connecticut?« oder »Wie steht's in Florida?«, es ist eine gräßliche Bar. Wirklich. Ich gehe allmählich überhaupt nicht mehr dorthin.
Da ich ziemlich früh dort ankam, setzte ich mich an die Bar - es war ziemlich voll - und bestellte zwei Whisky mit Soda, bevor Luce erschien. Ich stand zum Bestellen auf, damit sie meine Größe sehen konnten und mich nicht für einen verdammten Minderjährigen hielten. Dann betrachtete ich mir eine Weile lang den ganzen Kitschladen. Einer neben mir kohlte seiner Dame mächtig was vor. Er sagte immer wieder zu ihr, sie habe aristokratische Hände. Das warf mich um. Am andern Ende der Bar saßen lauter höchst zweifelhafte Knaben. Sie sahen eigentlich nicht äußerlich zweifelhaft aus - ich meine, sie hatten weder übertrieben lange Haare noch sonst etwas -, aber man wußte doch gleich Bescheid. Endlich tauchte Luce auf.
Dieser Luce. Das war einer! In Whooton hatte er das Amt gehabt, meine Schularbeiten zu beaufsichtigen, aber er pflegte immer nur über sexuelles Zeug zu dozieren, wenn spät abends eine Gruppe in seinem Zimmer versammelt war. Damit kannte er sich recht gut aus, besonders in bezug auf Perverse und so. Er erzählte uns immer viel von diesen krankhaften Burschen, die es mit Schafen machen oder sich Mädchenschlüpfer als Futter in den Hut nähen. Über Schwule und Lesbierinnen.
Er war über jeden Schwulen und jede Lesbierin in den Vereinigten Staaten informiert. Man brauchte nur irgendeinen beliebigen Namen zu erwähnen, dann teilte der gute Luce mit, ob der Betreffende pervers oder normal war. Oft traute ich meinen Ohren kaum, wenn er von Filmschauspielern und solchen Leuten redete. Lieber Gott, manche, die er als pervers bezeichnete, waren sogar verheiratet.
Ich sagte immer wieder: »Meinst du das wirklich von Joe Blow? Joe Blow? Dieser große, wilde Kerl, der immer Gangster und Cowboys spielt?« Und Luce antwortete: »Ganz gewiß.« Er sagte immer »ganz gewiß«. Er behauptete, es spiele keine Rolle, ob einer verheiratet oder unverheiratet sei. Die Hälfte aller verheirateten Männer sei pervers, nur wüßten sie es manchmal nicht. Er sagte, man könne von einem Tag auf den andern pervers werden, und jagte uns damit den größten Schrecken ein.
Ich wartete immer auf diese Verwandlung zum Schwulen bei mir. Komischerweise war aber wohl gerade Luce selbst ein bißchen schwul. Immer wenn man den Korridor entlangkam, sagte er: »Probiern Sie das doch mal an, wegen der Größe«, und dann kitzelte er einen wie verrückt.
Wenn er zum Beispiel auf die Toilette ging, ließ er immer die verdammte Tür offenstehen und schwätzte, während man sich die Zähne putzte oder sich wusch. So etwas gehört sicher schon in diese Richtung. Ich habe in den Schulen eine ganze Reihe von dieser Art kennengelernt, und alle machten mit Vorliebe solches Zeug. Deshalb hatte ich immer meine Zweifel über den guten Luce selber. Er war übrigens recht intelligent, das muß man sagen. Er sagte nie guten Tag. Als er sich zu mir setzte, sagte er statt einer Begrüßung, er könne nur ein paar Minuten bleiben. Er sei verabredet.
Dann bestellte er einen Martini.
»Du, ich habe einen Perversen für dich«, sagte ich. »Drüben an der Bar. Schau aber jetzt nicht hin. Ich habe ihn für dich reserviert.«
»Sehr witzig«, sagte er. »Typisch Caulfield. Wann wirst du wohl erwachsen?«
Ich langweilte ihn offenbar sehr. Aber er amüsierte mich. Er gehört zu den Leuten, die mich immer sehr amüsieren.
»Was macht dein Liebesleben?« fragte ich. Er konnte es nicht ertragen, wenn man solche Fragen an ihn stellte.
»Entspanne dich«, sagte er. »Mach's dir gemütlich und entspann dich, um Himmels willen.«
»Ich bin schon entspannt«, sagte ich. »Wie ist es in Columbia? Gefällt es dir?«
»Ganz gewiß. Sonst wäre ich nicht auf diese Universität gegangen.« Er konnte auch oft reichlich langweilig sein.
»Was studierst du?« fragte ich. »Perverse?« Ich machte nur Unsinn.
»Versuchst du vielleicht geistreich zu sein?«
»Nein, ich mache nur Spaß«, sagte ich. »Aber jetzt im Ernst, Luce. Du bist ein Intellektueller. Ich brauche deinen Rat. Ich bin in einer fürchterlichen -«
Er stöhnte laut. »Hör mal, Caulfield. Wenn du hier sitzen und friedlich trinken willst und zu einer ruhigen, friedlichen Unterhaltung bereit bist -«
»Schon gut, schon gut«, sagte ich, »reg dich nicht auf.«
Offensichtlich war er nicht in der Stimmung, über irgend etwas Ernsthaftes mit mir zu sprechen. Das ist mit diesen Intellektuellen immer so. Sie wollen nur dann über etwas Ernsthaftes reden, wenn sie selbst dazu aufgelegt sind. Ich begnügte mich also mit allgemeinen Themen. »Sag mir im Ernst, was macht dein Liebesleben?« fragte ich. »Hast du immer noch die gleiche wie damals in Whooton? Die mit den tollen -«
»Großer Gott, nein«, sagte er.
»Warum nicht? Was ist aus ihr geworden?«
»Keine Ahnung. Aber vermutlich, wenn du schon fragst, ist sie die Oberhure von New Hampshire geworden.«
»Das ist aber nicht nett. Wenn sie so anständig war und die ganze Zeit für dich hergehalten hat, dann solltest du wenigstens nicht in der Art über sie reden.«
»O Gott!« sagte Luce. »Soll das ein typisches Caulfield-Gespräch werden? Ich will's lieber gleich wissen.«
»Nein«, sagte ich, »aber jedenfalls ist das nicht nett. Wenn sie so anständig und freundlich war und dich -«
»Müssen wir unbedingt diese schrecklichen Gedankengänge weiterverfolgen?«
Ich schwieg. Ich fürchtete, daß er aufstehen und mich sitzenlassen könnte, wenn ich noch etwas davon sagte. Ich bestellte also nur einen dritten Whisky. Ich hatte Lust, mich gründlich zu betrinken.
»Welche hast du jetzt?« fragte ich. »Willst du mir das verraten?«
»Keine, die du kennst.«
»Aber wie heißt sie. Vielleicht kenne ich sie doch.«
»Eine von Greenwich Village. Bildhauerin. Wenn du das wissen mußt.«
»Wirklich? Im Ernst? Wie alt ist sie?«
»Das hab ich sie nie gefragt, um Himmels willen.«
»Aber wie alt ungefähr?«
»Wohl Ende Dreißig denke ich«, sagte Luce.
»Ende Dreißig? Wirklich? Hast du das gern?« fragte ich. »Hast du es gern, wenn die Frauen so alt sind?« Ich fragte ihn deshalb, weil er wirklich etwas von diesem Gebiet verstand. Er gehörte in meinem Bekanntenkreis zu den wenigen, von denen ich das wußte. Er hatte schon mit vierzehn Jahren seine Unschuld verloren. Tatsächlich.
»Ich schätze reife Frauen sehr, falls du das damit meinst. Ganz gewiß.«
»So? Warum? Im Ernst, eignen sie sich besser dafür?«
»Hör mal, wir wollen einen Punkt klarstellen. Ich lehne es ab, heute abend irgendwelche typischen Caulfield-Fragen zu beantworten. Wann zum Teufel wirst du wohl erwachsen?«
Ich schwieg wieder. Ich gab es eine Weile auf. Dann bestellte Luce einen zweiten Martini.
»Seit wann hast du denn diese Bildhauerin?« fragte ich. Es interessierte mich wirklich. »Hast du sie schon gekannt, als du noch in Whooton warst?«
»Das nicht. Sie kam erst vor ein paar Monaten nach Amerika.«
»Wirklich? Wo kommt sie her?«
»Von Shanghai.«
»Im Ernst? Eine Chinesin, um Himmels willen?«
»Offenbar.«
»Tatsächlich? Gefällt dir das? Daß sie eine Chinesin ist?«
»Offenbar.«
»Warum? Das interessiert mich wirklich, ganz im Ernst.«
»Ich finde eben zufällig die Philosophie des Ostens befriedigender als die westliche, wenn du mich schon fragst.«
»So? Was meinst du mit Philosophie? Das Sexuelle und so? Ist das in China besser? Meinst du das damit?«
»Nicht unbedingt in China, großer Gott. Des Ostens, habe ich gesagt. Müssen wir dieses geistlose Gespräch fortsetzen?«
»Ich meine es aber ganz ernst«, sagte ich. »Warum ist das im Osten besser?«
»Das ist ein zu kompliziertes Thema, um jetzt näher darauf einzugehen, großer Gott«, sagte Luce. »Im Osten betrachten sie eben das Sexuelle sowohl als physisches wie geistiges Erlebnis. Falls du das meinst, daß ich -«
»Ich auch! Genauso betrachte ich es auch, als ein - wie hast du gerade gesagt - sowohl physisches wie geistiges Erlebnis. Ich denke wirklich so darüber. Aber es hängt eben davon ab, mit wem zum Teufel ich es zu tun habe. Wenn es eine ist, die nicht einmal -«
»Nicht so laut, um Himmels willen, Caulfield. Wenn du deine Stimme nicht dämpfen kannst, dann wollen wir lieber das ganze Thema-«
»Schön, aber hör mir zu«, sagte ich. Ich wurde aufgeregt und redete tatsächlich etwas zu laut. Manchmal schreie ich ein bißchen, wenn ich aufgeregt bin. »Ja, das meine ich auch«, sagte ich. »Ich weiß, es soll körperlich und geistig eine Kunst und so sein, aber ich meine, es gelingt nicht mit jedem, jedem Mädchen, das man küßt und so, oder gelingt es dir immer?«
»Lassen wir das Thema fallen«, sagte Luce. »Hast du etwas dagegen?«
»Nein, aber zum Beispiel diese Chinesin und du. Was ist denn bei euch so Besonderes dran?«
»Wir wollen das Thema fallenlassen, hab ich gesagt.«
Ich wurde zu persönlich. Das sehe ich ein. Aber es gehörte zu seinen verstimmenden Eigenschaften, schon damals in Whooton, daß er das allerpersönlichste Zeug von einem wissen wollte und sich ärgerte, wenn man persönliche Fragen an ihn selber stellte. Diese Intellektuellen wollen nur dann ein intellektuelles Gespräch führen, wenn sie das Ganze beherrschen. Immer soll man schweigen, wenn sie selbst schweigen wollen. In Whooton konnte es Luce nicht ausstehen - das merkte man deutlich -, wenn er mit seinem sexuellen Vortrag fertig war und ein paar von uns noch in seinem Zimmer sitzen blieben und weiterschwätzten. Ich meine, die anderen Jungens und ich, in irgend jemands Zimmer. Das machte ihn wütend. Alle sollten in ihre Zimmer gehen und schweigen, sobald er nicht mehr die erste Geige spielte. Er hatte eben Angst, daß jemand etwas Gescheiteres sagen könnte als er. Er amüsierte mich wirklich.
»Vielleicht gehe ich nach China«, sagte ich. »Mein Liebesleben ist ein Elend.«
»Natürlich. Du bist eben innerlich unreif.«
»Das stimmt. Wahrhaftig, das weiß ich selber«, sagte ich. »Weißt du, an was es bei mir fehlt? Ich komme nie in eine richtige physische Stimmung - ich meine, wirklich in eine richtig physische -, wenn ich ein Mädchen nicht sehr gern habe. Ich meine, ich muß sie schon wirklich gern haben. Wenn das nicht so ist, dann habe ich schon gleich keine Lust mehr auf sie. Herr im Himmel, das kompliziert diese Sache fürchterlich für mich. Mein Liebesleben hinkt.«
»Selbstverständlich, großer Gott. Schon bei unserer letzten Begegnung habe ich dir gesagt, was du nötig hättest.«
»Eine Psychoanalyse, meinst du?« fragte ich. Dazu hatte er mir damals geraten. Sein Vater war Psychoanalytiker.
»Das ist deine Sache, großer Gott. Mich geht es wahrhaftig nichts an, was du aus deinem Leben machst.«
Ich sagte eine Zeitlang nichts. Ich dachte nach.
»Und wenn ich zu deinem Vater ginge und mich analysieren ließe«, sagte ich schließlich, »was würde er dann mit mir machen? Ich meine - was würde er mit mir machen?«
»Du lieber Himmel, gar nichts würde er mit dir machen. Er würde einfach mit dir sprechen, und du würdest mit ihm sprechen. Aber erst einmal würde er dir dazu verhelfen, daß du deine eigene Gefühlswelt erkennst.«
»Meine Gefühlswelt?«
»Ja. Dein Gefühlsleben spielt sich in... Aber ich gebe keinen Elementarkurs für Psychoanalyse. Wenn es dich interessiert, dann ruf ihn an und mach eine Konsultation mit ihm ab. Wenn nicht, dann laß es bleiben. Es könnte mir nicht gleichgültiger sein als es ist, ehrlich gesagt.«
Ich legte ihm die Hand auf die Schulter. Er amüsierte mich, Herr im Himmel. »Du bist ein freundlicher Hund«, sagte ich. »Weißt du das?«
Er schaute auf seine Armbanduhr. »Ich muß eiligst weg«, sagte er und stand auf. »War nett, dich zu sehen.« Er rief den Mixer und ließ sich die Rechnungen geben.
»Du«, sagte ich, als er gerade gehen wollte. »Hat dein Vater dich auch einmal analysiert?«
»Mich? Warum fragst du das?«
»Ohne Grund. Aber hat er das getan?«
»Nicht eigentlich. Er hat mir dabei geholfen, mich bis zu einem gewissen Grad auszubalancieren, aber eine eingehendere Analyse war nicht nötig. Warum fragst du?«
»Aus keinem besonderen Grund. Ich wollte es nur wissen.«
»Schön. Nimm's nicht zu schwer«, sagte er. Er legte das Trinkgeld hin und wollte gehen.
»Trink noch eins«, sagte ich. »Bitte. Ich bin wahnsinnig allein. Im Ernst.«
Er sagte aber, er könne leider nicht bleiben. Er habe sich schon verspätet. Dann ging er hinaus.
Dieser Luce. Von ihm konnte man wirklich Bauchkrämpfe bekommen, aber zweifellos hatte er einen reichen Wortschatz.
Er hatte den größten Wortschatz von allen in Whooton, als ich dort war. Wir waren einmal getestet worden.