7. Kapitel
Von unserem Zimmer fiel durch den Duschraum ein
schwacher Lichtschimmer zu ihm hinein. Ich konnte erkennen, daß er
im Bett lag. Ich wußte ganz genau, daß er hellwach war.
»Ackley?« sagte ich. »Bist du wach?«
»Ja.«
Es war ziemlich dunkel. Ich trat auf irgendeinen Schuh am Boden und wäre fast umgefallen. Ackley setzte sich im Bett auf und stützte sich auf den Arm. Sein Gesicht war dick mit weißer Salbe eingeschmiert, gegen die Pickel. Er sah im Dunkeln ganz gespenstisch aus. »Was machst du?« fragte ich.
»Was ich mache? Ich habe versucht zu schlafen, bis ihr mit dem Höllenspektakel angefangen habt. Wegen was habt ihr euch denn überhaupt geprügelt?«
»Wo ist der Schalter?« Ich konnte den Lichtschalter nicht finden. Ich tastete die ganze Wand ab.
»Warum mußt du Licht haben?... Dort neben deiner Hand.«
Endlich fand ich den Schalter. Ackley hielt sich die Hand über die Augen, weil es ihn blendete.
»Großer Gott!« sagte er dann. »Was ist denn mit dir passiert?« Er meinte das Blut und alles.
»Ich hatte eine kleine Auseinandersetzung mit Stradlater«, sagte ich. Dann setzte ich mich auf den Boden. Die beiden hatten nie Stühle in ihrem Zimmer. Ich weiß nicht, was zum Kuckuck sie mit ihren Stühlen machten. »Hör mal«, fragte ich, »hättest du Lust auf ein bißchen Canasta?« Er spielte gern Canasta.
»Du blutest immer noch. Du solltest etwas drauftun.«
»Das hört von selber auf. Aber hättest du nicht Lust auf Canasta?«
»Canasta, Herr im Himmel! Weißt du vielleicht, wie spät es ist?«
»Es ist noch gar nicht so spät. Erst ungefähr elf, oder erst halb zwölf.«
»Erst!« sagte er. »Ich muß doch morgen früh aufstehn und in die Messe gehn, um Himmels willen. Ihr fangt da einfach einen Höllenlärm an, mitten in der verdammten - wegen was habt ihr euch denn überhaupt verprügelt?«
»Das ist eine lange Geschichte. Ich will dich nicht damit langweilen, Ackley. Ich habe nur dein Wohl im Auge«, sagte ich. Ich informierte ihn nie über meine Privatangelegenheiten.
Vor allem deshalb nicht, weil er sogar noch dümmer war als Stradlater. Im Vergleich zu ihm war Stradlater ein gottverdammtes Genie. »He«, sagte ich, »kann ich wohl heute nacht in Elys Bett schlafen? Er kommt doch erst morgen abend zurück, nicht?« Ich wußte ganz genau, daß Ely nicht vorher zurückkommen würde. Er fuhr fast jedes Wochenende nach Hause.
»Verdammt, ich weiß doch nicht, wann er zurückkommt«, sagte Ackley.
Junge, wie mich das ärgerte. »Was zum Teufel soll das heißen, daß du nicht weißt? Er kommt überhaupt nie vor Sonntagabend.«
»Nein, aber verflucht noch mal, ich kann deshalb doch nicht jedermann sagen, sie könnten in seinem verdammten Bett schlafen, wenn sie Lust dazu hätten.«
Das war mir zuviel. Ich streckte von meinem Sitzplatz am Boden den Arm aus und klopfte ihm auf die Schulter. »Du bist ein Prinz, Kleiner«, sagte ich. »Weißt du das?«
»Nein, im Ernst - ich kann doch nicht jedem sagen, er könne in Elys-«
»Du bist ein echter Prinz. Ein Gentleman und wahrer Studiosus, Kleiner.« Das stimmte ja sogar.
»Hast du zufällig Zigaretten da? Sag nein, sonst falle ich tot um.«
»Nein, ich habe tatsächlich keine. Aber wegen was habt ihr euch verprügelt?«
Ich gab keine Antwort. Ich stand nur auf, ging ans Fenster und schaute hinaus. Ich fühlte mich plötzlich so allein. Am liebsten wäre ich tot gewesen.
»Wegen was zum Teufel habt ihr euch geprügelt?« fragte Ackley zum fünfzigstenmal. Er war wirklich hartnäckig. »Wegen dir«, sagte ich.
»Um Himmels willen, wegen mir?«
»Jawohl. Ich habe deine verdammte Ehre verteidigt. Stradlater sagte, du wärst ein ekelhafter Mensch. Das konnte ich ihm nicht durchgehen lassen.«
Ackley wurde ganz aufgeregt. »Wirklich? Im Ernst? Hat er das wirklich gesagt?«
Ich sagte, es sei alles nur Blödsinn, und dann legte ich mich auf Elys Bett. Es war mir reichlich schlecht. Ich fühlte mich so verdammt allein.
»In diesem Zimmer stinkt es«, sagte ich. »Ich kann sogar von hier aus deine Socken riechen. Gibst du sie nie zum Waschen?«
»Wenn's dir nicht paßt, weißt du ja, was du tun kannst«, sagte Ackley. Wie geistreich. »Wie wär's, wenn du dieses verdammte Licht ausdrehen würdest?«
Ich ließ es aber vorläufig noch brennen. Ich blieb auf Elys Bett liegen und dachte an Jane und alles.
Es machte mich einfach rasend, wenn ich sie mir mit Stradlater im Auto von diesem Fettarsch Ed Banky vorstellte.
Sobald ich daran dachte, hätte ich aus dem Fenster springen können. Ich kannte Stradlater viel zu gut. Die meisten andern in Pencey schwätzten nur von mit Mädchen schlafen - so wie Ackley zum Beispiel -, aber bei Stradlater war es kein Geschwätz. Ich kannte selber mindestens zwei Mädchen, mit denen er's gemacht hatte. Das ist die reine Wahrheit.
»Erzähl mir die Geschichte deines faszinierenden Lebens, Kleiner«, sagte ich.
»Könntest du vielleicht das verfluchte Licht ausdrehen? Ich muß morgen früh in die Messe.«
Ich stand auf und drehte es aus, um zu seinem Glück beizutragen. Dann legte ich mich wieder auf Elys Bett.
»Was willst du weiter tun - in Elys Bett schlafen?« fragte Ackley. Er war der vollendete Gastgeber, wahrhaftig.
»Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Mach dir keine Sorgen.«
»Ich mach mir keine Sorgen. Es wäre mir nur verdammt unangenehm, wenn Ely plötzlich käme und fände in seinem Bett einen -«
»Beruhige dich. Ich werde nicht hier schlafen. Ich möchte deine verdammte Gastfreundschaft nicht ausnützen.«
Ein paar Minuten später schnarchte er schon aus Leibeskräften. Ich lag im Dunkeln und versuchte, nicht an Jane und Stradlater in dem verdammten Auto zu denken. Aber das war fast unmöglich. Ich kannte Stradlaters Methoden leider zu gut. Einmal hatten wir zu viert in Ed Bankys Auto gesessen.
Stradlater mit seinem Mädchen im Fond und ich vorne mit meinem. Was dieser Mensch für eine Technik hatte! Erst fing er an, ihr zu schmeicheln, mit einer ruhigen, aufrichtigen Stimme - so, als ob er nicht nur ein besonders hübscher Bursche wäre, sondern auch ein netter, aufrichtiger Bursche.
Mir wurde schlecht, nur vom Zuhören. Das Mädchen sagte immer wieder: »Nein - bitte nicht. Bitte nicht so. Bitte.« Aber er redete immer weiter mit dieser ruhigen, aufrichtigen Abraham-Lincoln-Stimme auf sie ein, und schließlich war nur noch eine fürchterliche Stille hinten im Wagen. Es war wirklich schlimm.
Er hat es wohl damals nicht mit dem Mädchen gemacht, aber es war nah dran. Verdammt nah.
Während ich dalag und nichts zu denken versuchte, kam Stradlater vom Waschraum zurück und ging in unser Zimmer.
Man konnte deutlich hören, wie er sein Toilettenzeug weglegte und das Fenster aufmachte. Er war ein Frischluftfanatiker. Kurz darauf drehte er das Licht aus. Er kümmerte sich überhaupt nicht darum, wo ich war.
Sogar draußen auf der Straße war es deprimierend. Man hörte kein einziges Auto mehr. Mir war so einsam und elend zumut, daß ich sogar Ackley gern geweckt hätte.
»He, Ackley«, flüsterte ich, damit Stradlater mich nicht durch die Vorhänge vom Duschraum hörte. Aber Ackley wachte nicht auf.
»He, Ackley!« Er hörte mich immer noch nicht. Er schlief wie ein Fels.
»He, Ackley!« - Das weckte ihn endlich.
»Was ist jetzt wieder los?« fragte er. »Ich hab geschlafen, verflucht noch mal.«
»Du, was muß man eigentlich tun, um ins Kloster zu gehen?« fragte ich. Ich spielte nämlich mit diesem Gedanken. »Muß man dafür katholisch sein und so weiter?«
»Natürlich muß man katholisch sein. Du Idiot, hast du mich mir geweckt, um blöde Fragen-«
»Ach, schlaf nur weiter. Ich geh ohnedies in keins. Bei dem Pech, das ich immer habe, käme ich wahrscheinlich in eins, wo nur die verkehrte Sorte von Mönchen ist. Lauter gemeine Esel. Jedenfalls Esel.«
Als ich das sagte, fuhr Ackley in seinem Bett in die Höhe.
»Hör mal«, sagte er, »über mich oder sonst etwas kannst du sagen, was du willst, aber wenn du anfängst, über meine verdammte Religion zu -«
»Reg dich nicht auf. Kein Mensch sagt etwas gegen deine verdammte Religion.« Ich stand auf und ging zur Tür. Ich wollte nicht mehr in dieser blöden Atmosphäre sein. Unterwegs blieb ich stehen, nahm Ackleys Hand und drückte sie mit gespielter Herzlichkeit. Er zog sie weg. »Was soll das bedeuten?« fragte er.
»Nichts. Ich möchte dir nur dafür danken, daß du so ein gottverdammter Prinz bist, das ist alles«, sagte ich betont treuherzig. »Du bist ein Prachtmensch, kleiner Ackley, weißt du das?«
»Wie geistreich. Einmal wird dir jemand eine ordentliche Tracht-«
Ich hielt mich nicht damit auf, ihm zuzuhören. Ich machte die blöde Tür hinter mir zu und stand im Gang.
Alle schliefen oder waren ausgegangen oder übers Wochenende heimgefahren, und es war totenstill und niederdrückend im Gang. Vor Leahys und Hoffmanns Zimmer lag die leere Umhüllung einer Kolynos-Tube, und ich gab ihr ein paar Tritte mit meinen pelzgefütterten Pantoffeln, während ich auf die Treppe zu ging. Ich dachte, ich könnte unten nachsehen, was Brossard machte. Aber plötzlich änderte ich diese Absicht.
Ganz plötzlich beschloß ich, von Pencey wegzugehen - jetzt sofort, mitten in der Nacht, und nicht noch bis Mittwoch zu warten. Ich hatte einfach keine Lust mehr, noch länger da herumzuhängen. Es machte mich viel zu traurig und einsam. Ich wollte in New York in ein Hotel gehen - in irgendein billiges Hotel - und mich bis Mittwoch erholen. Am Mittwoch wollte ich dann ausgeruht und frisch bei Kräften heimgehen.
Wahrscheinlich bekamen meine Eltern erst am Dienstag oder Mittwoch Thurmers Nachricht, daß ich geflogen war. Ich wollte nicht heimkommen, bevor sie den Brief gelesen und verdaut hatten. Ich wollte nicht im ersten Augenblick schon dabeisein.
Meine Mutter kann sich sehr hysterisch benehmen. Wenn sie etwas erst einmal richtig verdaut hat, ist sie zwar gar nicht so übel. Außerdem hatte ich ein bißchen Ferien nötig. Ich war mit meinen Nerven vollkommen runter, ganz im Ernst.
Ich entschloß mich also, wegzugehen, ging in unser Zimmer zurück und machte Licht, um meine Sachen zu packen. Das meiste hatte ich schon gepackt. Stradlater wachte nicht einmal auf. Ich rauchte eine Zigarette und zog mich an und packte dann meine beiden Handkoffer. Das dauerte nur zwei Minuten. Ich kann sehr rasch packen.
Ein einziger Punkt deprimierte mich dabei. Nämlich die neuen Schlittschuhe, die mir meine Mutter erst vor ein paar Tagen geschickt hatte. Das bedrückte mich wirklich. Ich stellte mir vor, wie meine Mutter zu Spauldings gegangen war und dem Verkäufer einen Haufen törichte Fragen gestellt hatte, und jetzt flog ich schon wieder von dieser Schule. Das machte mich traurig. Sie hatte mir die verkehrten Schlittschuhe gekauft - ich wollte Rennschlittschuhe, und die hier waren für Hockey -, aber es machte mich trotzdem traurig. Fast jedesmal, wenn mir jemand etwas schenkt, endet es damit, daß ich traurig werde.
Als ich gepackt hatte, zählte ich mein Geld. Ich erinnere mich nicht mehr genau, wieviel es war, aber jedenfalls ziemlich viel.
Meine Großmutter hatte mir gerade vor einer Woche einen Haufen geschickt. Sie geht sehr großzügig damit um. Sie hat nicht mehr alle Tassen im Schrank - sie ist alt wie ich weiß nicht was - und schenkt mir mindestens viermal im Jahr Geld zum Geburtstag. Aber obwohl ich also reichlich versehen war, dachte ich, ein paar Dollar mehr könnten nichts schaden.
Man weiß nie. Deshalb ging ich zu Frederick Woodruff hinunter, dem ich meine Schreibmaschine geliehen hatte. Ich weckte ihn und fragte, wieviel er mir für diese Maschine zahlen würde. Er war sehr reich. Er sagte, er könne das jetzt nicht entscheiden. Er wolle sie eigentlich gar nicht kaufen.
Schließlich kaufte er sie doch. Sie hatte gegen neunzig Dollar gekostet, und er bezahlte nur zwanzig dafür. Er war schlechter Laune, weil ich ihn geweckt hatte.
Als ich mit allem fertig war, blieb ich mit meinen Koffern noch eine Weile an der Treppe stehen und warf einen letzten Blick auf den verdammten Gang. Dabei heulte ich sozusagen.
Ich weiß nicht warum. Ich setzte meine rote Jagdmütze auf, mit dem Schild nach hinten, so wie ich es am liebsten hatte, und schrie so laut ich konnte: »Schlaft gut, ihr Idioten!« Sicher wachten im ganzen Stockwerk alle auf. Dann machte ich mich davon. Irgendein Esel hatte die Treppe mit Erdnußschalen bestreut, so daß ich mir beinahe meinen verrückten Hals gebrochen hätte.
»Ackley?« sagte ich. »Bist du wach?«
»Ja.«
Es war ziemlich dunkel. Ich trat auf irgendeinen Schuh am Boden und wäre fast umgefallen. Ackley setzte sich im Bett auf und stützte sich auf den Arm. Sein Gesicht war dick mit weißer Salbe eingeschmiert, gegen die Pickel. Er sah im Dunkeln ganz gespenstisch aus. »Was machst du?« fragte ich.
»Was ich mache? Ich habe versucht zu schlafen, bis ihr mit dem Höllenspektakel angefangen habt. Wegen was habt ihr euch denn überhaupt geprügelt?«
»Wo ist der Schalter?« Ich konnte den Lichtschalter nicht finden. Ich tastete die ganze Wand ab.
»Warum mußt du Licht haben?... Dort neben deiner Hand.«
Endlich fand ich den Schalter. Ackley hielt sich die Hand über die Augen, weil es ihn blendete.
»Großer Gott!« sagte er dann. »Was ist denn mit dir passiert?« Er meinte das Blut und alles.
»Ich hatte eine kleine Auseinandersetzung mit Stradlater«, sagte ich. Dann setzte ich mich auf den Boden. Die beiden hatten nie Stühle in ihrem Zimmer. Ich weiß nicht, was zum Kuckuck sie mit ihren Stühlen machten. »Hör mal«, fragte ich, »hättest du Lust auf ein bißchen Canasta?« Er spielte gern Canasta.
»Du blutest immer noch. Du solltest etwas drauftun.«
»Das hört von selber auf. Aber hättest du nicht Lust auf Canasta?«
»Canasta, Herr im Himmel! Weißt du vielleicht, wie spät es ist?«
»Es ist noch gar nicht so spät. Erst ungefähr elf, oder erst halb zwölf.«
»Erst!« sagte er. »Ich muß doch morgen früh aufstehn und in die Messe gehn, um Himmels willen. Ihr fangt da einfach einen Höllenlärm an, mitten in der verdammten - wegen was habt ihr euch denn überhaupt verprügelt?«
»Das ist eine lange Geschichte. Ich will dich nicht damit langweilen, Ackley. Ich habe nur dein Wohl im Auge«, sagte ich. Ich informierte ihn nie über meine Privatangelegenheiten.
Vor allem deshalb nicht, weil er sogar noch dümmer war als Stradlater. Im Vergleich zu ihm war Stradlater ein gottverdammtes Genie. »He«, sagte ich, »kann ich wohl heute nacht in Elys Bett schlafen? Er kommt doch erst morgen abend zurück, nicht?« Ich wußte ganz genau, daß Ely nicht vorher zurückkommen würde. Er fuhr fast jedes Wochenende nach Hause.
»Verdammt, ich weiß doch nicht, wann er zurückkommt«, sagte Ackley.
Junge, wie mich das ärgerte. »Was zum Teufel soll das heißen, daß du nicht weißt? Er kommt überhaupt nie vor Sonntagabend.«
»Nein, aber verflucht noch mal, ich kann deshalb doch nicht jedermann sagen, sie könnten in seinem verdammten Bett schlafen, wenn sie Lust dazu hätten.«
Das war mir zuviel. Ich streckte von meinem Sitzplatz am Boden den Arm aus und klopfte ihm auf die Schulter. »Du bist ein Prinz, Kleiner«, sagte ich. »Weißt du das?«
»Nein, im Ernst - ich kann doch nicht jedem sagen, er könne in Elys-«
»Du bist ein echter Prinz. Ein Gentleman und wahrer Studiosus, Kleiner.« Das stimmte ja sogar.
»Hast du zufällig Zigaretten da? Sag nein, sonst falle ich tot um.«
»Nein, ich habe tatsächlich keine. Aber wegen was habt ihr euch verprügelt?«
Ich gab keine Antwort. Ich stand nur auf, ging ans Fenster und schaute hinaus. Ich fühlte mich plötzlich so allein. Am liebsten wäre ich tot gewesen.
»Wegen was zum Teufel habt ihr euch geprügelt?« fragte Ackley zum fünfzigstenmal. Er war wirklich hartnäckig. »Wegen dir«, sagte ich.
»Um Himmels willen, wegen mir?«
»Jawohl. Ich habe deine verdammte Ehre verteidigt. Stradlater sagte, du wärst ein ekelhafter Mensch. Das konnte ich ihm nicht durchgehen lassen.«
Ackley wurde ganz aufgeregt. »Wirklich? Im Ernst? Hat er das wirklich gesagt?«
Ich sagte, es sei alles nur Blödsinn, und dann legte ich mich auf Elys Bett. Es war mir reichlich schlecht. Ich fühlte mich so verdammt allein.
»In diesem Zimmer stinkt es«, sagte ich. »Ich kann sogar von hier aus deine Socken riechen. Gibst du sie nie zum Waschen?«
»Wenn's dir nicht paßt, weißt du ja, was du tun kannst«, sagte Ackley. Wie geistreich. »Wie wär's, wenn du dieses verdammte Licht ausdrehen würdest?«
Ich ließ es aber vorläufig noch brennen. Ich blieb auf Elys Bett liegen und dachte an Jane und alles.
Es machte mich einfach rasend, wenn ich sie mir mit Stradlater im Auto von diesem Fettarsch Ed Banky vorstellte.
Sobald ich daran dachte, hätte ich aus dem Fenster springen können. Ich kannte Stradlater viel zu gut. Die meisten andern in Pencey schwätzten nur von mit Mädchen schlafen - so wie Ackley zum Beispiel -, aber bei Stradlater war es kein Geschwätz. Ich kannte selber mindestens zwei Mädchen, mit denen er's gemacht hatte. Das ist die reine Wahrheit.
»Erzähl mir die Geschichte deines faszinierenden Lebens, Kleiner«, sagte ich.
»Könntest du vielleicht das verfluchte Licht ausdrehen? Ich muß morgen früh in die Messe.«
Ich stand auf und drehte es aus, um zu seinem Glück beizutragen. Dann legte ich mich wieder auf Elys Bett.
»Was willst du weiter tun - in Elys Bett schlafen?« fragte Ackley. Er war der vollendete Gastgeber, wahrhaftig.
»Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Mach dir keine Sorgen.«
»Ich mach mir keine Sorgen. Es wäre mir nur verdammt unangenehm, wenn Ely plötzlich käme und fände in seinem Bett einen -«
»Beruhige dich. Ich werde nicht hier schlafen. Ich möchte deine verdammte Gastfreundschaft nicht ausnützen.«
Ein paar Minuten später schnarchte er schon aus Leibeskräften. Ich lag im Dunkeln und versuchte, nicht an Jane und Stradlater in dem verdammten Auto zu denken. Aber das war fast unmöglich. Ich kannte Stradlaters Methoden leider zu gut. Einmal hatten wir zu viert in Ed Bankys Auto gesessen.
Stradlater mit seinem Mädchen im Fond und ich vorne mit meinem. Was dieser Mensch für eine Technik hatte! Erst fing er an, ihr zu schmeicheln, mit einer ruhigen, aufrichtigen Stimme - so, als ob er nicht nur ein besonders hübscher Bursche wäre, sondern auch ein netter, aufrichtiger Bursche.
Mir wurde schlecht, nur vom Zuhören. Das Mädchen sagte immer wieder: »Nein - bitte nicht. Bitte nicht so. Bitte.« Aber er redete immer weiter mit dieser ruhigen, aufrichtigen Abraham-Lincoln-Stimme auf sie ein, und schließlich war nur noch eine fürchterliche Stille hinten im Wagen. Es war wirklich schlimm.
Er hat es wohl damals nicht mit dem Mädchen gemacht, aber es war nah dran. Verdammt nah.
Während ich dalag und nichts zu denken versuchte, kam Stradlater vom Waschraum zurück und ging in unser Zimmer.
Man konnte deutlich hören, wie er sein Toilettenzeug weglegte und das Fenster aufmachte. Er war ein Frischluftfanatiker. Kurz darauf drehte er das Licht aus. Er kümmerte sich überhaupt nicht darum, wo ich war.
Sogar draußen auf der Straße war es deprimierend. Man hörte kein einziges Auto mehr. Mir war so einsam und elend zumut, daß ich sogar Ackley gern geweckt hätte.
»He, Ackley«, flüsterte ich, damit Stradlater mich nicht durch die Vorhänge vom Duschraum hörte. Aber Ackley wachte nicht auf.
»He, Ackley!« Er hörte mich immer noch nicht. Er schlief wie ein Fels.
»He, Ackley!« - Das weckte ihn endlich.
»Was ist jetzt wieder los?« fragte er. »Ich hab geschlafen, verflucht noch mal.«
»Du, was muß man eigentlich tun, um ins Kloster zu gehen?« fragte ich. Ich spielte nämlich mit diesem Gedanken. »Muß man dafür katholisch sein und so weiter?«
»Natürlich muß man katholisch sein. Du Idiot, hast du mich mir geweckt, um blöde Fragen-«
»Ach, schlaf nur weiter. Ich geh ohnedies in keins. Bei dem Pech, das ich immer habe, käme ich wahrscheinlich in eins, wo nur die verkehrte Sorte von Mönchen ist. Lauter gemeine Esel. Jedenfalls Esel.«
Als ich das sagte, fuhr Ackley in seinem Bett in die Höhe.
»Hör mal«, sagte er, »über mich oder sonst etwas kannst du sagen, was du willst, aber wenn du anfängst, über meine verdammte Religion zu -«
»Reg dich nicht auf. Kein Mensch sagt etwas gegen deine verdammte Religion.« Ich stand auf und ging zur Tür. Ich wollte nicht mehr in dieser blöden Atmosphäre sein. Unterwegs blieb ich stehen, nahm Ackleys Hand und drückte sie mit gespielter Herzlichkeit. Er zog sie weg. »Was soll das bedeuten?« fragte er.
»Nichts. Ich möchte dir nur dafür danken, daß du so ein gottverdammter Prinz bist, das ist alles«, sagte ich betont treuherzig. »Du bist ein Prachtmensch, kleiner Ackley, weißt du das?«
»Wie geistreich. Einmal wird dir jemand eine ordentliche Tracht-«
Ich hielt mich nicht damit auf, ihm zuzuhören. Ich machte die blöde Tür hinter mir zu und stand im Gang.
Alle schliefen oder waren ausgegangen oder übers Wochenende heimgefahren, und es war totenstill und niederdrückend im Gang. Vor Leahys und Hoffmanns Zimmer lag die leere Umhüllung einer Kolynos-Tube, und ich gab ihr ein paar Tritte mit meinen pelzgefütterten Pantoffeln, während ich auf die Treppe zu ging. Ich dachte, ich könnte unten nachsehen, was Brossard machte. Aber plötzlich änderte ich diese Absicht.
Ganz plötzlich beschloß ich, von Pencey wegzugehen - jetzt sofort, mitten in der Nacht, und nicht noch bis Mittwoch zu warten. Ich hatte einfach keine Lust mehr, noch länger da herumzuhängen. Es machte mich viel zu traurig und einsam. Ich wollte in New York in ein Hotel gehen - in irgendein billiges Hotel - und mich bis Mittwoch erholen. Am Mittwoch wollte ich dann ausgeruht und frisch bei Kräften heimgehen.
Wahrscheinlich bekamen meine Eltern erst am Dienstag oder Mittwoch Thurmers Nachricht, daß ich geflogen war. Ich wollte nicht heimkommen, bevor sie den Brief gelesen und verdaut hatten. Ich wollte nicht im ersten Augenblick schon dabeisein.
Meine Mutter kann sich sehr hysterisch benehmen. Wenn sie etwas erst einmal richtig verdaut hat, ist sie zwar gar nicht so übel. Außerdem hatte ich ein bißchen Ferien nötig. Ich war mit meinen Nerven vollkommen runter, ganz im Ernst.
Ich entschloß mich also, wegzugehen, ging in unser Zimmer zurück und machte Licht, um meine Sachen zu packen. Das meiste hatte ich schon gepackt. Stradlater wachte nicht einmal auf. Ich rauchte eine Zigarette und zog mich an und packte dann meine beiden Handkoffer. Das dauerte nur zwei Minuten. Ich kann sehr rasch packen.
Ein einziger Punkt deprimierte mich dabei. Nämlich die neuen Schlittschuhe, die mir meine Mutter erst vor ein paar Tagen geschickt hatte. Das bedrückte mich wirklich. Ich stellte mir vor, wie meine Mutter zu Spauldings gegangen war und dem Verkäufer einen Haufen törichte Fragen gestellt hatte, und jetzt flog ich schon wieder von dieser Schule. Das machte mich traurig. Sie hatte mir die verkehrten Schlittschuhe gekauft - ich wollte Rennschlittschuhe, und die hier waren für Hockey -, aber es machte mich trotzdem traurig. Fast jedesmal, wenn mir jemand etwas schenkt, endet es damit, daß ich traurig werde.
Als ich gepackt hatte, zählte ich mein Geld. Ich erinnere mich nicht mehr genau, wieviel es war, aber jedenfalls ziemlich viel.
Meine Großmutter hatte mir gerade vor einer Woche einen Haufen geschickt. Sie geht sehr großzügig damit um. Sie hat nicht mehr alle Tassen im Schrank - sie ist alt wie ich weiß nicht was - und schenkt mir mindestens viermal im Jahr Geld zum Geburtstag. Aber obwohl ich also reichlich versehen war, dachte ich, ein paar Dollar mehr könnten nichts schaden.
Man weiß nie. Deshalb ging ich zu Frederick Woodruff hinunter, dem ich meine Schreibmaschine geliehen hatte. Ich weckte ihn und fragte, wieviel er mir für diese Maschine zahlen würde. Er war sehr reich. Er sagte, er könne das jetzt nicht entscheiden. Er wolle sie eigentlich gar nicht kaufen.
Schließlich kaufte er sie doch. Sie hatte gegen neunzig Dollar gekostet, und er bezahlte nur zwanzig dafür. Er war schlechter Laune, weil ich ihn geweckt hatte.
Als ich mit allem fertig war, blieb ich mit meinen Koffern noch eine Weile an der Treppe stehen und warf einen letzten Blick auf den verdammten Gang. Dabei heulte ich sozusagen.
Ich weiß nicht warum. Ich setzte meine rote Jagdmütze auf, mit dem Schild nach hinten, so wie ich es am liebsten hatte, und schrie so laut ich konnte: »Schlaft gut, ihr Idioten!« Sicher wachten im ganzen Stockwerk alle auf. Dann machte ich mich davon. Irgendein Esel hatte die Treppe mit Erdnußschalen bestreut, so daß ich mir beinahe meinen verrückten Hals gebrochen hätte.