8. Kapitel
Weil es zu spät war, um ein Taxi kommen zu
lassen, ging ich den ganzen Weg zum Bahnhof zu Fuß.
Es war nicht weit, aber höllisch kalt. Man konnte im Schnee nicht gut gehen, und die Koffer stießen mir fortwährend an die Beine. Aber ich freute mich über die frische Luft und alles. Nur tat mir von der Kälte die Nase weh, und auch die Oberlippe, wo mich Stradlater getroffen hatte. Er hatte mir die Lippe gegen die Zähne geboxt, innen war ein ordentlicher Riß. Immerhin hatte ich schön warme Ohren. An der Mütze waren Ohrenklappen, und mir war es ohnedies gleichgültig, wie ich aussah; ich klappte sie einfach herunter. Kein Mensch war zu sehen. Alle schliefen.
Ich hatte Glück, denn als ich zum Bahnhof kam, brauchte ich nur ungefähr zehn Minuten auf einen Zug zu warten.
Unterdessen nahm ich Schnee in die Hand und wusch mir das Gesicht damit. Es war immer noch voll Blut.
Im allgemeinen fahre ich gern Eisenbahn, besonders nachts, wenn die Lichter brennen und die Fenster so schwarz sind und ein Kellner mit Kaffee und Sandwiches und Zeitungen durch den Gang kommt. Meistens kaufe ich ein Schinkenbrot und vier oder fünf Magazine. Wenn ich nachts fahre, kann ich sogar meistens die blöden Magazingeschichten lesen, ohne daß mir das Kotzen kommt.
Wenn Sie wissen, was ich meine. Eine von diesen Geschichten, in denen massenhaft kitschige Kerle mit markigem Kinn vorkommen, die David heißen, und massenhaft kitschige Mädel, die Linda oder Marcia heißen und diesen verdammten Davids dauernd die Pfeifen anzünden. Aber diesmal war es anders. Ich hatte keine Lust zu lesen. Ich saß einfach da und tat überhaupt nichts. Ich nahm nur meine Jagdmütze ab und steckte sie in die Tasche.
Plötzlich stieg in Trenton die Dame ein und setzte sich neben mich. Das ganze Abteil war leer, weil es so spät war, aber sie setzte sich neben mich anstatt auf eine leere Bank, weil sie einen großen Koffer bei sich hatte und ich ganz vorne saß. Sie stellte den Koffer so, daß er weit in den Gang hinausstand und der Schaffner und jedermann darüber fallen mußte. Sie hatte Orchideen angesteckt, als ob sie von einer großen Gesellschaft oder so käme. Sie war ungefähr vierzig oder fünfundvierzig, schätze ich, sah aber sehr gut aus. Frauen bringen mich um. Im Ernst. Ich meine damit nicht, daß ich nicht übermäßig sexy bin - obwohl ich ziemlich sexy bin; ich mag Frauen einfach, das meine ich. Sie lassen immer ihre Koffer im Gang stehen.
Wir saßen also nebeneinander, und plötzlich sagte sie: »Entschuldigen Sie, ist das nicht ein Etikett von Pencey?« Dabei schaute sie auf meinen Koffer im Gepäcknetz oben.
»Ja, das stimmt«, sagte ich. Tatsächlich war ein verdammtes Pencey-Etikett auf einem der beiden Koffer. Ziemlich albern, zugegeben.
»So, Sie sind in Pencey?« fragte sie. Sie hatte eine angenehme Stimme. Vor allem für Telefongespräche geeignet. Sie hätte immer ein gottverdammtes Telefon mit sich herumtragen sollen.
»Ja, dort bin ich«, sagte ich.
»Wie nett! Vielleicht kennen Sie dann auch meinen Sohn. Ernest Morrow? Er ist auch in Pencey.«
»Ja, tatsächlich. Wir sind in einer Klasse.«
Ihr Sohn war zweifellos einer der größten Schweinehunde, die in der ganzen Pencey-Chronik jemals vorgekommen sind. Wenn er geduscht hatte, lief er immer im Gang herum und klatschte den andern sein tropfnasses Handtuch an den Arsch. Dieser Typ von Witzbold war er.
»Wie nett!« sagte sie. Aber nicht affektiert. Sie war einfach nur nett. »Das muß ich Ernest erzählen, daß wir uns begegnet sind. Darf ich fragen, wie Sie heißen, mein Lieber?«
»Rudolf Smith«, antwortete ich. Ich hatte keine Lust, ihr meine ganze Lebensgeschichte zu erzählen.
Rudolf Smith hieß der Hausmeister in unserem Flügel.
»Sind Sie gerne in Pencey?« fragte sie.
»In Pencey? Keine üble Schule. Es ist kein Paradies oder so, aber ebenso gut wie die meisten Schulen. Einige Lehrer nehmen ihre Sache sehr ernst.«
»Ernest ist furchtbar gern dort.«
»Ja, ich weiß«, sagte ich. Dann stürzte ich mich in das übliche Gewäsch. »Er kann sich sehr gut anpassen. Das kann man wirklich sagen. Ich meine, er findet sich überall zurecht.«
»Meinen Sie wirklich?« fragte sie. Es schien sie höllisch zu interessieren.
»Ernest? Ganz sicher.« Dann schaute ich ihr zu, wie sie die Handschuhe auszog. Sie hatte tolle Brillanten.
»Ich habe mir gerade einen Nagel abgebrochen, als ich aus dem Taxi stieg«, sagte sie. Sie sah mich an und lächelte ein bißchen. Ihr Lächeln war außerordentlich sympathisch. Die meisten Leute haben überhaupt kein Lächeln, oder ein ekelhaftes. »Sein Vater und ich machen uns manchmal Sorgen über ihn«, sagte sie. »Wir haben manchmal das Gefühl, daß er sich nicht gut einfügt.«
»Wie meinen Sie das?«
»Ach, er ist sehr sensibel. Er hat sich eigentlich nie richtig an andere angeschlossen. Vielleicht nimmt er vieles etwas zu ernst für sein Alter.«
Sensibel! Das warf mich um. Dieser Morrow war ungefähr ebenso sensibel wie ein verdammter Klosettsitz.
Ich betrachtete sie eingehender. Sie schien mir nicht dumm zu sein. Sie sah eher aus, als ob sie eine recht deutliche Ahnung davon hätte, was für eines Schweinehunds Mutter sie war. Aber sicher kann man nie sein - mit irgendeiner Mutter meine ich.
Mütter sind nie ganz bei Trost. Dabei gefiel mir Morrows Mutter. Sie war wirklich nett. »Möchten Sie vielleicht eine Zigarette?« fragte ich.
Sie schaute sich um. »Ich glaube, wir sind hier nicht im Raucher, Rudolf«, sagte sie. Rudolf. Ich wäre fast geplatzt.
»Das macht nichts. Wir können trotzdem rauchen, bis uns jemand anschreit«, sagte ich. Sie nahm eine Zigarette von mir, und ich zündete sie ihr an.
Sie rauchte auf eine sympathische Art. Sie inhalierte zwar, aber sie verschlang den Rauch nicht so gierig, wie das die meisten Frauen ihres Alters tun. Sie hatte viel Charme. Auch viel Sex-Appeal, falls das jemand interessiert.
Sie schaute mich etwas sonderbar an. »Wenn ich mich nicht täusche, blutet Ihre Nase, mein Lieber«, sagte sie plötzlich. Ich nickte und zog mein Taschentuch heraus. »Von einem Schneeball«, sagte ich. »Es war fast eine Eiskugel.«
Wahrscheinlich hätte ich ihr erzählt, was wirklich passiert war, aber es wäre eine zu lange Geschichte gewesen. Sie gefiel mir aber. Allmählich tat es mir leid, daß ich ihr gesagt hatte, ich hieße Rudolf Smith. »Ernie ist einer der beliebtesten Schüler in Pencey«, sagte ich. »Wußten Sie das?«
»Nein, das wußte ich nicht.«
Ich nickte. »Die meisten haben lange gebraucht, bis sie ihn richtig kannten. Er ist ein komischer Mensch. Wirklich sonderbar in vieler Hinsicht - verstehen Sie, was ich meine? Zuerst hielt ich ihn für einen Snob. Aber er ist gar keiner. Er hat nur einen sehr originellen Charakter, so daß man eine Weile braucht, bis man ihn richtig kennt.«
Mrs. Morrow schwieg, aber man hätte sie dabei sehen sollen.
Sie saß wie angeleimt da. Jede Mutter will immer nur hören, was für ein Prachtexemplar ihr Sohn sei.
Dann legte ich mich wirklich ins Zeug. »Hat er Ihnen von den Wahlen in unserer Klasse erzählt?« fragte ich.
Sie schüttelte den Kopf. Ich hatte sie sozusagen hypnotisiert.
Im Ernst.
»Viele von uns wollten ihn als Klassenpräsident haben. Eigentlich waren alle einstimmig für ihn. Er war eben der einzige, der dieser Aufgabe wirklich gewachsen gewesen wäre«, sagte ich. Großer Gott, ich ging vielleicht ran. »Aber dann wurde ein anderer gewählt - Harry Fencer. Aus dem einfachen und offensichtlichen Grunde, daß Ernie sich nicht wählen lassen wollte. Weil er so furchtbar schüchtern und bescheiden ist. Er weigerte sich. Er ist wirklich viel zu schüchtern. Sie müßten versuchen, ihn darüber wegzubringen.« Ich schaute sie an. »Hat er wirklich gar nichts davon erzählt?«
»Nein, kein Wort.«
Ich nickte. »Das sieht ihm ähnlich. Charakteristisch für ihn. Das ist sein einziger Fehler - er ist viel zu schüchtern und bescheiden. Sie sollten wirklich versuchen, ihn manchmal zu lockern.«
In diesem Augenblick kam der Schaffner und wollte Mrs. Morrows Billett sehen. Das war eine gute Gelegenheit, mit dem Gefasel aufzuhören. Aber ich bin doch froh, daß ich das alles gesagt habe. So ein Typ wie Morrow, der immer mit seinem Handtuch andern auf den Arsch schlägt - um den andern wirklich weh zu tun -, ist ja nicht nur in seiner Kindheit ein Schwein. Er bleibt ein ganzes Leben lang ein Schwein. Aber auf mein Geschwätz hin sieht Mrs. Morrow sicher immer den schüchternen, bescheidenen Knaben in ihm, der sich nicht wählen lassen wollte. Vielleicht. Man weiß nie, Mütter sind in diesen Sachen nie besonders helle.
»Hätten Sie gern einen Cocktail?« fragte ich. Ich war selber in der Stimmung, einen zu trinken. »Wir können in den Speisewagen gehen. Hätten Sie Lust?«
»Dürfen Sie denn Drinks bestellen, mein Lieber?« fragte sie.
Nicht hochnäsig. Sie war viel zu nett, um hochnäsig zu sein.
»Nein, eigentlich nicht, aber meistens bekomme ich sie doch, wegen meiner Größe«, sagte ich. »Und ich habe ziemlich viel graue Haare.« Ich drehte den Kopf auf die Seite und zeigte ihr die grauen Haare. Sie war ganz fasziniert. »Kommen Sie mit, wollen Sie nicht?« sagte ich. Es hätte mir großes Vergnügen gemacht.
»Ich glaube, doch lieber nicht. Aber vielen Dank, mein Lieber«, sagte sie. »Wahrscheinlich ist der Speisewagen ohnedies geschlossen. Es ist schon ziemlich spät.« Damit hatte sie recht. Ich hatte nicht daran gedacht, wieviel Uhr es war.
Dann schaute sie mich an und stellte die Frage, die ich schon lange befürchtet hatte. »Ernest schrieb mir, er käme Mittwoch heim, die Weihnachtsferien fingen am Mittwoch an«, sagte sie.
»Hoffentlich müssen Sie nicht wegen einem Krankheitsfall in Ihrer Familie früher heimreisen.« Sie schien ernstlich besorgt zu sein. Sie fragte nicht einfach aus Neugierde, das sah man deutlich.
»Nein, zu Hause geht es allen gut«, sagte ich. »Nur ich selber muß mich jetzt operieren lassen.«
»Ach! Das tut mir aber leid!« sagte sie. Sie meinte es sogar aufrichtig. Ich bereute sofort, daß ich das gesagt hatte, aber es war zu spät.
»Nichts Ernstes. Ich habe nur einen ganz kleinen Tumor im Gehirn.«
»Wie schrecklich!« Sie hielt sich die Hand vor den Mund.
»Ach, ich erhole mich bald wieder. Er liegt nicht tief, ganz außen sogar. Und er ist sehr klein. Man kann ihn in zwei Minuten entfernen.«
Dann fing ich an, in dem Fahrplan zu lesen, den ich in der Tasche hatte. Nur um mit dem Lügen aufzuhören. Sobald ich einmal in Fahrt bin, kann ich stundenlang weiterlügen, wenn ich dazu aufgelegt bin. Stundenlang, im Ernst!
Danach sagten wir nicht mehr viel. Sie las in einem Vogue-Heft, und ich schaute eine Weile zum Fenster hinaus. In Newark stieg sie aus. Sie wünschte mir alles Gute für die Operation. Sie nannte mich immer weiter Rudolf. Dann lud sie mich ein, Ernie im Sommer in Gloucester zu besuchen, in Massachusetts. Sie sagte, sie wohnten ganz am Strand, und sie hätten einen Tennisplatz und so.
Aber ich bedankte mich nur und sagte, ich ginge mit meiner Großmutter nach Südamerika. Das war besonders stark, weil meine Großmutter kaum jemals auch nur ihr Haus verläßt höchstens für irgendeine verdammte Matinee oder so. Aber diesen Hund Morrow würde ich um alles Geld in der Welt nicht besuchen, nicht einmal, wenn ich am Verzweifeln wäre.
Es war nicht weit, aber höllisch kalt. Man konnte im Schnee nicht gut gehen, und die Koffer stießen mir fortwährend an die Beine. Aber ich freute mich über die frische Luft und alles. Nur tat mir von der Kälte die Nase weh, und auch die Oberlippe, wo mich Stradlater getroffen hatte. Er hatte mir die Lippe gegen die Zähne geboxt, innen war ein ordentlicher Riß. Immerhin hatte ich schön warme Ohren. An der Mütze waren Ohrenklappen, und mir war es ohnedies gleichgültig, wie ich aussah; ich klappte sie einfach herunter. Kein Mensch war zu sehen. Alle schliefen.
Ich hatte Glück, denn als ich zum Bahnhof kam, brauchte ich nur ungefähr zehn Minuten auf einen Zug zu warten.
Unterdessen nahm ich Schnee in die Hand und wusch mir das Gesicht damit. Es war immer noch voll Blut.
Im allgemeinen fahre ich gern Eisenbahn, besonders nachts, wenn die Lichter brennen und die Fenster so schwarz sind und ein Kellner mit Kaffee und Sandwiches und Zeitungen durch den Gang kommt. Meistens kaufe ich ein Schinkenbrot und vier oder fünf Magazine. Wenn ich nachts fahre, kann ich sogar meistens die blöden Magazingeschichten lesen, ohne daß mir das Kotzen kommt.
Wenn Sie wissen, was ich meine. Eine von diesen Geschichten, in denen massenhaft kitschige Kerle mit markigem Kinn vorkommen, die David heißen, und massenhaft kitschige Mädel, die Linda oder Marcia heißen und diesen verdammten Davids dauernd die Pfeifen anzünden. Aber diesmal war es anders. Ich hatte keine Lust zu lesen. Ich saß einfach da und tat überhaupt nichts. Ich nahm nur meine Jagdmütze ab und steckte sie in die Tasche.
Plötzlich stieg in Trenton die Dame ein und setzte sich neben mich. Das ganze Abteil war leer, weil es so spät war, aber sie setzte sich neben mich anstatt auf eine leere Bank, weil sie einen großen Koffer bei sich hatte und ich ganz vorne saß. Sie stellte den Koffer so, daß er weit in den Gang hinausstand und der Schaffner und jedermann darüber fallen mußte. Sie hatte Orchideen angesteckt, als ob sie von einer großen Gesellschaft oder so käme. Sie war ungefähr vierzig oder fünfundvierzig, schätze ich, sah aber sehr gut aus. Frauen bringen mich um. Im Ernst. Ich meine damit nicht, daß ich nicht übermäßig sexy bin - obwohl ich ziemlich sexy bin; ich mag Frauen einfach, das meine ich. Sie lassen immer ihre Koffer im Gang stehen.
Wir saßen also nebeneinander, und plötzlich sagte sie: »Entschuldigen Sie, ist das nicht ein Etikett von Pencey?« Dabei schaute sie auf meinen Koffer im Gepäcknetz oben.
»Ja, das stimmt«, sagte ich. Tatsächlich war ein verdammtes Pencey-Etikett auf einem der beiden Koffer. Ziemlich albern, zugegeben.
»So, Sie sind in Pencey?« fragte sie. Sie hatte eine angenehme Stimme. Vor allem für Telefongespräche geeignet. Sie hätte immer ein gottverdammtes Telefon mit sich herumtragen sollen.
»Ja, dort bin ich«, sagte ich.
»Wie nett! Vielleicht kennen Sie dann auch meinen Sohn. Ernest Morrow? Er ist auch in Pencey.«
»Ja, tatsächlich. Wir sind in einer Klasse.«
Ihr Sohn war zweifellos einer der größten Schweinehunde, die in der ganzen Pencey-Chronik jemals vorgekommen sind. Wenn er geduscht hatte, lief er immer im Gang herum und klatschte den andern sein tropfnasses Handtuch an den Arsch. Dieser Typ von Witzbold war er.
»Wie nett!« sagte sie. Aber nicht affektiert. Sie war einfach nur nett. »Das muß ich Ernest erzählen, daß wir uns begegnet sind. Darf ich fragen, wie Sie heißen, mein Lieber?«
»Rudolf Smith«, antwortete ich. Ich hatte keine Lust, ihr meine ganze Lebensgeschichte zu erzählen.
Rudolf Smith hieß der Hausmeister in unserem Flügel.
»Sind Sie gerne in Pencey?« fragte sie.
»In Pencey? Keine üble Schule. Es ist kein Paradies oder so, aber ebenso gut wie die meisten Schulen. Einige Lehrer nehmen ihre Sache sehr ernst.«
»Ernest ist furchtbar gern dort.«
»Ja, ich weiß«, sagte ich. Dann stürzte ich mich in das übliche Gewäsch. »Er kann sich sehr gut anpassen. Das kann man wirklich sagen. Ich meine, er findet sich überall zurecht.«
»Meinen Sie wirklich?« fragte sie. Es schien sie höllisch zu interessieren.
»Ernest? Ganz sicher.« Dann schaute ich ihr zu, wie sie die Handschuhe auszog. Sie hatte tolle Brillanten.
»Ich habe mir gerade einen Nagel abgebrochen, als ich aus dem Taxi stieg«, sagte sie. Sie sah mich an und lächelte ein bißchen. Ihr Lächeln war außerordentlich sympathisch. Die meisten Leute haben überhaupt kein Lächeln, oder ein ekelhaftes. »Sein Vater und ich machen uns manchmal Sorgen über ihn«, sagte sie. »Wir haben manchmal das Gefühl, daß er sich nicht gut einfügt.«
»Wie meinen Sie das?«
»Ach, er ist sehr sensibel. Er hat sich eigentlich nie richtig an andere angeschlossen. Vielleicht nimmt er vieles etwas zu ernst für sein Alter.«
Sensibel! Das warf mich um. Dieser Morrow war ungefähr ebenso sensibel wie ein verdammter Klosettsitz.
Ich betrachtete sie eingehender. Sie schien mir nicht dumm zu sein. Sie sah eher aus, als ob sie eine recht deutliche Ahnung davon hätte, was für eines Schweinehunds Mutter sie war. Aber sicher kann man nie sein - mit irgendeiner Mutter meine ich.
Mütter sind nie ganz bei Trost. Dabei gefiel mir Morrows Mutter. Sie war wirklich nett. »Möchten Sie vielleicht eine Zigarette?« fragte ich.
Sie schaute sich um. »Ich glaube, wir sind hier nicht im Raucher, Rudolf«, sagte sie. Rudolf. Ich wäre fast geplatzt.
»Das macht nichts. Wir können trotzdem rauchen, bis uns jemand anschreit«, sagte ich. Sie nahm eine Zigarette von mir, und ich zündete sie ihr an.
Sie rauchte auf eine sympathische Art. Sie inhalierte zwar, aber sie verschlang den Rauch nicht so gierig, wie das die meisten Frauen ihres Alters tun. Sie hatte viel Charme. Auch viel Sex-Appeal, falls das jemand interessiert.
Sie schaute mich etwas sonderbar an. »Wenn ich mich nicht täusche, blutet Ihre Nase, mein Lieber«, sagte sie plötzlich. Ich nickte und zog mein Taschentuch heraus. »Von einem Schneeball«, sagte ich. »Es war fast eine Eiskugel.«
Wahrscheinlich hätte ich ihr erzählt, was wirklich passiert war, aber es wäre eine zu lange Geschichte gewesen. Sie gefiel mir aber. Allmählich tat es mir leid, daß ich ihr gesagt hatte, ich hieße Rudolf Smith. »Ernie ist einer der beliebtesten Schüler in Pencey«, sagte ich. »Wußten Sie das?«
»Nein, das wußte ich nicht.«
Ich nickte. »Die meisten haben lange gebraucht, bis sie ihn richtig kannten. Er ist ein komischer Mensch. Wirklich sonderbar in vieler Hinsicht - verstehen Sie, was ich meine? Zuerst hielt ich ihn für einen Snob. Aber er ist gar keiner. Er hat nur einen sehr originellen Charakter, so daß man eine Weile braucht, bis man ihn richtig kennt.«
Mrs. Morrow schwieg, aber man hätte sie dabei sehen sollen.
Sie saß wie angeleimt da. Jede Mutter will immer nur hören, was für ein Prachtexemplar ihr Sohn sei.
Dann legte ich mich wirklich ins Zeug. »Hat er Ihnen von den Wahlen in unserer Klasse erzählt?« fragte ich.
Sie schüttelte den Kopf. Ich hatte sie sozusagen hypnotisiert.
Im Ernst.
»Viele von uns wollten ihn als Klassenpräsident haben. Eigentlich waren alle einstimmig für ihn. Er war eben der einzige, der dieser Aufgabe wirklich gewachsen gewesen wäre«, sagte ich. Großer Gott, ich ging vielleicht ran. »Aber dann wurde ein anderer gewählt - Harry Fencer. Aus dem einfachen und offensichtlichen Grunde, daß Ernie sich nicht wählen lassen wollte. Weil er so furchtbar schüchtern und bescheiden ist. Er weigerte sich. Er ist wirklich viel zu schüchtern. Sie müßten versuchen, ihn darüber wegzubringen.« Ich schaute sie an. »Hat er wirklich gar nichts davon erzählt?«
»Nein, kein Wort.«
Ich nickte. »Das sieht ihm ähnlich. Charakteristisch für ihn. Das ist sein einziger Fehler - er ist viel zu schüchtern und bescheiden. Sie sollten wirklich versuchen, ihn manchmal zu lockern.«
In diesem Augenblick kam der Schaffner und wollte Mrs. Morrows Billett sehen. Das war eine gute Gelegenheit, mit dem Gefasel aufzuhören. Aber ich bin doch froh, daß ich das alles gesagt habe. So ein Typ wie Morrow, der immer mit seinem Handtuch andern auf den Arsch schlägt - um den andern wirklich weh zu tun -, ist ja nicht nur in seiner Kindheit ein Schwein. Er bleibt ein ganzes Leben lang ein Schwein. Aber auf mein Geschwätz hin sieht Mrs. Morrow sicher immer den schüchternen, bescheidenen Knaben in ihm, der sich nicht wählen lassen wollte. Vielleicht. Man weiß nie, Mütter sind in diesen Sachen nie besonders helle.
»Hätten Sie gern einen Cocktail?« fragte ich. Ich war selber in der Stimmung, einen zu trinken. »Wir können in den Speisewagen gehen. Hätten Sie Lust?«
»Dürfen Sie denn Drinks bestellen, mein Lieber?« fragte sie.
Nicht hochnäsig. Sie war viel zu nett, um hochnäsig zu sein.
»Nein, eigentlich nicht, aber meistens bekomme ich sie doch, wegen meiner Größe«, sagte ich. »Und ich habe ziemlich viel graue Haare.« Ich drehte den Kopf auf die Seite und zeigte ihr die grauen Haare. Sie war ganz fasziniert. »Kommen Sie mit, wollen Sie nicht?« sagte ich. Es hätte mir großes Vergnügen gemacht.
»Ich glaube, doch lieber nicht. Aber vielen Dank, mein Lieber«, sagte sie. »Wahrscheinlich ist der Speisewagen ohnedies geschlossen. Es ist schon ziemlich spät.« Damit hatte sie recht. Ich hatte nicht daran gedacht, wieviel Uhr es war.
Dann schaute sie mich an und stellte die Frage, die ich schon lange befürchtet hatte. »Ernest schrieb mir, er käme Mittwoch heim, die Weihnachtsferien fingen am Mittwoch an«, sagte sie.
»Hoffentlich müssen Sie nicht wegen einem Krankheitsfall in Ihrer Familie früher heimreisen.« Sie schien ernstlich besorgt zu sein. Sie fragte nicht einfach aus Neugierde, das sah man deutlich.
»Nein, zu Hause geht es allen gut«, sagte ich. »Nur ich selber muß mich jetzt operieren lassen.«
»Ach! Das tut mir aber leid!« sagte sie. Sie meinte es sogar aufrichtig. Ich bereute sofort, daß ich das gesagt hatte, aber es war zu spät.
»Nichts Ernstes. Ich habe nur einen ganz kleinen Tumor im Gehirn.«
»Wie schrecklich!« Sie hielt sich die Hand vor den Mund.
»Ach, ich erhole mich bald wieder. Er liegt nicht tief, ganz außen sogar. Und er ist sehr klein. Man kann ihn in zwei Minuten entfernen.«
Dann fing ich an, in dem Fahrplan zu lesen, den ich in der Tasche hatte. Nur um mit dem Lügen aufzuhören. Sobald ich einmal in Fahrt bin, kann ich stundenlang weiterlügen, wenn ich dazu aufgelegt bin. Stundenlang, im Ernst!
Danach sagten wir nicht mehr viel. Sie las in einem Vogue-Heft, und ich schaute eine Weile zum Fenster hinaus. In Newark stieg sie aus. Sie wünschte mir alles Gute für die Operation. Sie nannte mich immer weiter Rudolf. Dann lud sie mich ein, Ernie im Sommer in Gloucester zu besuchen, in Massachusetts. Sie sagte, sie wohnten ganz am Strand, und sie hätten einen Tennisplatz und so.
Aber ich bedankte mich nur und sagte, ich ginge mit meiner Großmutter nach Südamerika. Das war besonders stark, weil meine Großmutter kaum jemals auch nur ihr Haus verläßt höchstens für irgendeine verdammte Matinee oder so. Aber diesen Hund Morrow würde ich um alles Geld in der Welt nicht besuchen, nicht einmal, wenn ich am Verzweifeln wäre.