13. Kapitel
Ich ging zu Fuß ins Hotel zurück, ganze
einundvierzig prachtvolle Häuserblocks weit. Das Gehen machte mir
zwar kein Vergnügen, aber noch weniger lockte es mich, wieder in
einem Taxi zu sitzen.
Manchmal hat man das Taxifahren so satt wie das Liftfahren.
Plötzlich muß man einfach zu Fuß gehen, ganz gleich, wie weit oder wie hoch. Als Kind stieg ich oft zu Fuß in unsere Wohnung hinauf.
Bis in den zwölften Stock.
Man sah nichts mehr davon, daß es geschneit hatte. Auf den Trottoirs lag kaum noch Schnee. Aber es war eiskalt. Ich zog meine rote Jagdmütze aus der Tasche und setzte sie auf - es war mir absolut gleichgültig, wie ich aussah. Ich stülpte sogar die Ohrenklappen herunter. Ich hätte gern gewußt, wer mir in Pencey die Handschuhe gestohlen hatte, denn ich fror an den Händen. Allerdings hätte ich auch nicht viel unternommen, wenn ich den Gauner gekannt hätte. Ich bin ein großer Feigling.
Ich versuche es zu verbergen, aber deshalb bin ich trotzdem einer. Wenn ich in Pencey zum Beispiel herausgefunden hätte, wer dieser Gauner war, hätte ich ihn vermutlich in seinem Zimmer aufgesucht und zu ihm gesagt: »So, wie wär's, wenn du mir die Handschuhe zurückgeben würdest?« Dann hätte der Betreffende wahrscheinlich mit der unschuldigsten Stimme gefragt: »Welche Handschuhe?«
Dann hätte ich in seinem Schrank nachgesehen und die Handschuhe gefunden. In seinen verdammten Gummischuhen versteckt oder so. Ich hätte sie genommen und ihm vor die Nase gehalten und gesagt: »Sind das vielleicht deine verdammten Handschuhe?« Dann hätte er mich verlogen unschuldig angeschaut und geantwortet: »Die hab ich überhaupt noch nie gesehen. Nimm sie nur, wenn sie dir gehören. Ich will sie nicht.« Dann wäre ich wohl fünf Minuten mit den verdammten Handschuhen dagestanden und hätte gespürt, daß ich ihm jetzt einen Kinnhaken versetzen müßte.
Aber ich hätte es nicht fertiggebracht. Ich hätte nur dagestanden und versucht, aggressiv auszusehen.
Vielleicht hätte ich auch irgendwas Rotzfreches gesagt, anstatt ihm einen Kinnhaken zu geben.
Jedenfalls hätte er sich dann vor mich hingestellt und hätte gesagt: »Hör mal, Caulfield, behauptest du vielleicht, daß ich stehle?« Anstatt darauf zu antworten: »Ganz richtig, das behaupte ich, du dreckiger Gauner!« hätte ich wahrscheinlich gesagt: »Ich weiß nur, daß meine verdammten Handschuhe hier in deinen Gummischuhen waren.« Von da an wäre er sicher gewesen, daß ich ihm nichts tue; er hätte gesagt: »Hör mal, das wollen wir klarstellen. Behauptest du, daß ich stehle?«
Darauf hätte ich wieder nur geantwortet: »Kein Mensch redet hier von Stehlen. Ich weiß nur, daß meine Handschuhe in deinen verdammten Gummischuhen waren.« Auf diese Weise hätte es stundenlang weitergehen können. Schließlich wäre ich hinausgegangen, ohne ihm auch nur ein Haar zu krümmen.
Wahrscheinlich hätte ich im Waschraum eine Zigarette geraucht und vor dem Spiegel aggressive Gesichtsausdrücke geübt.
Über solches Zeug dachte ich auf dem ganzen Rückweg ins Hotel nach. Es ist kein Spaß, wenn man feig ist. Vielleicht bin ich nicht durch und durch feig. Ich weiß nicht. Vielleicht bin ich auch nur teilweise feige und teilweise ein Mensch, der sich nicht viel daraus macht, wenn er seine Handschuhe verliert. Das ist einer meiner Fehler - ich mache mir nie viel daraus, wenn ich etwas verloren habe.
Als ich noch klein war, machte das meine Mutter rasend.
Manche Leute können tagelang nach etwas suchen, das sie verloren haben. Mir liegt an nichts so viel. Vielleicht bin ich aus diesem Grund feige. Das ist zwar keine Entschuldigung - natürlich nicht. Man sollte überhaupt nicht feig sein. Wenn man spürt, daß man jemandem einen Kinnhaken geben müßte und eigentlich Lust dazu hätte, dann sollte man es auch tun. Ich bin allerdings gar nicht dafür begabt. Ich könnte einen Menschen leichter zum Fenster hinauswerfen oder ihn mit einer Axt enthaupten als ihm einen Kinnhaken geben.
Boxkämpfe sind mir verhaßt. Es macht mir nichts, wenn ich selber getroffen werde - obwohl es mich selbstverständlich auch nicht gerade begeistert -, aber schrecklich finde ich in einem Boxkampf das Gesicht des Gegners. Ich ertrage es einfach nicht, sein Gesicht anzusehen - das ist meine größte Schwäche. Es wäre viel weniger schlimm, wenn beide mit verbundenen Augen oder ich weiß nicht wie kämpfen könnten. Bei näherer Betrachtung ist das eigentlich eine komische Art von Feigheit, aber Feigheit ist es jedenfalls doch. Ich mache mir nichts vor.
Ich wurde immer deprimierter, je länger ich über die Handschuhe und meine Feigheit nachdachte, und nach einer Weile beschloß ich, irgendwo noch etwas zu trinken. Bei Ernie hatte ich nur drei Whiskies getrunken, und den letzten sogar nur halb. Ich vertrage unglaublich viel. Ich kann die ganze Nacht trinken, ohne daß man es mir anmerkt, wenn ich entsprechend aufgelegt bin. In Whooton kaufte ich einmal mit einem andern - Raymond Goldfarb hieß er - eine Flasche Whisky und trank sie am Samstagabend in der Kapelle mit ihm aus, wo uns niemand entdecken konnte. Ihm bekam es schlecht, aber mir war kaum etwas anzumerken. Ich wurde nur sehr kühl und nonchalant. Ich übergab mich, bevor ich ins Bett ging, aber ich hätte nicht einmal das zu tun brauchen; ich zwang mich dazu.
Als ich in eine Bar einschwenken wollte, kamen zwei schwer betrunkene Kerle heraus und wollten wissen, wo die Untergrundbahn sei. Einer sah wie ein Kubaner aus und hauchte mir fortwährend seinen stinkenden Atem ins Gesicht, während ich ihm den Weg beschrieb. Danach ging ich überhaupt nicht in die verdammte Bar hinein, sondern zum Hotel.
Die Halle war ganz leer. Es roch nach fünfzig Millionen kalten Zigaretten. Ich war noch nicht zum Schlafen müde, aber irgendwie elend. Deprimiert und so. Ich wäre am liebsten tot gewesen.
Dann geriet ich plötzlich in eine üble Geschichte.
Als ich nämlich in den Lift ging, fragte der Hotelangestellte: »Haben Sie heute abend noch Interesse an einem Späßchen?«
»Was meinen Sie damit?« fragte ich. Ich hatte keine Ahnung, auf was er hinauswollte.
»Soll ich Ihnen 'ne Kleine ins Zimmer schicken?«
»Mir?« sagte ich. Das war eine dumme Antwort, aber es ist ziemlich verwirrend, wenn einem jemand plötzlich mit einer solchen Frage auf den Leib rückt.
»Wie alt sind Sie?« fragte er.
»Warum?« sagte ich. »Zweiundzwanzig.«
»Hm. Also was? Interessieren Sie sich? Fünf Dollar für einmal. Fünfzehn für die ganze Nacht.« Er schaute auf seine Armbanduhr. »Bis zwölf Uhr mittags. Fünf Dollar für einmal, fünfzehn bis zwölf Uhr.«
»O. K.«, sagte ich. Es war gegen meine Prinzipien, aber ich war so deprimiert, daß ich gar nicht nachdachte. Das ist eben das Schlimme daran. Wenn man sehr deprimiert ist, kann man nichts mehr denken.
»Was heißt O. K.? Einmal oder bis mittags? Das muß ich wissen.«
»Einmal.«
»Schön, in welchem Zimmer sind Sie?«
Ich schaute auf das rote Schild an meinem Schlüssel.
»Zwölfzweiundzwanzig«, sagte ich. Ich bereute schon halb, daß ich mich so weit eingelassen hatte, aber jetzt war es zu spät.
»Schön, ich schicke ungefähr in einer Viertelstunde eine hinauf.« Er machte die Lifttür auf und ließ mich aussteigen.
»He, ist sie hübsch?« fragte ich. »Ich will kein altes Scheusal.«
»Kein altes Scheusal. Machen Sie sich keine Sorgen, Chef.«
»Wem soll ich das Geld geben?«
»Ihr«, sagte er. »Also abgemacht, Chef.« Damit schlug er die Lifttür zu, direkt vor meiner Nase.
Ich ging in mein Zimmer und versuchte mich mit Wasser zu kämmen, aber man kann mit kurzgeschnittenen Haaren nicht viel machen. Dann untersuchte ich, ob ich nach all den Zigaretten und den drei Whiskies, die ich bei Ernie getrunken hatte, schlecht aus dem Mund röche. Man braucht nur die Hand unter den Mund zu halten und den Atem zur Nase hinauf zu hauchen. Ich bemerkte keinen Gestank, aber ich putzte mir trotzdem die Zähne. Dann zog ich wieder ein frisches Hemd an.
Ich wußte zwar, daß ich mich für eine Nutte nicht besonders fein zu machen brauchte, aber ich konnte mich auf diese Weise wenigstens beschäftigen. Ich war ein bißchen nervös. Ich wurde zwar allmählich ziemlich sexy, aber nervös war ich doch. Ich war noch unschuldig, falls jemand die Wahrheit interessiert.
Tatsächlich. Ich hatte schon ein paarmal Gelegenheit gehabt, meine Unschuld zu verlieren, aber bisher war ich noch nie so weit gekommen. Irgend etwas kommt immer dazwischen. Wenn man zum Beispiel bei einem Mädchen zu Hause ist, kommen die Eltern im falschen Moment heim - oder man hat Angst, daß sie kommen könnten. Oder wenn man hinten in irgendeinem Auto sitzt, ist sicher vorne ein anderes Mädchen, das sich immer umdreht und absolut wissen will, was in dem ganzen verdammten Auto vorgeht. Jedenfalls kommt immer etwas dazwischen. Einmal war ich allerdings nah daran. Aber meistens, wenn man nah dran ist - mit einem Mädchen, die keine Nutte ist oder so, meine ich -, sagt sie, man solle aufhören.
Mein Fehler ist, daß ich dann wirklich aufhöre. Die meisten andern hören nicht auf, aber ich kann das nicht. Man weiß nie, ob die Mädchen wirklich wollen, daß man aufhört, oder ob sie Angst haben, oder ob sie einfach nur sagen, man solle aufhören, damit man selber schuld ist und nicht sie. Jedenfalls höre ich immer auf. Mein Fehler ist, daß sie mir leid tun. Die meisten Mädchen sind so dumm, meine ich. Wenn man sie eine Weile lang küßt und so weiter, kann man sozusagen zusehen, wie sie den Verstand verlieren.
Sobald ein Mädchen richtig leidenschaftlich wird, ist sie nicht mehr bei Trost. Ich weiß nicht. Wenn sie mir sagen, ich solle aufhören, höre ich auf. Ich bereue das jedesmal, nachdem ich sie heimbegleitet habe, aber ich mache es doch immer wieder so.
Während ich das frische Hemd anzog, dachte ich, daß jetzt eigentlich meine große Chance gekommen sei. Ich dachte, ich könnte an dieser Nutte Erfahrungen sammeln, falls ich je heirate oder so. Manchmal mache ich mir Sorgen deswegen.
In Whooton las ich einmal ein Buch, in dem ein sehr raffinierter, geschickter Schürzenjäger vorkam.
Monsieur Blanchard hieß er, daran erinnere ich mich noch. Es war ein miserables Buch, aber dieser Blanchard war nicht übel.
Er wohnte in einem großen Schloß an der Riviera in Europa und verbrachte seine Freizeit damit, Frauen mit dem Stock zu verjagen. Er war ein richtiger Wüstling, aber die Frauen rissen sich um ihn. An einer Stelle sagte er, der weibliche Körper sei wie eine Geige und so, auf der nur ein großer Musiker richtig spielen könne. Das ganze Buch war Schund, das weiß ich, aber ich hatte seither immer diese Geige im Kopf. Eigentlich wollte ich aus diesem Grund ein bißchen Übung bekommen, falls ich je heirate. Caulfield und seine Zaubergeige. Verrückt, das sehe ich selbst auch, aber doch nicht nur verrückt. Ich hätte nichts dagegen, auf diesem Gebiet wirklich etwas zu können. Meistens - falls sich jemand für die Wahrheit interessiert - weiß ich gar nicht recht, wo ich anfangen soll, wenn ich mit einem Mädchen Blödsinn mache. Bei einem von den Mädchen, bei denen mir dann irgend etwas dazwischenkam, dauerte es zum Beispiel fast eine Stunde, bis ich nur ihren verdammten Büstenhalter aufgemacht hatte. Als mir das endlich gelungen war, hätte sie mir schon am liebsten ins Gesicht gespuckt.
Ich ging also auf und ab und wartete auf diese Nutte. Dabei hoffte ich immer, daß sie hübsch wäre.
Besonders wichtig war mir das zwar nicht. Eigentlich wollte ich es nur rasch hinter mich bringen.
Endlich klopfte jemand, und als ich zur Tür ging, stand mir mein Koffer im Weg, so daß ich darüber fiel und mir fast das Knie zerschmettert hätte. Ich falle immer im passenden Moment über einen Koffer oder sonst was.
Als ich die Tür aufmachte, stand die Nutte da. Sie hatte eine Polojacke an und keinen Hut. Ihre Haare waren blond, aber offenbar gefärbt. Aber sie war doch keine alte Hexe. »Guten Abend«, sagte ich. Junge, war ich ein Lebemann!
»Sind Sie der, von dem Maurice geredet hat?« fragte sie.
Sie machte keinen übertrieben freundlichen Eindruck.
»Bedient Maurice den Lift?«
»Ja.«
»Ja, dann bin ich der. Wollen Sie nicht hereinkommen?« sagte ich. Ich wurde mit der Zeit richtig lässig. Ganz im Ernst.
Sie kam herein, zog sofort ihre Jacke aus und warf sie aufs Bett. Darunter trug sie ein grünes Kleid.
Dann setzte sie sich seitlich auf den Stuhl, der am Schreibtisch stand, und wippte mit dem Fuß.
Gleich darauf schlug sie die Beine andersherum übereinander und wippte wieder mit dem freien Fuß.
Für eine Prostituierte wirkte sie sehr nervös oder ängstlich.
Wahrscheinlich deshalb, weil sie noch furchtbar jung war.
Ungefähr so alt wie ich. Ich setzte mich in den großen Sessel beim Schreibtisch und bot ihr eine Zigarette an. »Ich rauche nicht«, sagte sie. Ihre Stimme war so dünn und leise, daß man sie kaum verstand. Sie bedankte sich auch nicht. Sie hatte wohl keine besseren Manieren.
»Darf ich mich vorstellen, ich heiße Jim Steele«, sagte ich.
»Haben Sie eine Uhr?« fragte sie. Natürlich war ihr mein Name vollkommen gleichgültig. »Wie alt sind Sie überhaupt?«
»Ich? Zweiundzwanzig.«
»Daß ich nicht lache!«
Diese Antwort klang sonderbar kindlich. Von einer Nutte hätte ich erwartet, daß sie »Mist« oder etwas Ähnliches gesagt hätte, aber nicht »Daß ich nicht lache« wie in der Schule.
»Wie alt sind denn Sie?«
»Alt genug, um mir nichts vormachen zu lassen«, sagte sie.
Sie war wirklich schlagfertig. »Haben Sie eine Uhr?« fragte sie wieder, und dann stand sie auf und zog sich das Kleid über den Kopf.
Mir wurde es komisch zumut, als sie das tat. So unvermittelt!
Man sollte es wohl stimulierend finden, wenn jemand das Kleid auszieht, aber ich fühlte nichts dergleichen. Ich war eher deprimiert als aufgeregt.
»He, haben Sie eine Uhr?«
»Nein. Nein, ich habe keine«, sagte ich. Junge, war mir komisch. »Wie heißen Sie?« fragte ich. Sie hatte nur noch einen rosa Unterrock an. Es war wirklich peinlich. Im Ernst.
»Sunny«, sagte sie. »Fangen wir an, he?«
»Möchten Sie sich nicht erst noch mit mir unterhalten?« fragte ich. Das war ein kindischer Vorschlag, aber es war mir verdammt sonderbar zumut. »Sind Sie sehr eilig?«
Sie schaute mich an, als ob ich verrückt wäre. »Über was zum Teufel wollen Sie sich unterhalten?« sagte sie.
»Ich weiß nicht. Über nichts Besonderes. Ich dachte nur, Sie hätten vielleicht Lust dazu.«
Sie setzte sich wieder auf den Stuhl am Schreibtisch, aber widerwillig, das merkte man deutlich.
Dann wippte sie wieder mit dem Fuß - furchtbar nervös.
»Möchten Sie jetzt nicht eine Zigarette?« fragte ich. Ich hatte vergessen, daß sie nicht rauchte.
»Ich rauche nicht. Hören Sie, wenn Sie über etwas reden wollen, dann fangen Sie damit an. Ich hab auch noch anderes zu tun.«
Es fiel mir aber kein Thema ein. Ich hätte sie gern gefragt, wie sie eine Prostituierte geworden sei, aber ich traute mich nicht. Wahrscheinlich hätte sie es mir ohnedies nicht erzählt.
»Sie sind nicht von New York, nicht?« sagte ich schließlich.
Etwas anderes fiel mir nicht ein.
»Hollywood«, sagte sie. Dann stand sie auf und ging zum Bett, wo ihr Kleid lag. »Haben Sie einen Kleiderbügel? Ich will nicht, daß mein Kleid zerdrückt wird. Es ist frisch gereinigt.«
»Gewiß«, sagte ich sofort. Ich war nur zu froh, daß ich aufstehen und etwas tun konnte. Ich nahm ihr Kleid und hängte es am Schrank auf. Komisch. Es machte mich irgendwie traurig.
Ich stellte mir vor, wie sie in ein Geschäft gegangen war und das Kleid gekauft hatte und wie niemand im Geschäft ahnte, daß sie eine Prostituierte war. Der Verkäufer hielt sie wohl für irgendein Mädchen. Das machte mich wahnsinnig traurig - ich weiß nicht genau, warum.
Sie setzte sich wieder hin, und ich versuchte, das Gespräch in Gang zu halten. Sie war eine schlechte Partnerin. »Arbeiten Sie jede Nacht?« fragte ich. Der Satz klang fürchterlich, als ich ihn ausgesprochen hatte.
»Ja.« Sie ging schon wieder im Zimmer herum. Sie nahm die Speisekarte, die auf dem Schreibtisch lag, und las sie.
»Was tun Sie tagsüber?«
Sie zuckte die Achseln. Sie war ziemlich mager. »Schlafen. Ins Kino gehn.« Sie legte die Menükarte hin. »Fangen wir an. Ich hab nicht die ganze -«
»Wissen Sie«, sagte ich, »ich bin heute etwas mitgenommen. Ich habe eine anstrengende Nacht hinter mir. Im Ernst. Ich bezahle Sie natürlich, aber wäre es Ihnen recht, daß wir es bleiben lassen? Oder haben Sie etwas dagegen?« Tatsächlich war ich einfach nicht mehr in der Stimmung. Ich war viel eher deprimiert als aufgeregt. Sie deprimierte mich. Ihr grünes Kleid am Schrank und so. Und außerdem kann ich das wohl überhaupt nie mit einem Menschen tun, der den ganzen Tag in einem blöden Kino sitzt. Das ist mir sicher nicht möglich.
Sie kam mit einem komischen Gesicht auf mich zu, so als ob sie mir nicht glaubte. »Was ist mit Ihnen los?« fragte sie.
»Nichts.« Herr im Himmel, ich wurde immer nervöser. »Ich habe nur kürzlich eine Operation gehabt.«
»So? Wo?«
»An meinem Klavichord.«
»Wirklich? Wo zum Teufel ist denn das?«
»Das Klavichord? Ach, ziemlich weit unten.«
»So?« sagte sie. »Schlimm.« Dann setzte sie sich auf meine verdammten Knie. »Du bist süß.«
Sie machte mich so nervös, daß ich wie toll weiterschwindelte. »Ich bin immer noch sehr mitgenommen«, sagte ich.
»Du siehst wie einer vom Film aus. Weißt du - wie heißt er doch? Du weißt schon, wen ich meine.«
»Ich weiß nicht«, sagte ich. Sie wollte nicht von meinen verdammten Knien herunter.
»Doch, natürlich. In dem Film mit Melvyn Douglas? Der, der den kleinen Bruder von Melvyn Douglas gespielt hat? Der aus dem Boot fällt? Wie hieß denn der?«
»Ich weiß nicht. Ich gehe so selten wie möglich ins Kino.«
Dann fing sie an, sich komisch zu benehmen. Ziemlich plump und so.
»Könnten Sie mich vielleicht in Ruhe lassen?« sagte ich. »Ich bin nicht in der Stimmung, ich hab es Ihnen schon gesagt. Ich hatte gerade erst eine Operation.«
Sie stand nicht auf, warf mir aber einen fürchterlich gemeinen Blick zu. »Hören Sie«, sagte sie, »ich hab geschlafen, als mich dieser verrückte Maurice geweckt hat. Falls Sie meinen, daß ich -«
»Ich habe Ihnen gesagt, daß ich Sie bezahlen werde. Ganz im Ernst. Ich habe reichlich Geld. Der Grund ist nur, daß ich mich gerade erst von einer sehr ernsten Operation erholen -«
»Warum sagen Sie denn dann diesem blöden Maurice, daß Sie ein Mädchen wollen? Wenn Sie gerade erst eine verdammte Operation an Ihrem verdammten Ichweißnichtwas gehabt haben?«
»Ich dachte zuerst, es ginge mir schon besser. Ich war etwas unüberlegt. Im Ernst. Es tut mir leid. Wenn Sie einen Augenblick aufstehen wollen, hole ich meine Brieftasche.«
Sie war tödlich beleidigt, aber sie stand von meinen verdammten Knien auf, so daß ich meine Brieftasche von der Kommode holen konnte. Ich zog eine Fünf-Dollar-Note heraus und gab sie ihr.
»Danke sehr«, sagte ich. »Wirklich vielen Dank.«
»Das ist eine Fünfernote. Es kostet zehn.«
Sie wurde allmählich giftig, das konnte man ihr ansehen. Ich hatte befürchtet, daß so etwas passieren könnte.
»Maurice sagte fünf«, sagte ich. »Fünfzehn bis mittags, hat er gesagt, und fünf für einmal.«
»Zehn für einmal.«
»Er hat fünf gesagt. Es tut mir wirklich leid, aber mehr zahle ich nicht.«
Sie zuckte halb die Achseln und sagte dann eisig: »Wollen Sie mir vielleicht mein Kleid geben? Oder macht Ihnen das zuviel Mühe?« Sie war ein unheimliches Ding. Trotz ihrem kleinen dünnen Stimmchen konnte sie einem beinah Angst einjagen.
Wenn sie eine fette alte Nutte mit dick geschminktem Gesicht gewesen wäre, hätte sie nicht halb so unheimlich gewirkt. Ich holte ihr das Kleid. Sie zog es an und nahm dann ihre Jacke vom Bett. »Adieu, du komischer Vogel«, sagte sie.
»Adieu«, antwortete ich. Ich sagte nichts mehr von Dank oder so. Ich bin froh darüber. Als Sunny fort war, blieb ich eine Weile im Sessel sitzen und rauchte ein paar Zigaretten. Draußen wurde es hell. Mir war schön elend, großer Gott. Man kann sich nicht vorstellen, wie deprimiert ich war. Ich fing an, laut mit Allie zu sprechen. Das tue ich manchmal, wenn ich sehr deprimiert bin. Ich sage ihm dann immer, er solle nur heimgehen und sein Fahrrad holen und mich vor Bobby Fallons Haus treffen. Bobby Fallon wohnte damals in Maine nicht weit von uns, und einmal wollten er und ich an den Sedebego-See fahren und dort picknicken. Wir wollten auch unsere Vogelflinten mitnehmen wir waren noch ziemlich klein und dachten, wir könnten mit diesen Flinten etwas erlegen. Als Allie uns davon sprechen hörte, wäre er gern mitgefahren, aber ich wollte ihn nicht dabeihaben. Ich sagte, er sei noch zu klein.
Deshalb sage ich jetzt manchmal zu ihm, wenn ich sehr deprimiert bin: »Also schön, geh heim und hol dein Fahrrad und triff mich vor Bobbys Haus. Beeil dich.« Ich nahm ihn sonst überallhin mit, aber an diesem einen Tag damals wollte ich nicht. Er war nicht gekränkt darüber - er war nie über etwas gekränkt -, aber ich denke doch immer daran, wenn ich sehr deprimiert bin.
Schließlich zog ich mich aus und ging ins Bett. Ich hätte gern gebetet oder ich weiß nicht was, aber ich brachte es nicht fertig.
Ich kann nicht immer beten, wenn ich dazu Lust habe. Erstens einmal bin ich eine Art Atheist. Christus und so habe ich wohl gern, aber aus dem übrigen Zeug in der Bibel mache ich mir nicht viel. Zum Beispiel diese Jünger: die ärgern mich wahnsinnig, wenn ich ehrlich sein soll. Nachdem Christus tot war, benahmen sie sich zwar anständig, aber solange er noch lebte, nützten sie ihm ungefähr ebensoviel wie ein Loch im Kopf. Sie ließen ihn immer nur im Stich. Fast alle Leute in der Bibel sind mir lieber als die Jünger. Falls es jemand genau wissen will: der Kerl, der mir nach Jesus in der Bibel am besten gefällt, ist dieser Verrückte, der in den Gräbern wohnte und sich dauernd an Steinen schnitt; der gefällt mir zehnmal so gut wie die Jünger, dieser arme Hund. In Whooton diskutierte ich oft mit einem namens Arthur Childs, der am andern Gangende wohnte.
Childs war ein Quäker und las fortwährend in der Bibel. Er war sehr nett, ich hatte ihn gern, aber über vieles in der Bibel waren wir ganz verschiedener Ansicht. Hauptsächlich über die Jünger. Er sagte immer, wenn ich nicht für die Jünger sei, dann sei ich auch nicht für Christus und so. Da Christus die Jünger ausgesucht habe, müßten sie einem recht sein. Ich sagte, natürlich habe Christus sie ausgesucht, das wisse ich auch, aber er habe sie nur auf gut Glück ausgesucht. Er habe ja keine Zeit gehabt, jeden genau zu analysieren. Ich sagte, ich machte das Christus nicht zum Vorwurf. Es sei nicht seine Schuld gewesen, daß er so wenig Zeit gehabt habe. Ich erinnere mich, daß ich Childs einmal fragte, ob er denke, daß Judas - der Christus verriet und so weiter - nach seinem Selbstmord in die Hölle gekommen sei. Childs sagte, das meine er allerdings. In diesem Punkt war ich absolut anderer Ansicht. Ich sagte, ich würde tausend Dollar wetten, daß Christus diesen Judas nicht in die Hölle geschickt hätte. Das würde ich heute immer noch wetten, wenn ich tausend Dollar hätte. Jeder von den Jüngern hätte ihn in die Hölle geschickt - und zwar ohne Umschweife -, das glaube ich wohl, aber Christus ganz sicher nicht. Childs sagte, mein Fehler sei eben, daß ich nicht in die Kirche ginge. Damit hatte er in einer Art recht. Ich gehe nie in die Kirche. Meine Eltern gehören verschiedenen Konfessionen an, und alle Kinder in unserer Familie sind Atheisten. Falls jemand die ganze Wahrheit wissen will, so muß ich sagen, daß ich Geistliche nicht leiden kann. In jeder Schule, in der ich war, hatten die Geistlichen immer so eine salbungsvolle Stimme, wenn sie mit ihrer Predigt anfingen. Das finde ich unerträglich. Ich verstehe nicht, warum zum Teufel sie nicht mit ihren natürlichen Stimmen sprechen können. Es klingt so unecht. Jedenfalls konnte ich also kein Wort beten, als ich im Bett lag. Wenn ich anfangen wollte, fiel mir immer diese Sunny ein, wie sie »komischer Vogel« zu mir gesagt hatte. Schließlich setzte ich mich auf und rauchte wieder eine Zigarette. Sie schmeckte abscheulich. Ich hatte wohl gut zwei Päckchen geraucht, seit ich von Pencey fortgegangen war.
Während ich dalag und rauchte, klopfte plötzlich jemand an die Tür. Zuerst hoffte ich noch, daß es nicht an meiner Tür sei, obwohl ich ganz sicher war. Ich weiß nicht warum, aber jedenfalls war ich ganz sicher. Ich wußte auch, wer es war. Ich habe einen sechsten Sinn.
»Wer ist da?« fragte ich. Ich hatte ziemlich Angst. Ich bin in solchen Sachen sehr feig.
Daraufhin klopfte es nur noch lauter.
Schließlich ging ich hin, nur im Pyjama, und machte die Tür auf. Das Licht brauchte ich gar nicht anzudrehen, weil es schon taghell war. Sunny und Maurice standen vor der Tür.
»Was ist los? Was wollen Sie?« fragte ich. Herr im Himmel, meine Stimme zitterte wie toll.
»Weiter nichts«, sagte Maurice. »Nur fünf Dollar.« Er führte das Gespräch für beide. Sunny stand nur mit offenem Mund daneben.
»Ich hab schon bezahlt. Ich hab ihr fünf Dollar gegeben. Fragen Sie sie«, sagte ich. Immer mit dieser zitternden Stimme.
»Es kostet zehn, Chef. Das hab ich Ihnen gesagt. Zehn für einmal, fünfzehn bis mittags, hab ich gesagt.«
»Das haben Sie nicht gesagt. Fünf für einmal haben Sie gesagt. Fünfzehn bis mittags, das stimmt, aber ich habe deutlich gehört -«
»Lassen Sie uns herein, Chef.«
»Warum?« sagte ich. Großer Gott, mein Herz jagte mich fast zum Zimmer hinaus. Wenn ich nur wenigstens angezogen gewesen wäre. Schrecklich, nur so im Pyjama dazustehen, wenn so etwas passiert.
»Los, Chef«, sagte Maurice. Dann gab er mir einen Stoß mit seiner dreckigen Hand. Ich wäre beinah umgefallen - er war ein riesenhafter Mensch. Im nächsten Augenblick waren er und Sunny schon im Zimmer. Sie benahmen sich, als ob sie zu Hause wären. Sunny setzte sich aufs Fensterbrett. Maurice nahm im Sessel Platz und machte seinen Kragen auf - er hatte eine Livree an.
Ich war blödsinnig nervös.
»Los, heraus damit. Ich muß wieder an meine Arbeit.«
»Ich habe Ihnen schon zehnmal gesagt, daß ich Ihnen nichts mehr schuldig bin. Ich habe ihr schon fünf-«
»Dummes Zeug. Her damit.«
»Warum sollte ich ihr noch einmal fünf Dollar geben?« sagte ich. Meine Stimme zitterte immer blödsinniger. »Sie wollen mich betrügen.«
Maurice knöpfte seine Livreejacke auf. Darunter trug er nur einen Hemdkragen, aber kein Hemd oder sonst etwas. Er hatte einen fetten, behaarten Bauch. »Kein Mensch betrügt hier jemand. Heraus damit.«
»Nein.«
Als ich das sagte, stand er auf und kam auf mich zu. Er machte ein Gesicht, als ob er furchtbar müde wäre oder sich furchtbar langweilte. Ich bekam Angst. Ich verschränkte die Arme. Daran erinnere ich mich noch. Es wäre sicher weniger schlimm gewesen, wenn ich nicht nur diesen verdammten Pyjama angehabt hätte.
»Her damit.« Er stellte sich vor mich hin. Das war alles, was ihm einfiel. »Her damit.« Er war ein richtiger Idiot.
»Nein.«
»Dann muß ich wohl mit einer kleinen Tracht Prügel nachhelfen. Ich tu's nicht gern, aber es ist wohl nötig. Sie sind uns fünf Dollar schuldig.«
»Nichts bin ich Ihnen schuldig!« sagte ich. »Wenn Sie mich anrühren, schreie ich, und zwar laut. Ich wecke das ganze Hotel auf. Die Polizei und alle.« Meine Stimme schwankte wahnsinnig.
»Nur los. So laut Sie können. Fein«, sagte Maurice. »Sie wollen wohl, daß Ihre Eltern hören, daß Sie eine Hure bestellt haben? So ein Herrensöhnchen wie Sie?« Auf seine eigene Art war er nicht dumm, das muß man sagen.
»Lassen Sie mich in Ruhe. Wenn Sie zehn Dollar gesagt hätten, wäre es etwas anderes. Aber Sie haben deutlich -«
»Wollen Sie jetzt vielleicht damit herausrücken?« Er hatte mich bis an die Tür gedrängt. Er stand mit seinem widerwärtig behaarten Bauch ganz dicht vor mir.
»Lassen Sie mich in Ruhe. Scheren Sie sich zum Teufel!« sagte ich. Die Arme hatte ich immer noch verschränkt. Großer Gott, ich war ein schöner Schwächling.
Dann mischte sich Sunny zum erstenmal ein. »He, Maurice. Soll ich seine Brieftasche holen?« fragte sie. »Sie liegt dort drüben.«
»Ja, hol sie.«
»Lassen Sie meine Brieftasche liegen!«
»Hab sie schon«, sagte Sunny. Sie schwenkte eine Fünf-Dollar-Note. »Da, sehen Sie? Ich nehme nur die fünf, die Sie mir schuldig sind. Wir sind keine Diebe.«
Plötzlich fing ich an zu heulen. Ich gäbe viel darum, wenn ich nicht geheult hätte, aber ich konnte nichts dagegen tun. »Nein, Sie sind keine Diebe«, sagte ich. »Sie stehlen mir nur fünf-«
»Maul halten«, sagte Maurice und gab mir einen Stoß.
»Laß ihn jetzt, he du«, sagte Sunny. »He, komm jetzt. Wir haben ja das Geld, das er uns schuldig gewesen ist. Komm, wir gehn.«
»Ich komme«, sagte Maurice. Aber er blieb noch vor mir stehen.
»Im Ernst, Maurice, laß ihn jetzt.«
»Es passiert niemand etwas«, sagte er unschuldig. Dann boxte er mich zum drittenmal, ich sage niemand, wohin er mich schlug, aber es tat höllisch weh. Ich sagte, er sei ein verfluchter, gemeiner Idiot. »Was?« fragte er. Dabei hielt er wie ein Schwerhöriger die Hand ans Ohr. »Was? Was bin ich?«
Ich heulte immer noch halb. Ich war so wütend und außer mir und ich weiß nicht was. »Sie sind ein dreckiger Idiot«, sagte ich.
»Ein blöder Betrüger sind Sie, ein gemeiner Idiot, und in zwei Jahren sind Sie einer von den zerlumpten Lümmeln, die auf der Straße betteln. Ihre dreckige Jacke ist dann voll von -«
Daraufhin machte er Ernst. Ich versuchte ihm nicht einmal auszuweichen oder mich zu ducken oder so. Ich spürte nur einen kolossalen Schlag in den Magen. Ich wurde aber nicht ohnmächtig, denn ich erinnere mich, daß ich vom Boden aufschaute und beide hinausgehen sah. Dann blieb ich ziemlich lang auf dem Boden liegen, so wie an dem Abend mit Stradlater.
Nur dachte ich diesmal, ich wäre im Sterben. Tatsächlich. Es war wie ein Ertrinken oder so ähnlich. Ich bekam keine Luft mehr. Als ich schließlich aufstand, mußte ich ganz zusammengekrümmt ins Badezimmer gehen und mir den Magen halten.
Aber ich bin wohl wahnsinnig. Wirklich wahnsinnig. Auf dem Weg ins Badezimmer fing ich an so zu tun, als ob ich eine Kugel im Leib hätte. Maurice hatte mich angeschossen. Jetzt schleppte ich mich ins Badezimmer, um mich mit einem tüchtigen Schluck Whisky oder so zu stärken und erst richtig aktionsfähig zu werden. Ich stellte mir vor, wie ich fertig angezogen und mit meinem Revolver in der Tasche aus dem Badezimmer kommen würde, kaum merklich schwankend.
Dann ginge ich zu Fuß die Treppe hinunter, anstatt den Lift zu nehmen. Ich hielte mich am Geländer, während mir von Zeit zu Zeit etwas Blut aus dem Mundwinkel flösse. Ich ginge ein paar Stockwerke weit hinunter - die Hände auf den Leib gepreßt und Blutspuren hinterlassend -, und dann würde ich am Lift läuten.
Sobald Maurice die Lifttüren zurückschöbe, sähe er mich mit dem Revolver in der Hand dastehen und finge mit einer hohen angsterfüllten Stimme an zu schreien, daß ich ihn verschonen möge. Aber ich schösse trotzdem auf ihn. Sechs Kugeln in seinen fetten behaarten Bauch. Dann würde ich den Revolver in den Liftschacht werfen, nachdem ich alle Fingerabdrücke entfernt hätte. Dann würde ich mich wieder in mein Zimmer schleppen und Jane anrufen. Sie müßte kommen und meine Wunde verbinden. Ich stellte mir vor, wie sie eine Zigarette für mich halten würde, damit ich rauchen könnte, während mein Blut verströmte.
Die verdammten Filme. Sie können einen wirklich ruinieren.
Ganz im Ernst.
Ich blieb ungefähr eine Stunde im Badezimmer und nahm ein Bad. Dann legte ich mich ins Bett. Es dauerte ziemlich lange, bis ich einschlief - ich war nicht einmal müde -, aber endlich gelang es mir doch. Im Grund hätte ich am liebsten Selbstmord begangen. Ich wäre gern aus dem Fenster gesprungen.
Wahrscheinlich hätte ich das auch getan, wenn ich sicher gewesen wäre, daß mich jemand zudecken würde, sobald ich unten ankäme. Ich wollte mich nur nicht von lauter Gaffern anglotzen lassen, wenn ich zerschmettert am Boden läge.
Manchmal hat man das Taxifahren so satt wie das Liftfahren.
Plötzlich muß man einfach zu Fuß gehen, ganz gleich, wie weit oder wie hoch. Als Kind stieg ich oft zu Fuß in unsere Wohnung hinauf.
Bis in den zwölften Stock.
Man sah nichts mehr davon, daß es geschneit hatte. Auf den Trottoirs lag kaum noch Schnee. Aber es war eiskalt. Ich zog meine rote Jagdmütze aus der Tasche und setzte sie auf - es war mir absolut gleichgültig, wie ich aussah. Ich stülpte sogar die Ohrenklappen herunter. Ich hätte gern gewußt, wer mir in Pencey die Handschuhe gestohlen hatte, denn ich fror an den Händen. Allerdings hätte ich auch nicht viel unternommen, wenn ich den Gauner gekannt hätte. Ich bin ein großer Feigling.
Ich versuche es zu verbergen, aber deshalb bin ich trotzdem einer. Wenn ich in Pencey zum Beispiel herausgefunden hätte, wer dieser Gauner war, hätte ich ihn vermutlich in seinem Zimmer aufgesucht und zu ihm gesagt: »So, wie wär's, wenn du mir die Handschuhe zurückgeben würdest?« Dann hätte der Betreffende wahrscheinlich mit der unschuldigsten Stimme gefragt: »Welche Handschuhe?«
Dann hätte ich in seinem Schrank nachgesehen und die Handschuhe gefunden. In seinen verdammten Gummischuhen versteckt oder so. Ich hätte sie genommen und ihm vor die Nase gehalten und gesagt: »Sind das vielleicht deine verdammten Handschuhe?« Dann hätte er mich verlogen unschuldig angeschaut und geantwortet: »Die hab ich überhaupt noch nie gesehen. Nimm sie nur, wenn sie dir gehören. Ich will sie nicht.« Dann wäre ich wohl fünf Minuten mit den verdammten Handschuhen dagestanden und hätte gespürt, daß ich ihm jetzt einen Kinnhaken versetzen müßte.
Aber ich hätte es nicht fertiggebracht. Ich hätte nur dagestanden und versucht, aggressiv auszusehen.
Vielleicht hätte ich auch irgendwas Rotzfreches gesagt, anstatt ihm einen Kinnhaken zu geben.
Jedenfalls hätte er sich dann vor mich hingestellt und hätte gesagt: »Hör mal, Caulfield, behauptest du vielleicht, daß ich stehle?« Anstatt darauf zu antworten: »Ganz richtig, das behaupte ich, du dreckiger Gauner!« hätte ich wahrscheinlich gesagt: »Ich weiß nur, daß meine verdammten Handschuhe hier in deinen Gummischuhen waren.« Von da an wäre er sicher gewesen, daß ich ihm nichts tue; er hätte gesagt: »Hör mal, das wollen wir klarstellen. Behauptest du, daß ich stehle?«
Darauf hätte ich wieder nur geantwortet: »Kein Mensch redet hier von Stehlen. Ich weiß nur, daß meine Handschuhe in deinen verdammten Gummischuhen waren.« Auf diese Weise hätte es stundenlang weitergehen können. Schließlich wäre ich hinausgegangen, ohne ihm auch nur ein Haar zu krümmen.
Wahrscheinlich hätte ich im Waschraum eine Zigarette geraucht und vor dem Spiegel aggressive Gesichtsausdrücke geübt.
Über solches Zeug dachte ich auf dem ganzen Rückweg ins Hotel nach. Es ist kein Spaß, wenn man feig ist. Vielleicht bin ich nicht durch und durch feig. Ich weiß nicht. Vielleicht bin ich auch nur teilweise feige und teilweise ein Mensch, der sich nicht viel daraus macht, wenn er seine Handschuhe verliert. Das ist einer meiner Fehler - ich mache mir nie viel daraus, wenn ich etwas verloren habe.
Als ich noch klein war, machte das meine Mutter rasend.
Manche Leute können tagelang nach etwas suchen, das sie verloren haben. Mir liegt an nichts so viel. Vielleicht bin ich aus diesem Grund feige. Das ist zwar keine Entschuldigung - natürlich nicht. Man sollte überhaupt nicht feig sein. Wenn man spürt, daß man jemandem einen Kinnhaken geben müßte und eigentlich Lust dazu hätte, dann sollte man es auch tun. Ich bin allerdings gar nicht dafür begabt. Ich könnte einen Menschen leichter zum Fenster hinauswerfen oder ihn mit einer Axt enthaupten als ihm einen Kinnhaken geben.
Boxkämpfe sind mir verhaßt. Es macht mir nichts, wenn ich selber getroffen werde - obwohl es mich selbstverständlich auch nicht gerade begeistert -, aber schrecklich finde ich in einem Boxkampf das Gesicht des Gegners. Ich ertrage es einfach nicht, sein Gesicht anzusehen - das ist meine größte Schwäche. Es wäre viel weniger schlimm, wenn beide mit verbundenen Augen oder ich weiß nicht wie kämpfen könnten. Bei näherer Betrachtung ist das eigentlich eine komische Art von Feigheit, aber Feigheit ist es jedenfalls doch. Ich mache mir nichts vor.
Ich wurde immer deprimierter, je länger ich über die Handschuhe und meine Feigheit nachdachte, und nach einer Weile beschloß ich, irgendwo noch etwas zu trinken. Bei Ernie hatte ich nur drei Whiskies getrunken, und den letzten sogar nur halb. Ich vertrage unglaublich viel. Ich kann die ganze Nacht trinken, ohne daß man es mir anmerkt, wenn ich entsprechend aufgelegt bin. In Whooton kaufte ich einmal mit einem andern - Raymond Goldfarb hieß er - eine Flasche Whisky und trank sie am Samstagabend in der Kapelle mit ihm aus, wo uns niemand entdecken konnte. Ihm bekam es schlecht, aber mir war kaum etwas anzumerken. Ich wurde nur sehr kühl und nonchalant. Ich übergab mich, bevor ich ins Bett ging, aber ich hätte nicht einmal das zu tun brauchen; ich zwang mich dazu.
Als ich in eine Bar einschwenken wollte, kamen zwei schwer betrunkene Kerle heraus und wollten wissen, wo die Untergrundbahn sei. Einer sah wie ein Kubaner aus und hauchte mir fortwährend seinen stinkenden Atem ins Gesicht, während ich ihm den Weg beschrieb. Danach ging ich überhaupt nicht in die verdammte Bar hinein, sondern zum Hotel.
Die Halle war ganz leer. Es roch nach fünfzig Millionen kalten Zigaretten. Ich war noch nicht zum Schlafen müde, aber irgendwie elend. Deprimiert und so. Ich wäre am liebsten tot gewesen.
Dann geriet ich plötzlich in eine üble Geschichte.
Als ich nämlich in den Lift ging, fragte der Hotelangestellte: »Haben Sie heute abend noch Interesse an einem Späßchen?«
»Was meinen Sie damit?« fragte ich. Ich hatte keine Ahnung, auf was er hinauswollte.
»Soll ich Ihnen 'ne Kleine ins Zimmer schicken?«
»Mir?« sagte ich. Das war eine dumme Antwort, aber es ist ziemlich verwirrend, wenn einem jemand plötzlich mit einer solchen Frage auf den Leib rückt.
»Wie alt sind Sie?« fragte er.
»Warum?« sagte ich. »Zweiundzwanzig.«
»Hm. Also was? Interessieren Sie sich? Fünf Dollar für einmal. Fünfzehn für die ganze Nacht.« Er schaute auf seine Armbanduhr. »Bis zwölf Uhr mittags. Fünf Dollar für einmal, fünfzehn bis zwölf Uhr.«
»O. K.«, sagte ich. Es war gegen meine Prinzipien, aber ich war so deprimiert, daß ich gar nicht nachdachte. Das ist eben das Schlimme daran. Wenn man sehr deprimiert ist, kann man nichts mehr denken.
»Was heißt O. K.? Einmal oder bis mittags? Das muß ich wissen.«
»Einmal.«
»Schön, in welchem Zimmer sind Sie?«
Ich schaute auf das rote Schild an meinem Schlüssel.
»Zwölfzweiundzwanzig«, sagte ich. Ich bereute schon halb, daß ich mich so weit eingelassen hatte, aber jetzt war es zu spät.
»Schön, ich schicke ungefähr in einer Viertelstunde eine hinauf.« Er machte die Lifttür auf und ließ mich aussteigen.
»He, ist sie hübsch?« fragte ich. »Ich will kein altes Scheusal.«
»Kein altes Scheusal. Machen Sie sich keine Sorgen, Chef.«
»Wem soll ich das Geld geben?«
»Ihr«, sagte er. »Also abgemacht, Chef.« Damit schlug er die Lifttür zu, direkt vor meiner Nase.
Ich ging in mein Zimmer und versuchte mich mit Wasser zu kämmen, aber man kann mit kurzgeschnittenen Haaren nicht viel machen. Dann untersuchte ich, ob ich nach all den Zigaretten und den drei Whiskies, die ich bei Ernie getrunken hatte, schlecht aus dem Mund röche. Man braucht nur die Hand unter den Mund zu halten und den Atem zur Nase hinauf zu hauchen. Ich bemerkte keinen Gestank, aber ich putzte mir trotzdem die Zähne. Dann zog ich wieder ein frisches Hemd an.
Ich wußte zwar, daß ich mich für eine Nutte nicht besonders fein zu machen brauchte, aber ich konnte mich auf diese Weise wenigstens beschäftigen. Ich war ein bißchen nervös. Ich wurde zwar allmählich ziemlich sexy, aber nervös war ich doch. Ich war noch unschuldig, falls jemand die Wahrheit interessiert.
Tatsächlich. Ich hatte schon ein paarmal Gelegenheit gehabt, meine Unschuld zu verlieren, aber bisher war ich noch nie so weit gekommen. Irgend etwas kommt immer dazwischen. Wenn man zum Beispiel bei einem Mädchen zu Hause ist, kommen die Eltern im falschen Moment heim - oder man hat Angst, daß sie kommen könnten. Oder wenn man hinten in irgendeinem Auto sitzt, ist sicher vorne ein anderes Mädchen, das sich immer umdreht und absolut wissen will, was in dem ganzen verdammten Auto vorgeht. Jedenfalls kommt immer etwas dazwischen. Einmal war ich allerdings nah daran. Aber meistens, wenn man nah dran ist - mit einem Mädchen, die keine Nutte ist oder so, meine ich -, sagt sie, man solle aufhören.
Mein Fehler ist, daß ich dann wirklich aufhöre. Die meisten andern hören nicht auf, aber ich kann das nicht. Man weiß nie, ob die Mädchen wirklich wollen, daß man aufhört, oder ob sie Angst haben, oder ob sie einfach nur sagen, man solle aufhören, damit man selber schuld ist und nicht sie. Jedenfalls höre ich immer auf. Mein Fehler ist, daß sie mir leid tun. Die meisten Mädchen sind so dumm, meine ich. Wenn man sie eine Weile lang küßt und so weiter, kann man sozusagen zusehen, wie sie den Verstand verlieren.
Sobald ein Mädchen richtig leidenschaftlich wird, ist sie nicht mehr bei Trost. Ich weiß nicht. Wenn sie mir sagen, ich solle aufhören, höre ich auf. Ich bereue das jedesmal, nachdem ich sie heimbegleitet habe, aber ich mache es doch immer wieder so.
Während ich das frische Hemd anzog, dachte ich, daß jetzt eigentlich meine große Chance gekommen sei. Ich dachte, ich könnte an dieser Nutte Erfahrungen sammeln, falls ich je heirate oder so. Manchmal mache ich mir Sorgen deswegen.
In Whooton las ich einmal ein Buch, in dem ein sehr raffinierter, geschickter Schürzenjäger vorkam.
Monsieur Blanchard hieß er, daran erinnere ich mich noch. Es war ein miserables Buch, aber dieser Blanchard war nicht übel.
Er wohnte in einem großen Schloß an der Riviera in Europa und verbrachte seine Freizeit damit, Frauen mit dem Stock zu verjagen. Er war ein richtiger Wüstling, aber die Frauen rissen sich um ihn. An einer Stelle sagte er, der weibliche Körper sei wie eine Geige und so, auf der nur ein großer Musiker richtig spielen könne. Das ganze Buch war Schund, das weiß ich, aber ich hatte seither immer diese Geige im Kopf. Eigentlich wollte ich aus diesem Grund ein bißchen Übung bekommen, falls ich je heirate. Caulfield und seine Zaubergeige. Verrückt, das sehe ich selbst auch, aber doch nicht nur verrückt. Ich hätte nichts dagegen, auf diesem Gebiet wirklich etwas zu können. Meistens - falls sich jemand für die Wahrheit interessiert - weiß ich gar nicht recht, wo ich anfangen soll, wenn ich mit einem Mädchen Blödsinn mache. Bei einem von den Mädchen, bei denen mir dann irgend etwas dazwischenkam, dauerte es zum Beispiel fast eine Stunde, bis ich nur ihren verdammten Büstenhalter aufgemacht hatte. Als mir das endlich gelungen war, hätte sie mir schon am liebsten ins Gesicht gespuckt.
Ich ging also auf und ab und wartete auf diese Nutte. Dabei hoffte ich immer, daß sie hübsch wäre.
Besonders wichtig war mir das zwar nicht. Eigentlich wollte ich es nur rasch hinter mich bringen.
Endlich klopfte jemand, und als ich zur Tür ging, stand mir mein Koffer im Weg, so daß ich darüber fiel und mir fast das Knie zerschmettert hätte. Ich falle immer im passenden Moment über einen Koffer oder sonst was.
Als ich die Tür aufmachte, stand die Nutte da. Sie hatte eine Polojacke an und keinen Hut. Ihre Haare waren blond, aber offenbar gefärbt. Aber sie war doch keine alte Hexe. »Guten Abend«, sagte ich. Junge, war ich ein Lebemann!
»Sind Sie der, von dem Maurice geredet hat?« fragte sie.
Sie machte keinen übertrieben freundlichen Eindruck.
»Bedient Maurice den Lift?«
»Ja.«
»Ja, dann bin ich der. Wollen Sie nicht hereinkommen?« sagte ich. Ich wurde mit der Zeit richtig lässig. Ganz im Ernst.
Sie kam herein, zog sofort ihre Jacke aus und warf sie aufs Bett. Darunter trug sie ein grünes Kleid.
Dann setzte sie sich seitlich auf den Stuhl, der am Schreibtisch stand, und wippte mit dem Fuß.
Gleich darauf schlug sie die Beine andersherum übereinander und wippte wieder mit dem freien Fuß.
Für eine Prostituierte wirkte sie sehr nervös oder ängstlich.
Wahrscheinlich deshalb, weil sie noch furchtbar jung war.
Ungefähr so alt wie ich. Ich setzte mich in den großen Sessel beim Schreibtisch und bot ihr eine Zigarette an. »Ich rauche nicht«, sagte sie. Ihre Stimme war so dünn und leise, daß man sie kaum verstand. Sie bedankte sich auch nicht. Sie hatte wohl keine besseren Manieren.
»Darf ich mich vorstellen, ich heiße Jim Steele«, sagte ich.
»Haben Sie eine Uhr?« fragte sie. Natürlich war ihr mein Name vollkommen gleichgültig. »Wie alt sind Sie überhaupt?«
»Ich? Zweiundzwanzig.«
»Daß ich nicht lache!«
Diese Antwort klang sonderbar kindlich. Von einer Nutte hätte ich erwartet, daß sie »Mist« oder etwas Ähnliches gesagt hätte, aber nicht »Daß ich nicht lache« wie in der Schule.
»Wie alt sind denn Sie?«
»Alt genug, um mir nichts vormachen zu lassen«, sagte sie.
Sie war wirklich schlagfertig. »Haben Sie eine Uhr?« fragte sie wieder, und dann stand sie auf und zog sich das Kleid über den Kopf.
Mir wurde es komisch zumut, als sie das tat. So unvermittelt!
Man sollte es wohl stimulierend finden, wenn jemand das Kleid auszieht, aber ich fühlte nichts dergleichen. Ich war eher deprimiert als aufgeregt.
»He, haben Sie eine Uhr?«
»Nein. Nein, ich habe keine«, sagte ich. Junge, war mir komisch. »Wie heißen Sie?« fragte ich. Sie hatte nur noch einen rosa Unterrock an. Es war wirklich peinlich. Im Ernst.
»Sunny«, sagte sie. »Fangen wir an, he?«
»Möchten Sie sich nicht erst noch mit mir unterhalten?« fragte ich. Das war ein kindischer Vorschlag, aber es war mir verdammt sonderbar zumut. »Sind Sie sehr eilig?«
Sie schaute mich an, als ob ich verrückt wäre. »Über was zum Teufel wollen Sie sich unterhalten?« sagte sie.
»Ich weiß nicht. Über nichts Besonderes. Ich dachte nur, Sie hätten vielleicht Lust dazu.«
Sie setzte sich wieder auf den Stuhl am Schreibtisch, aber widerwillig, das merkte man deutlich.
Dann wippte sie wieder mit dem Fuß - furchtbar nervös.
»Möchten Sie jetzt nicht eine Zigarette?« fragte ich. Ich hatte vergessen, daß sie nicht rauchte.
»Ich rauche nicht. Hören Sie, wenn Sie über etwas reden wollen, dann fangen Sie damit an. Ich hab auch noch anderes zu tun.«
Es fiel mir aber kein Thema ein. Ich hätte sie gern gefragt, wie sie eine Prostituierte geworden sei, aber ich traute mich nicht. Wahrscheinlich hätte sie es mir ohnedies nicht erzählt.
»Sie sind nicht von New York, nicht?« sagte ich schließlich.
Etwas anderes fiel mir nicht ein.
»Hollywood«, sagte sie. Dann stand sie auf und ging zum Bett, wo ihr Kleid lag. »Haben Sie einen Kleiderbügel? Ich will nicht, daß mein Kleid zerdrückt wird. Es ist frisch gereinigt.«
»Gewiß«, sagte ich sofort. Ich war nur zu froh, daß ich aufstehen und etwas tun konnte. Ich nahm ihr Kleid und hängte es am Schrank auf. Komisch. Es machte mich irgendwie traurig.
Ich stellte mir vor, wie sie in ein Geschäft gegangen war und das Kleid gekauft hatte und wie niemand im Geschäft ahnte, daß sie eine Prostituierte war. Der Verkäufer hielt sie wohl für irgendein Mädchen. Das machte mich wahnsinnig traurig - ich weiß nicht genau, warum.
Sie setzte sich wieder hin, und ich versuchte, das Gespräch in Gang zu halten. Sie war eine schlechte Partnerin. »Arbeiten Sie jede Nacht?« fragte ich. Der Satz klang fürchterlich, als ich ihn ausgesprochen hatte.
»Ja.« Sie ging schon wieder im Zimmer herum. Sie nahm die Speisekarte, die auf dem Schreibtisch lag, und las sie.
»Was tun Sie tagsüber?«
Sie zuckte die Achseln. Sie war ziemlich mager. »Schlafen. Ins Kino gehn.« Sie legte die Menükarte hin. »Fangen wir an. Ich hab nicht die ganze -«
»Wissen Sie«, sagte ich, »ich bin heute etwas mitgenommen. Ich habe eine anstrengende Nacht hinter mir. Im Ernst. Ich bezahle Sie natürlich, aber wäre es Ihnen recht, daß wir es bleiben lassen? Oder haben Sie etwas dagegen?« Tatsächlich war ich einfach nicht mehr in der Stimmung. Ich war viel eher deprimiert als aufgeregt. Sie deprimierte mich. Ihr grünes Kleid am Schrank und so. Und außerdem kann ich das wohl überhaupt nie mit einem Menschen tun, der den ganzen Tag in einem blöden Kino sitzt. Das ist mir sicher nicht möglich.
Sie kam mit einem komischen Gesicht auf mich zu, so als ob sie mir nicht glaubte. »Was ist mit Ihnen los?« fragte sie.
»Nichts.« Herr im Himmel, ich wurde immer nervöser. »Ich habe nur kürzlich eine Operation gehabt.«
»So? Wo?«
»An meinem Klavichord.«
»Wirklich? Wo zum Teufel ist denn das?«
»Das Klavichord? Ach, ziemlich weit unten.«
»So?« sagte sie. »Schlimm.« Dann setzte sie sich auf meine verdammten Knie. »Du bist süß.«
Sie machte mich so nervös, daß ich wie toll weiterschwindelte. »Ich bin immer noch sehr mitgenommen«, sagte ich.
»Du siehst wie einer vom Film aus. Weißt du - wie heißt er doch? Du weißt schon, wen ich meine.«
»Ich weiß nicht«, sagte ich. Sie wollte nicht von meinen verdammten Knien herunter.
»Doch, natürlich. In dem Film mit Melvyn Douglas? Der, der den kleinen Bruder von Melvyn Douglas gespielt hat? Der aus dem Boot fällt? Wie hieß denn der?«
»Ich weiß nicht. Ich gehe so selten wie möglich ins Kino.«
Dann fing sie an, sich komisch zu benehmen. Ziemlich plump und so.
»Könnten Sie mich vielleicht in Ruhe lassen?« sagte ich. »Ich bin nicht in der Stimmung, ich hab es Ihnen schon gesagt. Ich hatte gerade erst eine Operation.«
Sie stand nicht auf, warf mir aber einen fürchterlich gemeinen Blick zu. »Hören Sie«, sagte sie, »ich hab geschlafen, als mich dieser verrückte Maurice geweckt hat. Falls Sie meinen, daß ich -«
»Ich habe Ihnen gesagt, daß ich Sie bezahlen werde. Ganz im Ernst. Ich habe reichlich Geld. Der Grund ist nur, daß ich mich gerade erst von einer sehr ernsten Operation erholen -«
»Warum sagen Sie denn dann diesem blöden Maurice, daß Sie ein Mädchen wollen? Wenn Sie gerade erst eine verdammte Operation an Ihrem verdammten Ichweißnichtwas gehabt haben?«
»Ich dachte zuerst, es ginge mir schon besser. Ich war etwas unüberlegt. Im Ernst. Es tut mir leid. Wenn Sie einen Augenblick aufstehen wollen, hole ich meine Brieftasche.«
Sie war tödlich beleidigt, aber sie stand von meinen verdammten Knien auf, so daß ich meine Brieftasche von der Kommode holen konnte. Ich zog eine Fünf-Dollar-Note heraus und gab sie ihr.
»Danke sehr«, sagte ich. »Wirklich vielen Dank.«
»Das ist eine Fünfernote. Es kostet zehn.«
Sie wurde allmählich giftig, das konnte man ihr ansehen. Ich hatte befürchtet, daß so etwas passieren könnte.
»Maurice sagte fünf«, sagte ich. »Fünfzehn bis mittags, hat er gesagt, und fünf für einmal.«
»Zehn für einmal.«
»Er hat fünf gesagt. Es tut mir wirklich leid, aber mehr zahle ich nicht.«
Sie zuckte halb die Achseln und sagte dann eisig: »Wollen Sie mir vielleicht mein Kleid geben? Oder macht Ihnen das zuviel Mühe?« Sie war ein unheimliches Ding. Trotz ihrem kleinen dünnen Stimmchen konnte sie einem beinah Angst einjagen.
Wenn sie eine fette alte Nutte mit dick geschminktem Gesicht gewesen wäre, hätte sie nicht halb so unheimlich gewirkt. Ich holte ihr das Kleid. Sie zog es an und nahm dann ihre Jacke vom Bett. »Adieu, du komischer Vogel«, sagte sie.
»Adieu«, antwortete ich. Ich sagte nichts mehr von Dank oder so. Ich bin froh darüber. Als Sunny fort war, blieb ich eine Weile im Sessel sitzen und rauchte ein paar Zigaretten. Draußen wurde es hell. Mir war schön elend, großer Gott. Man kann sich nicht vorstellen, wie deprimiert ich war. Ich fing an, laut mit Allie zu sprechen. Das tue ich manchmal, wenn ich sehr deprimiert bin. Ich sage ihm dann immer, er solle nur heimgehen und sein Fahrrad holen und mich vor Bobby Fallons Haus treffen. Bobby Fallon wohnte damals in Maine nicht weit von uns, und einmal wollten er und ich an den Sedebego-See fahren und dort picknicken. Wir wollten auch unsere Vogelflinten mitnehmen wir waren noch ziemlich klein und dachten, wir könnten mit diesen Flinten etwas erlegen. Als Allie uns davon sprechen hörte, wäre er gern mitgefahren, aber ich wollte ihn nicht dabeihaben. Ich sagte, er sei noch zu klein.
Deshalb sage ich jetzt manchmal zu ihm, wenn ich sehr deprimiert bin: »Also schön, geh heim und hol dein Fahrrad und triff mich vor Bobbys Haus. Beeil dich.« Ich nahm ihn sonst überallhin mit, aber an diesem einen Tag damals wollte ich nicht. Er war nicht gekränkt darüber - er war nie über etwas gekränkt -, aber ich denke doch immer daran, wenn ich sehr deprimiert bin.
Schließlich zog ich mich aus und ging ins Bett. Ich hätte gern gebetet oder ich weiß nicht was, aber ich brachte es nicht fertig.
Ich kann nicht immer beten, wenn ich dazu Lust habe. Erstens einmal bin ich eine Art Atheist. Christus und so habe ich wohl gern, aber aus dem übrigen Zeug in der Bibel mache ich mir nicht viel. Zum Beispiel diese Jünger: die ärgern mich wahnsinnig, wenn ich ehrlich sein soll. Nachdem Christus tot war, benahmen sie sich zwar anständig, aber solange er noch lebte, nützten sie ihm ungefähr ebensoviel wie ein Loch im Kopf. Sie ließen ihn immer nur im Stich. Fast alle Leute in der Bibel sind mir lieber als die Jünger. Falls es jemand genau wissen will: der Kerl, der mir nach Jesus in der Bibel am besten gefällt, ist dieser Verrückte, der in den Gräbern wohnte und sich dauernd an Steinen schnitt; der gefällt mir zehnmal so gut wie die Jünger, dieser arme Hund. In Whooton diskutierte ich oft mit einem namens Arthur Childs, der am andern Gangende wohnte.
Childs war ein Quäker und las fortwährend in der Bibel. Er war sehr nett, ich hatte ihn gern, aber über vieles in der Bibel waren wir ganz verschiedener Ansicht. Hauptsächlich über die Jünger. Er sagte immer, wenn ich nicht für die Jünger sei, dann sei ich auch nicht für Christus und so. Da Christus die Jünger ausgesucht habe, müßten sie einem recht sein. Ich sagte, natürlich habe Christus sie ausgesucht, das wisse ich auch, aber er habe sie nur auf gut Glück ausgesucht. Er habe ja keine Zeit gehabt, jeden genau zu analysieren. Ich sagte, ich machte das Christus nicht zum Vorwurf. Es sei nicht seine Schuld gewesen, daß er so wenig Zeit gehabt habe. Ich erinnere mich, daß ich Childs einmal fragte, ob er denke, daß Judas - der Christus verriet und so weiter - nach seinem Selbstmord in die Hölle gekommen sei. Childs sagte, das meine er allerdings. In diesem Punkt war ich absolut anderer Ansicht. Ich sagte, ich würde tausend Dollar wetten, daß Christus diesen Judas nicht in die Hölle geschickt hätte. Das würde ich heute immer noch wetten, wenn ich tausend Dollar hätte. Jeder von den Jüngern hätte ihn in die Hölle geschickt - und zwar ohne Umschweife -, das glaube ich wohl, aber Christus ganz sicher nicht. Childs sagte, mein Fehler sei eben, daß ich nicht in die Kirche ginge. Damit hatte er in einer Art recht. Ich gehe nie in die Kirche. Meine Eltern gehören verschiedenen Konfessionen an, und alle Kinder in unserer Familie sind Atheisten. Falls jemand die ganze Wahrheit wissen will, so muß ich sagen, daß ich Geistliche nicht leiden kann. In jeder Schule, in der ich war, hatten die Geistlichen immer so eine salbungsvolle Stimme, wenn sie mit ihrer Predigt anfingen. Das finde ich unerträglich. Ich verstehe nicht, warum zum Teufel sie nicht mit ihren natürlichen Stimmen sprechen können. Es klingt so unecht. Jedenfalls konnte ich also kein Wort beten, als ich im Bett lag. Wenn ich anfangen wollte, fiel mir immer diese Sunny ein, wie sie »komischer Vogel« zu mir gesagt hatte. Schließlich setzte ich mich auf und rauchte wieder eine Zigarette. Sie schmeckte abscheulich. Ich hatte wohl gut zwei Päckchen geraucht, seit ich von Pencey fortgegangen war.
Während ich dalag und rauchte, klopfte plötzlich jemand an die Tür. Zuerst hoffte ich noch, daß es nicht an meiner Tür sei, obwohl ich ganz sicher war. Ich weiß nicht warum, aber jedenfalls war ich ganz sicher. Ich wußte auch, wer es war. Ich habe einen sechsten Sinn.
»Wer ist da?« fragte ich. Ich hatte ziemlich Angst. Ich bin in solchen Sachen sehr feig.
Daraufhin klopfte es nur noch lauter.
Schließlich ging ich hin, nur im Pyjama, und machte die Tür auf. Das Licht brauchte ich gar nicht anzudrehen, weil es schon taghell war. Sunny und Maurice standen vor der Tür.
»Was ist los? Was wollen Sie?« fragte ich. Herr im Himmel, meine Stimme zitterte wie toll.
»Weiter nichts«, sagte Maurice. »Nur fünf Dollar.« Er führte das Gespräch für beide. Sunny stand nur mit offenem Mund daneben.
»Ich hab schon bezahlt. Ich hab ihr fünf Dollar gegeben. Fragen Sie sie«, sagte ich. Immer mit dieser zitternden Stimme.
»Es kostet zehn, Chef. Das hab ich Ihnen gesagt. Zehn für einmal, fünfzehn bis mittags, hab ich gesagt.«
»Das haben Sie nicht gesagt. Fünf für einmal haben Sie gesagt. Fünfzehn bis mittags, das stimmt, aber ich habe deutlich gehört -«
»Lassen Sie uns herein, Chef.«
»Warum?« sagte ich. Großer Gott, mein Herz jagte mich fast zum Zimmer hinaus. Wenn ich nur wenigstens angezogen gewesen wäre. Schrecklich, nur so im Pyjama dazustehen, wenn so etwas passiert.
»Los, Chef«, sagte Maurice. Dann gab er mir einen Stoß mit seiner dreckigen Hand. Ich wäre beinah umgefallen - er war ein riesenhafter Mensch. Im nächsten Augenblick waren er und Sunny schon im Zimmer. Sie benahmen sich, als ob sie zu Hause wären. Sunny setzte sich aufs Fensterbrett. Maurice nahm im Sessel Platz und machte seinen Kragen auf - er hatte eine Livree an.
Ich war blödsinnig nervös.
»Los, heraus damit. Ich muß wieder an meine Arbeit.«
»Ich habe Ihnen schon zehnmal gesagt, daß ich Ihnen nichts mehr schuldig bin. Ich habe ihr schon fünf-«
»Dummes Zeug. Her damit.«
»Warum sollte ich ihr noch einmal fünf Dollar geben?« sagte ich. Meine Stimme zitterte immer blödsinniger. »Sie wollen mich betrügen.«
Maurice knöpfte seine Livreejacke auf. Darunter trug er nur einen Hemdkragen, aber kein Hemd oder sonst etwas. Er hatte einen fetten, behaarten Bauch. »Kein Mensch betrügt hier jemand. Heraus damit.«
»Nein.«
Als ich das sagte, stand er auf und kam auf mich zu. Er machte ein Gesicht, als ob er furchtbar müde wäre oder sich furchtbar langweilte. Ich bekam Angst. Ich verschränkte die Arme. Daran erinnere ich mich noch. Es wäre sicher weniger schlimm gewesen, wenn ich nicht nur diesen verdammten Pyjama angehabt hätte.
»Her damit.« Er stellte sich vor mich hin. Das war alles, was ihm einfiel. »Her damit.« Er war ein richtiger Idiot.
»Nein.«
»Dann muß ich wohl mit einer kleinen Tracht Prügel nachhelfen. Ich tu's nicht gern, aber es ist wohl nötig. Sie sind uns fünf Dollar schuldig.«
»Nichts bin ich Ihnen schuldig!« sagte ich. »Wenn Sie mich anrühren, schreie ich, und zwar laut. Ich wecke das ganze Hotel auf. Die Polizei und alle.« Meine Stimme schwankte wahnsinnig.
»Nur los. So laut Sie können. Fein«, sagte Maurice. »Sie wollen wohl, daß Ihre Eltern hören, daß Sie eine Hure bestellt haben? So ein Herrensöhnchen wie Sie?« Auf seine eigene Art war er nicht dumm, das muß man sagen.
»Lassen Sie mich in Ruhe. Wenn Sie zehn Dollar gesagt hätten, wäre es etwas anderes. Aber Sie haben deutlich -«
»Wollen Sie jetzt vielleicht damit herausrücken?« Er hatte mich bis an die Tür gedrängt. Er stand mit seinem widerwärtig behaarten Bauch ganz dicht vor mir.
»Lassen Sie mich in Ruhe. Scheren Sie sich zum Teufel!« sagte ich. Die Arme hatte ich immer noch verschränkt. Großer Gott, ich war ein schöner Schwächling.
Dann mischte sich Sunny zum erstenmal ein. »He, Maurice. Soll ich seine Brieftasche holen?« fragte sie. »Sie liegt dort drüben.«
»Ja, hol sie.«
»Lassen Sie meine Brieftasche liegen!«
»Hab sie schon«, sagte Sunny. Sie schwenkte eine Fünf-Dollar-Note. »Da, sehen Sie? Ich nehme nur die fünf, die Sie mir schuldig sind. Wir sind keine Diebe.«
Plötzlich fing ich an zu heulen. Ich gäbe viel darum, wenn ich nicht geheult hätte, aber ich konnte nichts dagegen tun. »Nein, Sie sind keine Diebe«, sagte ich. »Sie stehlen mir nur fünf-«
»Maul halten«, sagte Maurice und gab mir einen Stoß.
»Laß ihn jetzt, he du«, sagte Sunny. »He, komm jetzt. Wir haben ja das Geld, das er uns schuldig gewesen ist. Komm, wir gehn.«
»Ich komme«, sagte Maurice. Aber er blieb noch vor mir stehen.
»Im Ernst, Maurice, laß ihn jetzt.«
»Es passiert niemand etwas«, sagte er unschuldig. Dann boxte er mich zum drittenmal, ich sage niemand, wohin er mich schlug, aber es tat höllisch weh. Ich sagte, er sei ein verfluchter, gemeiner Idiot. »Was?« fragte er. Dabei hielt er wie ein Schwerhöriger die Hand ans Ohr. »Was? Was bin ich?«
Ich heulte immer noch halb. Ich war so wütend und außer mir und ich weiß nicht was. »Sie sind ein dreckiger Idiot«, sagte ich.
»Ein blöder Betrüger sind Sie, ein gemeiner Idiot, und in zwei Jahren sind Sie einer von den zerlumpten Lümmeln, die auf der Straße betteln. Ihre dreckige Jacke ist dann voll von -«
Daraufhin machte er Ernst. Ich versuchte ihm nicht einmal auszuweichen oder mich zu ducken oder so. Ich spürte nur einen kolossalen Schlag in den Magen. Ich wurde aber nicht ohnmächtig, denn ich erinnere mich, daß ich vom Boden aufschaute und beide hinausgehen sah. Dann blieb ich ziemlich lang auf dem Boden liegen, so wie an dem Abend mit Stradlater.
Nur dachte ich diesmal, ich wäre im Sterben. Tatsächlich. Es war wie ein Ertrinken oder so ähnlich. Ich bekam keine Luft mehr. Als ich schließlich aufstand, mußte ich ganz zusammengekrümmt ins Badezimmer gehen und mir den Magen halten.
Aber ich bin wohl wahnsinnig. Wirklich wahnsinnig. Auf dem Weg ins Badezimmer fing ich an so zu tun, als ob ich eine Kugel im Leib hätte. Maurice hatte mich angeschossen. Jetzt schleppte ich mich ins Badezimmer, um mich mit einem tüchtigen Schluck Whisky oder so zu stärken und erst richtig aktionsfähig zu werden. Ich stellte mir vor, wie ich fertig angezogen und mit meinem Revolver in der Tasche aus dem Badezimmer kommen würde, kaum merklich schwankend.
Dann ginge ich zu Fuß die Treppe hinunter, anstatt den Lift zu nehmen. Ich hielte mich am Geländer, während mir von Zeit zu Zeit etwas Blut aus dem Mundwinkel flösse. Ich ginge ein paar Stockwerke weit hinunter - die Hände auf den Leib gepreßt und Blutspuren hinterlassend -, und dann würde ich am Lift läuten.
Sobald Maurice die Lifttüren zurückschöbe, sähe er mich mit dem Revolver in der Hand dastehen und finge mit einer hohen angsterfüllten Stimme an zu schreien, daß ich ihn verschonen möge. Aber ich schösse trotzdem auf ihn. Sechs Kugeln in seinen fetten behaarten Bauch. Dann würde ich den Revolver in den Liftschacht werfen, nachdem ich alle Fingerabdrücke entfernt hätte. Dann würde ich mich wieder in mein Zimmer schleppen und Jane anrufen. Sie müßte kommen und meine Wunde verbinden. Ich stellte mir vor, wie sie eine Zigarette für mich halten würde, damit ich rauchen könnte, während mein Blut verströmte.
Die verdammten Filme. Sie können einen wirklich ruinieren.
Ganz im Ernst.
Ich blieb ungefähr eine Stunde im Badezimmer und nahm ein Bad. Dann legte ich mich ins Bett. Es dauerte ziemlich lange, bis ich einschlief - ich war nicht einmal müde -, aber endlich gelang es mir doch. Im Grund hätte ich am liebsten Selbstmord begangen. Ich wäre gern aus dem Fenster gesprungen.
Wahrscheinlich hätte ich das auch getan, wenn ich sicher gewesen wäre, daß mich jemand zudecken würde, sobald ich unten ankäme. Ich wollte mich nur nicht von lauter Gaffern anglotzen lassen, wenn ich zerschmettert am Boden läge.