17. Kapitel
Als ich vom Eisplatz wegging, hatte ich Hunger.
Ich setzte mich also in ein Restaurant und aß ein Käsesandwich mit
einem Glas Malzmilch, und dann ging ich in eine Telefonkabine. Ich
wollte Jane anrufen und feststellen, ob sie schon in die Ferien
gekommen war. Ich war ja den ganzen Abend frei, und ich dachte,
falls sie schon zu Hause wäre, könnte ich irgendwohin mit ihr
tanzen gehen. Ich hatte noch nie mit ihr getanzt. Aber ich hatte
sie einmal tanzen gesehen. Sie schien sehr gut zu tanzen.
Das war an dem Klubball, der immer am 4. Juli stattfindet. Ich kannte sie damals noch nicht näher und hielt es nicht für passend, sie ihrem Kavalier wegzuschnappen. Sie war mit diesem schrecklichen Al Pike aus, der in Choate war. Ihn kannte ich auch nicht näher, aber er lungerte immer am Schwimmbassin herum. Er hatte weiße Lastex-Badehosen und sprang immer vom hohen Sprungbrett herunter. Den ganzen Tag machte er den gleichen blöden Überschlag. Das war der einzige Sprung, den er konnte, aber er hielt sich für eine große Kanone.
Lauter Muskeln und kein Hirn. Dieser Al Pike begleitete Jane also an dem Abend. Ich konnte das nicht verstehen. Wirklich nicht. Als wir uns später besser kannten, fragte ich sie, wie sie mit einem solchen Angeber ausgehen könne. Jane sagte, er sei kein Angeber. Sie behauptete, er habe einen Minderwertigkeitskomplex.
Sie äußerte sich so, als ob er ihr leid täte, und das war nicht geheuchelt, sondern ganz ehrlich gemeint. Mädchen sind komisch. Jedesmal, wenn man von irgendeinem Esel redet, der offensichtlich gemein oder furchtbar eingebildet oder ich weiß nicht was ist, antwortet das Mädchen, zu der man das sagt, er habe einen Minderwertigkeitskomplex. Vielleicht hat er tatsächlich einen, aber meiner Ansicht nach kann er deshalb doch ein gemeiner Hund sein. Man weiß nie, wie die Mädchen urteilen. Einmal verschaffte ich einem Freund ein Rendezvous mit dem Mädchen, das im gleichen Zimmer mit Roberta Walsh wohnte. Er hieß Bob Robinson und hatte wirklich einen Minderwertigkeitskomplex. Man merkte deutlich, daß er sich schämte, weil seine Eltern ungebildet waren und mir und mich verwechselten und so und nicht viel Geld hatten. Er war aber durchaus kein gemeiner Esel oder etwas in der Art. Er war sogar sehr nett. Aber dieses Mädchen fand ihn unsympathisch. Sie sagte zu Roberta, er sei eingebildet. Und der Grund war nur, daß er ihr zufällig erzählt hatte, er leite die Schülerdebatten. Eine solche Kleinigkeit, und schon hielt sie ihn für eingebildet! Wenn die Mädchen jemand gern haben, ganz gleich, was für ein Mensch es ist, sagen sie eben, er habe einen Minderwertigkeitskomplex, und wenn sie ihn nicht gern haben, ganz gleich wie nett er ist oder wie groß sein Minderwertigkeitskomplex ist, dann behaupten sie, er sei eingebildet. Sogar die hellsten Mädchen sind so.
Ich läutete also wieder bei Jane an, aber da niemand antwortete, mußte ich wieder einhängen. Dann blätterte ich in meinem Notizbuch, um jemand zu finden, der für den Abend frei wäre. Dumm war nur, daß höchstens drei Adressen darin standen. Nämlich Jane, zweitens Mr. Antolini, den ich in Elkton Hills als Lehrer gehabt hatte, und drittens die Büronummer von meinem Vater. Ich vergesse immer, mir die Namen aufzuschreiben. Deshalb rief ich schließlich Carl Luce an. Er hatte in Whooton das Abschlußexamen gemacht, nachdem ich dort ausgetreten war. Er war ungefähr drei Jahre älter als ich und nicht besonders sympathisch, aber er war schon damals ein richtiger Intellektueller - er schnitt in Whooton mit den besten Noten von allen ab, und ich dachte, vielleicht könnten wir irgendwo zu Abend essen und eine Art intellektuelle Konversation machen. Manchmal war er sehr anregend. Jetzt ging er auf die Columbia-Universität, aber er wohnte in der Fünfundsechzigsten Straße, und ich wußte, daß er zu Hause war.
Als ich ihn am Telefon erwischte, sagte er, essen könne er nicht mit mir, aber er wolle mich um zehn Uhr in der Wicker Bar treffen. Er war ziemlich erstaunt, daß ich mich bei ihm meldete, glaube ich. Ich hatte ihn einmal einen dickarschigen Heuchler genannt.
Bis zehn Uhr blieb mir noch viel Zeit totzuschlagen. Deshalb ging ich ins Kino. Wahrscheinlich hätte ich kaum etwas Dümmeres tun können, aber Radio City war gerade in der Nähe, und ich hatte keinen anderen Einfall.
Ich kam hinein, als die verdammte Bühnennummer in Gang war. Die Rockettes tanzten wie besessen, alle in einer Reihe, jede mit den Armen um die Taille ihrer beiden Nachbarinnen.
Die Zuschauer applaudierten begeistert, und ein Mann hinter mir sagte fortwährend zu seiner Frau: »Weißt du, was das ist? Das ist Präzision.« Zum Platzen. Nach den Rockettes kam ein Rollschuhläufer und sauste unter kleinen Tischen herum, und dabei gab er Witze zum besten. Er lief sehr gut Rollschuh, aber der Gedanke störte mich, daß er besonders üben mußte, um auf der Bühne Rollschuh zu laufen. Das fand ich so unsinnig.
Vermutlich war ich nur nicht in der richtigen Stimmung.
Danach fing die Weihnachtsnummer an, die in diesem Kino jedes Jahr gegeben wird. Von überallher erscheinen Engel, Kruzifixe werden herumgetragen, und alle Darsteller singen wie toll: »Auf, gläubige Seelen!« Das soll höllisch religiös sein, ich weiß, und außerdem noch schön, aber ich kann bei Gott nichts Religiöses oder Schönes daran finden. Ich sehe nur einen Haufen Schauspieler, die Kruzifixe über die Bühne schleppen.
Als sie endlich fertig waren und wieder in den Kulissen verschwanden, hatte man den Eindruck, daß sie kaum abwarten konnten, bis sie eine Zigarette rauchen durften oder was weiß ich. Ich hatte die Nummer im letzten Jahr mit Sally Hayes gesehen, und sie schwärmte davon, wie schön es sei, die Kostüme und alles. Ich sagte, der gute Jesus würde wohl das Kotzen kriegen, wenn Er das sehen könnte, diese Phantasiekostüme und das ganze Zeug.
Sally sagte, ich sei ein gottlästernder Atheist. Vermutlich bin ich das. Was Christus wirklich gefallen hätte, wäre der Paukenschläger im Orchester gewesen. Ich hatte ihm schon zugesehen, als ich erst acht Jahre alt war. Mein Bruder Allie und ich pflegten von unseren Plätzen aufzustehen und nach vorn zu laufen, wo wir ihn gut sehen konnten. Er ist der beste Paukenschläger, den ich je erlebt habe. Er kommt im ganzen Stück nur wenige Male dran, aber er sieht nie gelangweilt aus, wenn er nichts zu tun hat. Wenn er dann aber schlagen muß, macht er das so nett und liebevoll, mit einem ängstlichen Gesicht. Als wir einmal mit meinem Vater nach Washington fuhren, schickte ihm Allie eine Postkarte, aber sicher hat er sie nie bekommen. Wir wußten nicht recht, was wir als Adresse schreiben sollten.
Nach der Weihnachtsnummer fing endlich dieser verdammte Film an. Er war so ekelhaft, daß man kaum die Augen davon abwenden konnte. Ein junger Engländer, Alec Soundso, kommt aus dem Krieg und verliert im Spital das Gedächtnis. Nach seiner Entlassung hinkt er an seinem Stock durch ganz London und weiß nicht, wer zum Teufel er ist. In Wirklichkeit ist er ein Herzog, aber er weiß es nicht. Dann trifft er im Omnibus ein nettes, häusliches, aufrichtiges Mädchen. Der Hut fliegt ihr davon, er langt ihn auf, und dann klettern sie in den oberen Stock hinauf und vertiefen sich in ein Gespräch über Charles Dickens. Beide haben eine besondere Vorliebe für Dickens.
Alec hat das Buch Oliver Twist bei sich, und das Mädchen ebenfalls. Ich hätte kotzen können. Beide verlieben sich sofort ineinander, weil sie dermaßen in Dickens vernarrt sind, und Alec hilft dem Mädchen in ihrem Verlag. Das Mädchen ist nämlich Verlegerin. Nur macht sie keine glänzenden Geschäfte, weil ihr Bruder die gesamten Einnahmen vertrinkt. Dieser Bruder ist verbittert, weil er im Krieg Chirurg war und jetzt nicht mehr operieren kann, weil seine Nerven kaputt sind.
Deshalb trinkt er die ganze Zeit, aber er ist wenigstens recht geistreich. Dann schreibt Alec ein Buch, und das Mädchen veröffentlicht es in ihrem Verlag, und beide verdienen einen Haufen Geld. Sie wollen gerade heiraten, als Marcia auftaucht.
Marcia war mit Alec verlobt, bevor er das Gedächtnis verlor, und sie erkennt ihn, als er in einer Buchhandlung seine Bücher signiert. Sie teilt Alec mit, daß er ein Herzog ist, aber er glaubt ihr nicht und weigert sich, mit ihr seine alte Mutter zu besuchen.
Seine Mutter ist blind wie eine Fledermaus. Aber das andere, häusliche Mädchen bewegt ihn zu guter Letzt dazu. Sie ist äußerst edel. Er geht also dorthin, aber sein Gedächtnis rührt sich auch dann noch nicht, als seine dänische Dogge an ihm heraufspringt und die Mutter sein ganzes Gesicht befingert und ihm den Teddybär bringt, mit dem er als Kind gespielt hatte.
Eines Tages aber spielen ein paar Kinder Kricket auf einer Wiese und treffen ihn mit dem Kricketball am Kopf. In diesem Augenblick erinnert er sich wieder an alles und läuft nach Hause und küßt seine Mutter auf die Stirn und so weiter. Von da an ist er wieder ein regelrechter Herzog und vergißt das häusliche Mädchen mit dem Verlag. Ich würde gern weitererzählen, wenn ich mich dann nicht höchstwahrscheinlich übergeben müßte. Ich würde die Geschichte nicht so erzählen, daß ich sie jemandem verderbe. Man kann nichts daran verderben, Herr im Himmel.
Kurzum, am Schluß heiraten Alec und das häusliche Mädchen, und der Alkoholikerbruder wird wieder gesund und operiert Alecs Mutter, so daß sie wieder sehen kann, und dann kriegen sich der betrunkene Bruder und die gute Marcia. Zuletzt sitzen alle an einer langen Tafel und bersten vor Lachen, weil die dänische Dogge mit einem Haufen Junge hereinkommt.
Offenbar hatte jedermann diese Dogge für ein Männchen gehalten oder sonst einen verdammten Blödsinn gedacht. Ich kann nur jeden vor diesem Film warnen, der sich nicht danach sehnt, sich von oben bis unten zu bekotzen.
Was mich vollends erledigte, war eine Dame neben mir, die vom Anfang bis zum Schluß Tränen vergoß. Je unechter es zuging, um so mehr heulte sie. Man hätte meinen können, daß sie furchtbar gutherzig sei, aber das war sie durchaus nicht.
Neben ihr saß ein kleiner Junge, der sich tödlich langweilte und auf die Toilette mußte, aber sie wollte nicht mit ihm hinausgehen. Sie sagte immer nur, er solle sich still halten und sich anständig benehmen. Sie war ungefähr so gutherzig wie ein Wolf.
Von den Leuten, die sich über verlogenes Kinozeug ihre verdammten Augen aus dem Kopf heulen, sind neunzig Prozent im Grund herzlose Klötze. Ganz im Ernst.
Nach dem Film machte ich mich auf den Weg zur Wicker Bar, wo ich Carl Luce treffen sollte, und im Gehen dachte ich über den Krieg nach. Die Kriegsfilme haben immer diese Wirkung auf mich. Ich könnte es wohl nicht aushalten, wenn ich in den Krieg müßte. Wenn man nur eingezogen und erschossen würde, fände ich es nicht so schlimm, aber daß man so eine verdammte Ewigkeit beim Militär sein muß!
Mein Bruder D.B. war vier verdammte Jahre lang im Militärdienst. Er war auch im Krieg und machte die ganze Invasion und so weiter mit, aber das Militär fand er viel schlimmer als den Krieg, glaube ich. Ich war damals eigentlich noch ein Kind, aber ich erinnere mich gut daran, wie er manchmal auf Urlaub kam und dann sozusagen den ganzen Tag auf seinem Bett lag. Sogar im Wohnzimmer zeigte er sich fast nie. Als er später nach Europa und an die Front kam, wurde er nicht verwundet und brauchte auch auf niemand zu schießen, sondern er mußte nur den ganzen Tag irgendeinen General herumfahren. Einmal sagte er zu Allie und mir, wenn er auf jemand hätte schießen sollen, so hätte er nicht gewußt, in welcher Richtung er anlegen müßte, denn in der Armee gebe es praktisch ebenso viele Schurken wie bei den Nazis. Allie fragte ihn, ob es nicht wertvoll für ihn gewesen sei, den Krieg mitzumachen, weil er doch Schriftsteller sei und da sicher viel Stoff gefunden habe. Er sagte, Allie solle seinen Handschuh holen, und dann fragte er ihn, wer bessere Kriegsgedichte gemacht habe, Rupert Brooke oder Emily Dickinson. Allie antwortete: Emily Dickinson. Ich selber verstehe nicht viel davon, weil ich selten Gedichte lese, aber ich weiß ganz sicher, daß ich wahnsinnig würde, wenn ich im Militär die ganze Zeit mit Leuten wie Ackley und Stradlater und Maurice Zusammensein und mit ihnen marschieren müßte und so. Einmal war ich ungefähr eine Woche lang bei den Pfadfindern, und es war mir schon zuviel, daß ich den Nacken von meinem Vordermann anschauen sollte. Es hieß immer, man müsse auf den Nacken des Vordermannes schauen. Ich schwöre, wenn es noch einmal Krieg gibt, dann stellen sie mich am besten sofort an die Wand; ich hätte nichts dagegen. Aber etwas verstehe ich nicht an D.B. Der Krieg war ihm so verhaßt, und trotzdem gab er mir im letzten Sommer Hemingways In einem andern Land zu lesen, weil er es fabelhaft fand. Der Held war ein Leutnant Henry, der angeblich sehr sympathisch sein sollte.
Ich begreife nicht, wie D.B. das Militär und den Krieg hassen kann und dann noch so ein verlogenes Buch schön findet. Ich meine, ich verstehe zum Beispiel nicht, daß er ein so verlogenes Buch gern hat und dann aber auch das von Ring Lardner oder The Great Gatsby.
D.B. ärgerte sich, als ich das sagte, und er behauptete, ich sei eben zu jung für das Buch, aber das glaube ich nicht. Ich antwortete, Ring Lardner und The Great Gatsby gefalle mir ja sehr gut. Das stimmt auch. Von The Great Gatsby war ich ganz besessen. Dieser Gatsby. Davon war ich erschlagen. Jedenfalls bin ich nur froh, daß sie jetzt die Atombombe erfunden haben.
Wenn es wieder Krieg gibt, setze ich mich gleich oben auf die Bombe. Ich melde mich als Freiwilliger dafür, das schwöre ich.
Das war an dem Klubball, der immer am 4. Juli stattfindet. Ich kannte sie damals noch nicht näher und hielt es nicht für passend, sie ihrem Kavalier wegzuschnappen. Sie war mit diesem schrecklichen Al Pike aus, der in Choate war. Ihn kannte ich auch nicht näher, aber er lungerte immer am Schwimmbassin herum. Er hatte weiße Lastex-Badehosen und sprang immer vom hohen Sprungbrett herunter. Den ganzen Tag machte er den gleichen blöden Überschlag. Das war der einzige Sprung, den er konnte, aber er hielt sich für eine große Kanone.
Lauter Muskeln und kein Hirn. Dieser Al Pike begleitete Jane also an dem Abend. Ich konnte das nicht verstehen. Wirklich nicht. Als wir uns später besser kannten, fragte ich sie, wie sie mit einem solchen Angeber ausgehen könne. Jane sagte, er sei kein Angeber. Sie behauptete, er habe einen Minderwertigkeitskomplex.
Sie äußerte sich so, als ob er ihr leid täte, und das war nicht geheuchelt, sondern ganz ehrlich gemeint. Mädchen sind komisch. Jedesmal, wenn man von irgendeinem Esel redet, der offensichtlich gemein oder furchtbar eingebildet oder ich weiß nicht was ist, antwortet das Mädchen, zu der man das sagt, er habe einen Minderwertigkeitskomplex. Vielleicht hat er tatsächlich einen, aber meiner Ansicht nach kann er deshalb doch ein gemeiner Hund sein. Man weiß nie, wie die Mädchen urteilen. Einmal verschaffte ich einem Freund ein Rendezvous mit dem Mädchen, das im gleichen Zimmer mit Roberta Walsh wohnte. Er hieß Bob Robinson und hatte wirklich einen Minderwertigkeitskomplex. Man merkte deutlich, daß er sich schämte, weil seine Eltern ungebildet waren und mir und mich verwechselten und so und nicht viel Geld hatten. Er war aber durchaus kein gemeiner Esel oder etwas in der Art. Er war sogar sehr nett. Aber dieses Mädchen fand ihn unsympathisch. Sie sagte zu Roberta, er sei eingebildet. Und der Grund war nur, daß er ihr zufällig erzählt hatte, er leite die Schülerdebatten. Eine solche Kleinigkeit, und schon hielt sie ihn für eingebildet! Wenn die Mädchen jemand gern haben, ganz gleich, was für ein Mensch es ist, sagen sie eben, er habe einen Minderwertigkeitskomplex, und wenn sie ihn nicht gern haben, ganz gleich wie nett er ist oder wie groß sein Minderwertigkeitskomplex ist, dann behaupten sie, er sei eingebildet. Sogar die hellsten Mädchen sind so.
Ich läutete also wieder bei Jane an, aber da niemand antwortete, mußte ich wieder einhängen. Dann blätterte ich in meinem Notizbuch, um jemand zu finden, der für den Abend frei wäre. Dumm war nur, daß höchstens drei Adressen darin standen. Nämlich Jane, zweitens Mr. Antolini, den ich in Elkton Hills als Lehrer gehabt hatte, und drittens die Büronummer von meinem Vater. Ich vergesse immer, mir die Namen aufzuschreiben. Deshalb rief ich schließlich Carl Luce an. Er hatte in Whooton das Abschlußexamen gemacht, nachdem ich dort ausgetreten war. Er war ungefähr drei Jahre älter als ich und nicht besonders sympathisch, aber er war schon damals ein richtiger Intellektueller - er schnitt in Whooton mit den besten Noten von allen ab, und ich dachte, vielleicht könnten wir irgendwo zu Abend essen und eine Art intellektuelle Konversation machen. Manchmal war er sehr anregend. Jetzt ging er auf die Columbia-Universität, aber er wohnte in der Fünfundsechzigsten Straße, und ich wußte, daß er zu Hause war.
Als ich ihn am Telefon erwischte, sagte er, essen könne er nicht mit mir, aber er wolle mich um zehn Uhr in der Wicker Bar treffen. Er war ziemlich erstaunt, daß ich mich bei ihm meldete, glaube ich. Ich hatte ihn einmal einen dickarschigen Heuchler genannt.
Bis zehn Uhr blieb mir noch viel Zeit totzuschlagen. Deshalb ging ich ins Kino. Wahrscheinlich hätte ich kaum etwas Dümmeres tun können, aber Radio City war gerade in der Nähe, und ich hatte keinen anderen Einfall.
Ich kam hinein, als die verdammte Bühnennummer in Gang war. Die Rockettes tanzten wie besessen, alle in einer Reihe, jede mit den Armen um die Taille ihrer beiden Nachbarinnen.
Die Zuschauer applaudierten begeistert, und ein Mann hinter mir sagte fortwährend zu seiner Frau: »Weißt du, was das ist? Das ist Präzision.« Zum Platzen. Nach den Rockettes kam ein Rollschuhläufer und sauste unter kleinen Tischen herum, und dabei gab er Witze zum besten. Er lief sehr gut Rollschuh, aber der Gedanke störte mich, daß er besonders üben mußte, um auf der Bühne Rollschuh zu laufen. Das fand ich so unsinnig.
Vermutlich war ich nur nicht in der richtigen Stimmung.
Danach fing die Weihnachtsnummer an, die in diesem Kino jedes Jahr gegeben wird. Von überallher erscheinen Engel, Kruzifixe werden herumgetragen, und alle Darsteller singen wie toll: »Auf, gläubige Seelen!« Das soll höllisch religiös sein, ich weiß, und außerdem noch schön, aber ich kann bei Gott nichts Religiöses oder Schönes daran finden. Ich sehe nur einen Haufen Schauspieler, die Kruzifixe über die Bühne schleppen.
Als sie endlich fertig waren und wieder in den Kulissen verschwanden, hatte man den Eindruck, daß sie kaum abwarten konnten, bis sie eine Zigarette rauchen durften oder was weiß ich. Ich hatte die Nummer im letzten Jahr mit Sally Hayes gesehen, und sie schwärmte davon, wie schön es sei, die Kostüme und alles. Ich sagte, der gute Jesus würde wohl das Kotzen kriegen, wenn Er das sehen könnte, diese Phantasiekostüme und das ganze Zeug.
Sally sagte, ich sei ein gottlästernder Atheist. Vermutlich bin ich das. Was Christus wirklich gefallen hätte, wäre der Paukenschläger im Orchester gewesen. Ich hatte ihm schon zugesehen, als ich erst acht Jahre alt war. Mein Bruder Allie und ich pflegten von unseren Plätzen aufzustehen und nach vorn zu laufen, wo wir ihn gut sehen konnten. Er ist der beste Paukenschläger, den ich je erlebt habe. Er kommt im ganzen Stück nur wenige Male dran, aber er sieht nie gelangweilt aus, wenn er nichts zu tun hat. Wenn er dann aber schlagen muß, macht er das so nett und liebevoll, mit einem ängstlichen Gesicht. Als wir einmal mit meinem Vater nach Washington fuhren, schickte ihm Allie eine Postkarte, aber sicher hat er sie nie bekommen. Wir wußten nicht recht, was wir als Adresse schreiben sollten.
Nach der Weihnachtsnummer fing endlich dieser verdammte Film an. Er war so ekelhaft, daß man kaum die Augen davon abwenden konnte. Ein junger Engländer, Alec Soundso, kommt aus dem Krieg und verliert im Spital das Gedächtnis. Nach seiner Entlassung hinkt er an seinem Stock durch ganz London und weiß nicht, wer zum Teufel er ist. In Wirklichkeit ist er ein Herzog, aber er weiß es nicht. Dann trifft er im Omnibus ein nettes, häusliches, aufrichtiges Mädchen. Der Hut fliegt ihr davon, er langt ihn auf, und dann klettern sie in den oberen Stock hinauf und vertiefen sich in ein Gespräch über Charles Dickens. Beide haben eine besondere Vorliebe für Dickens.
Alec hat das Buch Oliver Twist bei sich, und das Mädchen ebenfalls. Ich hätte kotzen können. Beide verlieben sich sofort ineinander, weil sie dermaßen in Dickens vernarrt sind, und Alec hilft dem Mädchen in ihrem Verlag. Das Mädchen ist nämlich Verlegerin. Nur macht sie keine glänzenden Geschäfte, weil ihr Bruder die gesamten Einnahmen vertrinkt. Dieser Bruder ist verbittert, weil er im Krieg Chirurg war und jetzt nicht mehr operieren kann, weil seine Nerven kaputt sind.
Deshalb trinkt er die ganze Zeit, aber er ist wenigstens recht geistreich. Dann schreibt Alec ein Buch, und das Mädchen veröffentlicht es in ihrem Verlag, und beide verdienen einen Haufen Geld. Sie wollen gerade heiraten, als Marcia auftaucht.
Marcia war mit Alec verlobt, bevor er das Gedächtnis verlor, und sie erkennt ihn, als er in einer Buchhandlung seine Bücher signiert. Sie teilt Alec mit, daß er ein Herzog ist, aber er glaubt ihr nicht und weigert sich, mit ihr seine alte Mutter zu besuchen.
Seine Mutter ist blind wie eine Fledermaus. Aber das andere, häusliche Mädchen bewegt ihn zu guter Letzt dazu. Sie ist äußerst edel. Er geht also dorthin, aber sein Gedächtnis rührt sich auch dann noch nicht, als seine dänische Dogge an ihm heraufspringt und die Mutter sein ganzes Gesicht befingert und ihm den Teddybär bringt, mit dem er als Kind gespielt hatte.
Eines Tages aber spielen ein paar Kinder Kricket auf einer Wiese und treffen ihn mit dem Kricketball am Kopf. In diesem Augenblick erinnert er sich wieder an alles und läuft nach Hause und küßt seine Mutter auf die Stirn und so weiter. Von da an ist er wieder ein regelrechter Herzog und vergißt das häusliche Mädchen mit dem Verlag. Ich würde gern weitererzählen, wenn ich mich dann nicht höchstwahrscheinlich übergeben müßte. Ich würde die Geschichte nicht so erzählen, daß ich sie jemandem verderbe. Man kann nichts daran verderben, Herr im Himmel.
Kurzum, am Schluß heiraten Alec und das häusliche Mädchen, und der Alkoholikerbruder wird wieder gesund und operiert Alecs Mutter, so daß sie wieder sehen kann, und dann kriegen sich der betrunkene Bruder und die gute Marcia. Zuletzt sitzen alle an einer langen Tafel und bersten vor Lachen, weil die dänische Dogge mit einem Haufen Junge hereinkommt.
Offenbar hatte jedermann diese Dogge für ein Männchen gehalten oder sonst einen verdammten Blödsinn gedacht. Ich kann nur jeden vor diesem Film warnen, der sich nicht danach sehnt, sich von oben bis unten zu bekotzen.
Was mich vollends erledigte, war eine Dame neben mir, die vom Anfang bis zum Schluß Tränen vergoß. Je unechter es zuging, um so mehr heulte sie. Man hätte meinen können, daß sie furchtbar gutherzig sei, aber das war sie durchaus nicht.
Neben ihr saß ein kleiner Junge, der sich tödlich langweilte und auf die Toilette mußte, aber sie wollte nicht mit ihm hinausgehen. Sie sagte immer nur, er solle sich still halten und sich anständig benehmen. Sie war ungefähr so gutherzig wie ein Wolf.
Von den Leuten, die sich über verlogenes Kinozeug ihre verdammten Augen aus dem Kopf heulen, sind neunzig Prozent im Grund herzlose Klötze. Ganz im Ernst.
Nach dem Film machte ich mich auf den Weg zur Wicker Bar, wo ich Carl Luce treffen sollte, und im Gehen dachte ich über den Krieg nach. Die Kriegsfilme haben immer diese Wirkung auf mich. Ich könnte es wohl nicht aushalten, wenn ich in den Krieg müßte. Wenn man nur eingezogen und erschossen würde, fände ich es nicht so schlimm, aber daß man so eine verdammte Ewigkeit beim Militär sein muß!
Mein Bruder D.B. war vier verdammte Jahre lang im Militärdienst. Er war auch im Krieg und machte die ganze Invasion und so weiter mit, aber das Militär fand er viel schlimmer als den Krieg, glaube ich. Ich war damals eigentlich noch ein Kind, aber ich erinnere mich gut daran, wie er manchmal auf Urlaub kam und dann sozusagen den ganzen Tag auf seinem Bett lag. Sogar im Wohnzimmer zeigte er sich fast nie. Als er später nach Europa und an die Front kam, wurde er nicht verwundet und brauchte auch auf niemand zu schießen, sondern er mußte nur den ganzen Tag irgendeinen General herumfahren. Einmal sagte er zu Allie und mir, wenn er auf jemand hätte schießen sollen, so hätte er nicht gewußt, in welcher Richtung er anlegen müßte, denn in der Armee gebe es praktisch ebenso viele Schurken wie bei den Nazis. Allie fragte ihn, ob es nicht wertvoll für ihn gewesen sei, den Krieg mitzumachen, weil er doch Schriftsteller sei und da sicher viel Stoff gefunden habe. Er sagte, Allie solle seinen Handschuh holen, und dann fragte er ihn, wer bessere Kriegsgedichte gemacht habe, Rupert Brooke oder Emily Dickinson. Allie antwortete: Emily Dickinson. Ich selber verstehe nicht viel davon, weil ich selten Gedichte lese, aber ich weiß ganz sicher, daß ich wahnsinnig würde, wenn ich im Militär die ganze Zeit mit Leuten wie Ackley und Stradlater und Maurice Zusammensein und mit ihnen marschieren müßte und so. Einmal war ich ungefähr eine Woche lang bei den Pfadfindern, und es war mir schon zuviel, daß ich den Nacken von meinem Vordermann anschauen sollte. Es hieß immer, man müsse auf den Nacken des Vordermannes schauen. Ich schwöre, wenn es noch einmal Krieg gibt, dann stellen sie mich am besten sofort an die Wand; ich hätte nichts dagegen. Aber etwas verstehe ich nicht an D.B. Der Krieg war ihm so verhaßt, und trotzdem gab er mir im letzten Sommer Hemingways In einem andern Land zu lesen, weil er es fabelhaft fand. Der Held war ein Leutnant Henry, der angeblich sehr sympathisch sein sollte.
Ich begreife nicht, wie D.B. das Militär und den Krieg hassen kann und dann noch so ein verlogenes Buch schön findet. Ich meine, ich verstehe zum Beispiel nicht, daß er ein so verlogenes Buch gern hat und dann aber auch das von Ring Lardner oder The Great Gatsby.
D.B. ärgerte sich, als ich das sagte, und er behauptete, ich sei eben zu jung für das Buch, aber das glaube ich nicht. Ich antwortete, Ring Lardner und The Great Gatsby gefalle mir ja sehr gut. Das stimmt auch. Von The Great Gatsby war ich ganz besessen. Dieser Gatsby. Davon war ich erschlagen. Jedenfalls bin ich nur froh, daß sie jetzt die Atombombe erfunden haben.
Wenn es wieder Krieg gibt, setze ich mich gleich oben auf die Bombe. Ich melde mich als Freiwilliger dafür, das schwöre ich.