21. Kapitel
Als ich zurückkam, hatte sie zwar das Kissen
nicht mehr auf dem Gesicht - ich hatte das gewußt -, aber sie
wollte mich immer noch nicht anschauen, obwohl sie jetzt auf dem
Rücken lag. So bald ich mich wieder auf den Bettrand setzte, drehte
sie ihr verrücktes Gesicht auf die andere Seite. Sie strafte mich
mit Schweigen. Genau wie die Fechtmannschaft in Pencey, nachdem ich
die blöden Floretts in der Untergrundbahn vergessen hatte.
»Was macht die gute Hazel Weatherfield?« fragte ich. »Hast du etwas Neues über sie geschrieben? Die Geschichte, die du ihm geschickt hast, ist in meinem Koffer auf dem Bahnhof. Sie ist ausgezeichnet.«
»Dad bringt dich um.« Wenn sie etwas im Kopf hat, dann hat sie es aber wirklich im Kopf.
»Nein, ganz sicher nicht. Schlimmstenfalls tobt er und schickt mich auf die verdammte Militärschule. Mehr nicht. Und außerdem bin ich ja nicht da. Ich bin weg. Wahrscheinlich in Colorado auf dieser Farm.«
»Daß ich nicht lache. Du kannst ja nicht einmal reiten.«
»Wer kann hier nicht reiten? Natürlich kann ich. Selbstverständlich. Das lernt man in zwei Minuten«, sagte ich.
»Laß das Zeug in Ruh.« Sie machte an ihrem Pflaster herum.
»Wer hat dir die Haare geschnitten?« fragte ich. Es war mir gerade aufgefallen, daß sie einen blöden Haarschnitt hatte. Viel zu kurz.
»Geht dich nichts an«, sagte sie. Manchmal kann sie sehr schnippisch sein. Wirklich richtig schnippisch. »Wahrscheinlich bist du wieder in jedem Fach durchgefallen«, sagte sie höchst schnippisch. Irgendwie klang es auch komisch. Manchmal redet sie genau in dem verdammten Lehrerton und ist doch noch ein kleines Kind.
»Nein, durchaus nicht«, sagte ich. »Im Englisch war ich gut.«
Dann zwickte ich sie aus reinem Blödsinn in ihr kleines Hinterteil. Sie lag auf der Seite, daß es auffallend herausstand.
Eigentlich hat sie überhaupt keines. Ich zwickte sie nicht fest, aber sie versuchte meine Hand wegzuschlagen. Nur traf sie daneben.
Plötzlich sagte sie: »Oh, warum hast du das getan?« Sie meinte damit, daß ich wieder geflogen war.
Ihr Ton machte mich irgendwie traurig.
»Ach Gott, Phoebe, frag noch nicht danach. Ich hab es satt, daß alle mich das fragen«, sagte ich. »Aus tausend Gründen. Pencey ist fast die schlimmste Schule, in der ich gewesen bin. Lauter verlogene Affen. Und gemeine Esel. So viele gemeine Esel auf einem Haufen sieht man in seinem ganzen Leben nicht mehr. Wenn sie zum Beispiel einen Budenzauber in irgendeinem Zimmer hatten und einer dabeisein wollte, hat ihn niemand hereingelassen, wenn es irgendein doofer Kerl mit Pickeln oder so war. Immer haben alle die Tür zugeschlossen, wenn einer hereinwollte. Und dann haben sie diese verdammte Geheimbrüderschaft, und ich war zu feig, um nicht beizutreten. Einer, Robert Ackley, ein furchtbar Langweiliger mit Pickeln, wollte auch mitmachen und versuchte immer beizutreten, aber ihn nahmen sie nicht auf. Einfach nur, weil er so langweilig war und Pickel hatte. Ich mag überhaupt nicht davon reden. So eine elende Dreckschule. Das kannst du mir glauben.«
Phoebe sagte nichts, aber sie hörte zu. Ich konnte ihrem Hals von hinten ansehen, daß sie zuhörte.
Sie hörte immer zu, wenn man ihr etwas erzählte. Und das Komische ist, daß sie ganz genau weiß, von was man redet.
Wirklich.
Ich redete weiter von Pencey. Ich war gerade in der Stimmung dazu.
»Sogar die paar netten Lehrer waren Heuchler«, sagte ich.
»Zum Beispiel dieser alte Mr. Spencer. Seine Frau hat uns immer heiße Schokolade gemacht und solches Zeug, und beide waren wirklich sehr nett. Aber du hättest ihn sehen sollen, wenn der Rektor, dieser Thurmer, in die Geschichtsstunde kam und sich hinten an die Wand setzte. Er kam immer und blieb ungefähr eine halbe Stunde dort sitzen. Das sollte wohl inkognito sein oder was. Dann fing er an, den alten Spencer zu unterbrechen und blöde Witze zu machen. Und dieser Spencer brachte sich fast um mit Kichern und Lächeln und allem, als ob Thurmer ein verdammter Fürst oder was weiß ich wäre.«
»Fluch nicht soviel.«
»Dir wäre es davon schlecht geworden, das schwör ich«, sagte ich. »Und dann die Veteranenfeier! An dem Tag kommen alle, die im Jahr 1776 oder wann das Examen gemacht haben, und laufen mit ihren Frauen und Kindern und allen überall herum. Einen, ungefähr fünfzig Jahre alt, hättest du sehen sollen. Der hat bei uns an die Tür geklopft und ist ins Zimmer gekommen und hat gefragt, ob wir etwas dagegen hätten, daß er in die Toilette ginge. Die Toilette ist hinten im Gang - ich weiß wahrhaftig nicht, warum er ausgerechnet uns fragen mußte. Weißt du, was er gesagt hat? Er wollte sehen, ob seine Initialen immer noch innen an einer Klosettüre wären. Er hatte nämlich seine verdammten blöden Initialen vor ungefähr neunzig Jahren in eine von diesen Türen gekerbt, und jetzt wollte er also sehen, ob sie noch da wären.
Stradlater - der mit mir im gleichen Zimmer wohnte - Stradlater und ich haben ihn also zum Waschraum geführt und dort gewartet, während er an sämtlichen Klosettüren seine Initialen gesucht hat. Dabei hatte er die ganze Zeit davon geschwätzt, daß die Jahre in Pencey die glücklichste Zeit in seinem ganzen Leben gewesen wären, und uns haufenweise gute Ratschläge für die Zukunft gegeben. Der hat mich schön deprimiert. Er war gar nicht so übel - das meine ich nicht. Aber einer braucht ja kein schlechter Mensch oder so zu sein, um jemand zu deprimieren - er kann sogar gut sein, und einen deprimieren. Es genügt schon, daß einer einen Haufen verlogene Ratschläge von sich gibt, während er an irgendeiner Klosettür seine Initialen sucht - mehr braucht es nicht. Ich weiß nicht. Vielleicht wäre es weniger schlimm gewesen, wenn er nicht so kurzatmig gewesen wäre. Er war noch vom Treppensteigen außer Atem, und beim Suchen nach seinen Initialen hat er die ganze Zeit gekeucht, mit komischen traurigen Nasenflügeln, während er Stradlater und mir erzählte, daß wir die Zeit in Pencey richtig ausnützen sollten. Großer Gott, Phoebe, ich kann dir nicht alles erklären. Ich habe einfach nichts von all dem ausstehen können, was in Pencey passierte. Ich kann's nicht erklären.«
Daraufhin sagte Phoebe etwas, aber ich konnte sie nicht verstehen. Sie hatte den Mund so im Kissen, daß man sie nicht verstehn konnte.
»Was?« fragte ich. »Komm mit deinem Mund aus dem Kissen. Ich versteh kein Wort, wenn du so da liegst.«
»Du kannst überhaupt nichts ausstehn.«
Als sie das sagte, wurde ich noch viel deprimierter.
»Doch. Doch, sicher. Sag das nicht. Warum zum Kuckuck sagst du so etwas?«
»Weil du gar nichts gern hast. Die Schulen hast du nicht gern, und überhaupt alles hast du nicht gern. Einfach nichts.«
»Doch! Da täuschst du dich - in dem Punkt täuschst du dich wirklich! Warum zum Kuckuck mußt du so etwas sagen?« Herr im Himmel, sie deprimierte mich wahnsinnig.
»Weil es so ist«, sagte sie. »Oder sag irgend etwas, was du gern hast.«
»Irgend etwas? Was ich gern habe?« fragte ich. »Schön.« Dummerweise konnte ich mich nicht richtig konzentrieren.
Manchmal ist das schwierig.
»Etwas, was ich richtig gern habe?« fragte ich.
Sie gab keine Antwort. Sie lag drüben auf der andern Seite im Bett. Kilometerweit weg. »Gib Antwort, komm«, sagte ich. »Etwas, was ich richtig gern habe, oder einfach nur gern habe?«
»Was du richtig gern hast.«
»Schön«, sagte ich. Aber dummerweise konnte ich mich eben nicht konzentrieren. Es fielen mir nur die beiden Nonnen ein, die mit diesen alten Körben herumliefen und Geld sammelten.
Besonders die mit der Stahlbrille. Oder einer, der in Elkton Hills gewesen war, James Castle. Dieser James Castle weigerte sich, etwas zurückzunehmen, was er über einen furchtbar eingebildeten Hund namens Phil Stabile gesagt hatte. Er hatte gesagt, Phil Stabile sei eingebildet, und einer von Stabiles blöden Freunden sagte es diesem Stabile weiter. Daraufhin ging Stabile mit ungefähr sechs anderen gemeinen Hunden in James Castles Zimmer und schloß die verdammte Tür ab und wollte, daß Castle es zurücknähme, aber er weigerte sich. Dann gingen sie auf ihn los. Ich will nicht erzählen, was sie mit ihm machten - es ist zu abscheulich -, aber der gute Castle wollte es trotzdem nicht zurücknehmen. Und dabei war er ein magerer, schwächlich aussehender kleiner Kerl mit bleistiftdünnen Handgelenken. Anstatt seine Behauptung zurückzunehmen, sprang er schließlich aus dem Fenster. Ich war gerade im Duschraum und hörte sogar, wie er unten aufschlug. Aber ich meinte, es sei nur irgend etwas aus dem Fenster gefallen, ein Radio oder ein Tisch oder was weiß ich, nicht ein Mensch oder so. Dann hörte ich alle durch die Gänge und die Treppe hinunterrennen und zog den Morgenrock an und rannte auch hinunter, und dort lag James Castle mitten auf der Steintreppe vor dem Haus. Er war tot, und alles war voll Blut, und seine Zähne lagen überall herum, und keiner wollte auch nur näher rangehen. Er hatte einen Pullover mit Rollkragen an, den ich ihm geliehen hatte. Die Schüler, die bei ihm im Zimmer gewesen waren, wurden nur relegiert. Sie kamen nicht einmal ins Gefängnis.
Etwas anderes fiel mir nicht ein. Die beiden Nonnen und dieser James Castle in Elkton Hills. Das Sonderbare daran ist, daß ich James Castle eigentlich kaum gekannt hatte, falls das jemanden interessiert. Er war sehr still. In der Mathematik ging er in die gleiche Klasse wie ich, aber er saß auf der andern Seite drüben und stand fast nie auf, um etwas zu sagen oder an die Wandtafel zu gehen.
Manche meldeten sich fast nie. Ich glaube, wir redeten zum erstenmal, als er mich fragte, ob ich ihm diesen Rollkragenpullover leihen wolle. Ich war so überrascht, daß ich fast in Ohnmacht fiel. Ich erinnere mich, daß ich mir im Waschraum gerade die Zähne putzte, als er mich das fragte. Er sagte, sein Cousin komme im Auto und wolle mit ihm ausfahren. Ich hätte gar nicht gedacht, daß er meinen Rollkragenpullover überhaupt beachtet hatte. Denn ich wußte von ihm eigentlich nur, daß sein Name immer direkt vor meinem im Alphabet kam. Gabel, R., Gabel, W, Castle, Caulfield - daran erinnere ich mich immer noch. Falls jemand die Wahrheit wissen will, ich hätte ihm beinah den Pullover nicht geliehen. Einfach nur, weil ich ihn kaum kannte.
»Was?« sagte ich zu Phoebe. Sie hatte irgend etwas zu mir gesagt, aber ich hatte nicht zugehört.
»Du kannst überhaupt nichts aufzählen?«
»Doch, das kann ich. Doch, das kann ich.«
»Gut, dann sag's.«
»Allie hab ich gern«, sagte ich. »Und was ich grade jetzt tue. Hier bei dir sitzen und reden und an alles mögliche denken und -
»Allie ist tot. Das sagst du ja immer. Wenn jemand tot ist und im Himmel und so, dann ist er nicht wirklich -«
»Natürlich ist er tot! Meinst du, ich wüßte das nicht? Aber ich kann ihn trotzdem gern haben! Nur weil jemand tot ist, hört man doch nicht einfach auf, ihn gern zu haben, du lieber Gott - besonders wenn einer tausendmal netter war als alle lebendigen Leute, die man kennt.«
Phoebe gab keine Antwort. Wenn ihr nichts einfällt, sagt sie kein einziges blödes Wort.
»Jedenfalls gefällt es mir jetzt«, sagte ich. »Ich meine jetzt grade. Hier bei dir zu sitzen und einfach zu schwätzen und Blödsinn-«
»Das ist nicht wirklich etwas!«
»Allerdings ist das wirklich etwas! Selbstverständlich! Warum zum Kuckuck denn nicht? Die Leute meinen immer, etwas sei nicht wirklich etwas. Das hab ich allmählich schon verdammt satt.«
»Hör auf zu fluchen. Also schön, sag etwas anderes. Sag etwas, was du gern sein möchtest. Wie ein Gelehrter. Oder ein Rechtsanwalt oder was.«
»Ich könnte kein Gelehrter werden. Für so etwas bin ich nicht begabt.«
»Schön, dann Rechtsanwalt - wie Dad und so.«
»Rechtsanwälte sind schon recht, vermutlich - aber mich lockt das nicht«, sagte ich. »Ich meine, sie sind mir recht, wenn sie unschuldigen Leuten das Leben retten, aber das tut man als Rechtsanwalt ja gar nicht. Man verdient nur einen Haufen Geld und spielt Golf und Bridge und kauft Autos und trinkt Martinis und sieht furchtbar bedeutend aus. Und außerdem - auch wenn man irgendwelchen Leuten das Leben retten würde, woher könnte man sicher wissen, ob man das getan hat, weil man ihnen wirklich das Leben retten wollte, oder ob man es tut, weil man nur ein fabelhafter Anwalt sein wollte, dem alle auf die Schulter klopfen und im Gerichtssaal gratulieren, wenn die verdammte Verhandlung vorbei ist - die Reporter und alle, so wie es in den elenden Filmen ist? Woher würde man wissen, daß man nicht nur ein Heuchler ist? Das Schlimme ist eben, daß man es nicht wüßte.«
Ich bin nicht ganz sicher, ob die gute Phoebe verstand, von was zum Teufel ich redete. Sie ist ja noch ein kleines Kind.
Aber wenigstens hörte sie zu. Wenn jemand wenigstens zuhört, ist alles weniger schlimm.
»Dad bringt dich um. Er bringt dich um!« sagte sie.
Ich hörte ihr aber nicht zu. Ich dachte an etwas ganz anderes - etwas Verrücktes. »Weißt du, was ich gern sein möchte?« fragte ich. »Weißt du, was ich sein möchte? Ich meine, wenn ich die Wahl hätte?«
»Was? Fluch nicht so.«
»Kennst du das Lied Wenn einer einen andern fängt, der durch den Roggen läuft? Ich wäre gern -«
»Es heißt Wenn einer einen andern trifft, der durch den Roggen läuft!« sagte Phoebe. »Das ist ein Gedicht von Robert Burns.«
»Das weiß ich auch, daß es ein Gedicht von Robert Burns ist.«
Sie hatte aber ganz recht. Es heißt Wenn einer einen andern trifft, der durch den Roggen läuft.
Damals wußte ich das allerdings noch nicht.
»Ich dachte, es hieße Wenn einer einen andern fängt«, sagte ich. »Aber jedenfalls stelle ich mir immer kleine Kinder vor, die in einem Roggenfeld ein Spiel machen. Tausende von kleinen Kindern, und keiner wäre in der Nähe - kein Erwachsener, meine ich - außer mir. Und ich würde am Rand einer verrückten Klippe stehen. Ich müßte alle festhalten, die über die Klippe hinauslaufen wollen - ich meine, wenn sie nicht achtgeben, wohin sie rennen, müßte ich vorspringen und sie fangen. Das wäre einfach der Fänger im Roggen. Ich weiß schon, daß das verrückt ist, aber das ist das einzige, was ich wirklich gern wäre. Ich weiß natürlich, daß das verrückt ist.«
Phoebe sagte lange nichts. Schließlich sagte sie nur: »Dad bringt dich um.«
»Ich scher mich den Teufel drum, wenn er das tut«, sagte ich.
Dann stand ich vom Bett auf, weil ich Mr. Antolini anrufen wollte, der in Elkton mein Englischlehrer gewesen war. Er wohnte jetzt in New York und unterrichtete an der New York University. »Ich muß noch telefonieren«, sagte ich. »Ich komme gleich wieder zurück. Schlaf aber nicht unterdessen ein.« Ich wollte nicht, daß sie einschliefe, während ich im Wohnzimmer war. Ich wußte zwar, daß sie wach bleiben würde, aber ich wollte ganz sicher sein.
Als ich zur Treppe ging, sagte Phoebe: »Holden!«, und ich drehte mich um.
Sie saß hochaufgerichtet im Bett. Sie sah so hübsch aus. »Ich nehme jetzt Unterricht im Rülpsen bei einer, sie heißt Phyllis Margulies«, sagte sie. »Hör.«
Ich horchte, und tatsächlich hörte ich auch etwas, aber nicht viel. »Gut«, sagte ich. Dann ging ich ins Wohnzimmer und rief diesen Mr. Antolini an.
»Was macht die gute Hazel Weatherfield?« fragte ich. »Hast du etwas Neues über sie geschrieben? Die Geschichte, die du ihm geschickt hast, ist in meinem Koffer auf dem Bahnhof. Sie ist ausgezeichnet.«
»Dad bringt dich um.« Wenn sie etwas im Kopf hat, dann hat sie es aber wirklich im Kopf.
»Nein, ganz sicher nicht. Schlimmstenfalls tobt er und schickt mich auf die verdammte Militärschule. Mehr nicht. Und außerdem bin ich ja nicht da. Ich bin weg. Wahrscheinlich in Colorado auf dieser Farm.«
»Daß ich nicht lache. Du kannst ja nicht einmal reiten.«
»Wer kann hier nicht reiten? Natürlich kann ich. Selbstverständlich. Das lernt man in zwei Minuten«, sagte ich.
»Laß das Zeug in Ruh.« Sie machte an ihrem Pflaster herum.
»Wer hat dir die Haare geschnitten?« fragte ich. Es war mir gerade aufgefallen, daß sie einen blöden Haarschnitt hatte. Viel zu kurz.
»Geht dich nichts an«, sagte sie. Manchmal kann sie sehr schnippisch sein. Wirklich richtig schnippisch. »Wahrscheinlich bist du wieder in jedem Fach durchgefallen«, sagte sie höchst schnippisch. Irgendwie klang es auch komisch. Manchmal redet sie genau in dem verdammten Lehrerton und ist doch noch ein kleines Kind.
»Nein, durchaus nicht«, sagte ich. »Im Englisch war ich gut.«
Dann zwickte ich sie aus reinem Blödsinn in ihr kleines Hinterteil. Sie lag auf der Seite, daß es auffallend herausstand.
Eigentlich hat sie überhaupt keines. Ich zwickte sie nicht fest, aber sie versuchte meine Hand wegzuschlagen. Nur traf sie daneben.
Plötzlich sagte sie: »Oh, warum hast du das getan?« Sie meinte damit, daß ich wieder geflogen war.
Ihr Ton machte mich irgendwie traurig.
»Ach Gott, Phoebe, frag noch nicht danach. Ich hab es satt, daß alle mich das fragen«, sagte ich. »Aus tausend Gründen. Pencey ist fast die schlimmste Schule, in der ich gewesen bin. Lauter verlogene Affen. Und gemeine Esel. So viele gemeine Esel auf einem Haufen sieht man in seinem ganzen Leben nicht mehr. Wenn sie zum Beispiel einen Budenzauber in irgendeinem Zimmer hatten und einer dabeisein wollte, hat ihn niemand hereingelassen, wenn es irgendein doofer Kerl mit Pickeln oder so war. Immer haben alle die Tür zugeschlossen, wenn einer hereinwollte. Und dann haben sie diese verdammte Geheimbrüderschaft, und ich war zu feig, um nicht beizutreten. Einer, Robert Ackley, ein furchtbar Langweiliger mit Pickeln, wollte auch mitmachen und versuchte immer beizutreten, aber ihn nahmen sie nicht auf. Einfach nur, weil er so langweilig war und Pickel hatte. Ich mag überhaupt nicht davon reden. So eine elende Dreckschule. Das kannst du mir glauben.«
Phoebe sagte nichts, aber sie hörte zu. Ich konnte ihrem Hals von hinten ansehen, daß sie zuhörte.
Sie hörte immer zu, wenn man ihr etwas erzählte. Und das Komische ist, daß sie ganz genau weiß, von was man redet.
Wirklich.
Ich redete weiter von Pencey. Ich war gerade in der Stimmung dazu.
»Sogar die paar netten Lehrer waren Heuchler«, sagte ich.
»Zum Beispiel dieser alte Mr. Spencer. Seine Frau hat uns immer heiße Schokolade gemacht und solches Zeug, und beide waren wirklich sehr nett. Aber du hättest ihn sehen sollen, wenn der Rektor, dieser Thurmer, in die Geschichtsstunde kam und sich hinten an die Wand setzte. Er kam immer und blieb ungefähr eine halbe Stunde dort sitzen. Das sollte wohl inkognito sein oder was. Dann fing er an, den alten Spencer zu unterbrechen und blöde Witze zu machen. Und dieser Spencer brachte sich fast um mit Kichern und Lächeln und allem, als ob Thurmer ein verdammter Fürst oder was weiß ich wäre.«
»Fluch nicht soviel.«
»Dir wäre es davon schlecht geworden, das schwör ich«, sagte ich. »Und dann die Veteranenfeier! An dem Tag kommen alle, die im Jahr 1776 oder wann das Examen gemacht haben, und laufen mit ihren Frauen und Kindern und allen überall herum. Einen, ungefähr fünfzig Jahre alt, hättest du sehen sollen. Der hat bei uns an die Tür geklopft und ist ins Zimmer gekommen und hat gefragt, ob wir etwas dagegen hätten, daß er in die Toilette ginge. Die Toilette ist hinten im Gang - ich weiß wahrhaftig nicht, warum er ausgerechnet uns fragen mußte. Weißt du, was er gesagt hat? Er wollte sehen, ob seine Initialen immer noch innen an einer Klosettüre wären. Er hatte nämlich seine verdammten blöden Initialen vor ungefähr neunzig Jahren in eine von diesen Türen gekerbt, und jetzt wollte er also sehen, ob sie noch da wären.
Stradlater - der mit mir im gleichen Zimmer wohnte - Stradlater und ich haben ihn also zum Waschraum geführt und dort gewartet, während er an sämtlichen Klosettüren seine Initialen gesucht hat. Dabei hatte er die ganze Zeit davon geschwätzt, daß die Jahre in Pencey die glücklichste Zeit in seinem ganzen Leben gewesen wären, und uns haufenweise gute Ratschläge für die Zukunft gegeben. Der hat mich schön deprimiert. Er war gar nicht so übel - das meine ich nicht. Aber einer braucht ja kein schlechter Mensch oder so zu sein, um jemand zu deprimieren - er kann sogar gut sein, und einen deprimieren. Es genügt schon, daß einer einen Haufen verlogene Ratschläge von sich gibt, während er an irgendeiner Klosettür seine Initialen sucht - mehr braucht es nicht. Ich weiß nicht. Vielleicht wäre es weniger schlimm gewesen, wenn er nicht so kurzatmig gewesen wäre. Er war noch vom Treppensteigen außer Atem, und beim Suchen nach seinen Initialen hat er die ganze Zeit gekeucht, mit komischen traurigen Nasenflügeln, während er Stradlater und mir erzählte, daß wir die Zeit in Pencey richtig ausnützen sollten. Großer Gott, Phoebe, ich kann dir nicht alles erklären. Ich habe einfach nichts von all dem ausstehen können, was in Pencey passierte. Ich kann's nicht erklären.«
Daraufhin sagte Phoebe etwas, aber ich konnte sie nicht verstehen. Sie hatte den Mund so im Kissen, daß man sie nicht verstehn konnte.
»Was?« fragte ich. »Komm mit deinem Mund aus dem Kissen. Ich versteh kein Wort, wenn du so da liegst.«
»Du kannst überhaupt nichts ausstehn.«
Als sie das sagte, wurde ich noch viel deprimierter.
»Doch. Doch, sicher. Sag das nicht. Warum zum Kuckuck sagst du so etwas?«
»Weil du gar nichts gern hast. Die Schulen hast du nicht gern, und überhaupt alles hast du nicht gern. Einfach nichts.«
»Doch! Da täuschst du dich - in dem Punkt täuschst du dich wirklich! Warum zum Kuckuck mußt du so etwas sagen?« Herr im Himmel, sie deprimierte mich wahnsinnig.
»Weil es so ist«, sagte sie. »Oder sag irgend etwas, was du gern hast.«
»Irgend etwas? Was ich gern habe?« fragte ich. »Schön.« Dummerweise konnte ich mich nicht richtig konzentrieren.
Manchmal ist das schwierig.
»Etwas, was ich richtig gern habe?« fragte ich.
Sie gab keine Antwort. Sie lag drüben auf der andern Seite im Bett. Kilometerweit weg. »Gib Antwort, komm«, sagte ich. »Etwas, was ich richtig gern habe, oder einfach nur gern habe?«
»Was du richtig gern hast.«
»Schön«, sagte ich. Aber dummerweise konnte ich mich eben nicht konzentrieren. Es fielen mir nur die beiden Nonnen ein, die mit diesen alten Körben herumliefen und Geld sammelten.
Besonders die mit der Stahlbrille. Oder einer, der in Elkton Hills gewesen war, James Castle. Dieser James Castle weigerte sich, etwas zurückzunehmen, was er über einen furchtbar eingebildeten Hund namens Phil Stabile gesagt hatte. Er hatte gesagt, Phil Stabile sei eingebildet, und einer von Stabiles blöden Freunden sagte es diesem Stabile weiter. Daraufhin ging Stabile mit ungefähr sechs anderen gemeinen Hunden in James Castles Zimmer und schloß die verdammte Tür ab und wollte, daß Castle es zurücknähme, aber er weigerte sich. Dann gingen sie auf ihn los. Ich will nicht erzählen, was sie mit ihm machten - es ist zu abscheulich -, aber der gute Castle wollte es trotzdem nicht zurücknehmen. Und dabei war er ein magerer, schwächlich aussehender kleiner Kerl mit bleistiftdünnen Handgelenken. Anstatt seine Behauptung zurückzunehmen, sprang er schließlich aus dem Fenster. Ich war gerade im Duschraum und hörte sogar, wie er unten aufschlug. Aber ich meinte, es sei nur irgend etwas aus dem Fenster gefallen, ein Radio oder ein Tisch oder was weiß ich, nicht ein Mensch oder so. Dann hörte ich alle durch die Gänge und die Treppe hinunterrennen und zog den Morgenrock an und rannte auch hinunter, und dort lag James Castle mitten auf der Steintreppe vor dem Haus. Er war tot, und alles war voll Blut, und seine Zähne lagen überall herum, und keiner wollte auch nur näher rangehen. Er hatte einen Pullover mit Rollkragen an, den ich ihm geliehen hatte. Die Schüler, die bei ihm im Zimmer gewesen waren, wurden nur relegiert. Sie kamen nicht einmal ins Gefängnis.
Etwas anderes fiel mir nicht ein. Die beiden Nonnen und dieser James Castle in Elkton Hills. Das Sonderbare daran ist, daß ich James Castle eigentlich kaum gekannt hatte, falls das jemanden interessiert. Er war sehr still. In der Mathematik ging er in die gleiche Klasse wie ich, aber er saß auf der andern Seite drüben und stand fast nie auf, um etwas zu sagen oder an die Wandtafel zu gehen.
Manche meldeten sich fast nie. Ich glaube, wir redeten zum erstenmal, als er mich fragte, ob ich ihm diesen Rollkragenpullover leihen wolle. Ich war so überrascht, daß ich fast in Ohnmacht fiel. Ich erinnere mich, daß ich mir im Waschraum gerade die Zähne putzte, als er mich das fragte. Er sagte, sein Cousin komme im Auto und wolle mit ihm ausfahren. Ich hätte gar nicht gedacht, daß er meinen Rollkragenpullover überhaupt beachtet hatte. Denn ich wußte von ihm eigentlich nur, daß sein Name immer direkt vor meinem im Alphabet kam. Gabel, R., Gabel, W, Castle, Caulfield - daran erinnere ich mich immer noch. Falls jemand die Wahrheit wissen will, ich hätte ihm beinah den Pullover nicht geliehen. Einfach nur, weil ich ihn kaum kannte.
»Was?« sagte ich zu Phoebe. Sie hatte irgend etwas zu mir gesagt, aber ich hatte nicht zugehört.
»Du kannst überhaupt nichts aufzählen?«
»Doch, das kann ich. Doch, das kann ich.«
»Gut, dann sag's.«
»Allie hab ich gern«, sagte ich. »Und was ich grade jetzt tue. Hier bei dir sitzen und reden und an alles mögliche denken und -
»Allie ist tot. Das sagst du ja immer. Wenn jemand tot ist und im Himmel und so, dann ist er nicht wirklich -«
»Natürlich ist er tot! Meinst du, ich wüßte das nicht? Aber ich kann ihn trotzdem gern haben! Nur weil jemand tot ist, hört man doch nicht einfach auf, ihn gern zu haben, du lieber Gott - besonders wenn einer tausendmal netter war als alle lebendigen Leute, die man kennt.«
Phoebe gab keine Antwort. Wenn ihr nichts einfällt, sagt sie kein einziges blödes Wort.
»Jedenfalls gefällt es mir jetzt«, sagte ich. »Ich meine jetzt grade. Hier bei dir zu sitzen und einfach zu schwätzen und Blödsinn-«
»Das ist nicht wirklich etwas!«
»Allerdings ist das wirklich etwas! Selbstverständlich! Warum zum Kuckuck denn nicht? Die Leute meinen immer, etwas sei nicht wirklich etwas. Das hab ich allmählich schon verdammt satt.«
»Hör auf zu fluchen. Also schön, sag etwas anderes. Sag etwas, was du gern sein möchtest. Wie ein Gelehrter. Oder ein Rechtsanwalt oder was.«
»Ich könnte kein Gelehrter werden. Für so etwas bin ich nicht begabt.«
»Schön, dann Rechtsanwalt - wie Dad und so.«
»Rechtsanwälte sind schon recht, vermutlich - aber mich lockt das nicht«, sagte ich. »Ich meine, sie sind mir recht, wenn sie unschuldigen Leuten das Leben retten, aber das tut man als Rechtsanwalt ja gar nicht. Man verdient nur einen Haufen Geld und spielt Golf und Bridge und kauft Autos und trinkt Martinis und sieht furchtbar bedeutend aus. Und außerdem - auch wenn man irgendwelchen Leuten das Leben retten würde, woher könnte man sicher wissen, ob man das getan hat, weil man ihnen wirklich das Leben retten wollte, oder ob man es tut, weil man nur ein fabelhafter Anwalt sein wollte, dem alle auf die Schulter klopfen und im Gerichtssaal gratulieren, wenn die verdammte Verhandlung vorbei ist - die Reporter und alle, so wie es in den elenden Filmen ist? Woher würde man wissen, daß man nicht nur ein Heuchler ist? Das Schlimme ist eben, daß man es nicht wüßte.«
Ich bin nicht ganz sicher, ob die gute Phoebe verstand, von was zum Teufel ich redete. Sie ist ja noch ein kleines Kind.
Aber wenigstens hörte sie zu. Wenn jemand wenigstens zuhört, ist alles weniger schlimm.
»Dad bringt dich um. Er bringt dich um!« sagte sie.
Ich hörte ihr aber nicht zu. Ich dachte an etwas ganz anderes - etwas Verrücktes. »Weißt du, was ich gern sein möchte?« fragte ich. »Weißt du, was ich sein möchte? Ich meine, wenn ich die Wahl hätte?«
»Was? Fluch nicht so.«
»Kennst du das Lied Wenn einer einen andern fängt, der durch den Roggen läuft? Ich wäre gern -«
»Es heißt Wenn einer einen andern trifft, der durch den Roggen läuft!« sagte Phoebe. »Das ist ein Gedicht von Robert Burns.«
»Das weiß ich auch, daß es ein Gedicht von Robert Burns ist.«
Sie hatte aber ganz recht. Es heißt Wenn einer einen andern trifft, der durch den Roggen läuft.
Damals wußte ich das allerdings noch nicht.
»Ich dachte, es hieße Wenn einer einen andern fängt«, sagte ich. »Aber jedenfalls stelle ich mir immer kleine Kinder vor, die in einem Roggenfeld ein Spiel machen. Tausende von kleinen Kindern, und keiner wäre in der Nähe - kein Erwachsener, meine ich - außer mir. Und ich würde am Rand einer verrückten Klippe stehen. Ich müßte alle festhalten, die über die Klippe hinauslaufen wollen - ich meine, wenn sie nicht achtgeben, wohin sie rennen, müßte ich vorspringen und sie fangen. Das wäre einfach der Fänger im Roggen. Ich weiß schon, daß das verrückt ist, aber das ist das einzige, was ich wirklich gern wäre. Ich weiß natürlich, daß das verrückt ist.«
Phoebe sagte lange nichts. Schließlich sagte sie nur: »Dad bringt dich um.«
»Ich scher mich den Teufel drum, wenn er das tut«, sagte ich.
Dann stand ich vom Bett auf, weil ich Mr. Antolini anrufen wollte, der in Elkton mein Englischlehrer gewesen war. Er wohnte jetzt in New York und unterrichtete an der New York University. »Ich muß noch telefonieren«, sagte ich. »Ich komme gleich wieder zurück. Schlaf aber nicht unterdessen ein.« Ich wollte nicht, daß sie einschliefe, während ich im Wohnzimmer war. Ich wußte zwar, daß sie wach bleiben würde, aber ich wollte ganz sicher sein.
Als ich zur Treppe ging, sagte Phoebe: »Holden!«, und ich drehte mich um.
Sie saß hochaufgerichtet im Bett. Sie sah so hübsch aus. »Ich nehme jetzt Unterricht im Rülpsen bei einer, sie heißt Phyllis Margulies«, sagte sie. »Hör.«
Ich horchte, und tatsächlich hörte ich auch etwas, aber nicht viel. »Gut«, sagte ich. Dann ging ich ins Wohnzimmer und rief diesen Mr. Antolini an.