4. Kapitel
Da ich nichts zu tun hatte, ging ich auch in den
Waschraum und schwätzte mit ihm, während er sich rasierte. Außer
uns war kein Mensch dort, weil alle noch beim Match waren. Von der
Höllenhitze waren alle Fenster beschlagen. Der Wand entlang
befinden sich ungefähr zehn Waschbecken nebeneinander.
Stradlater benützte das in der Mitte. Ich setzte mich auf das Becken neben seinem und drehte den Kaltwasserhahn auf und zu - eine nervöse Angewohnheit von mir. Stradlater pfiff Song of India beim Rasieren. Er pfiff immer durchdringend und falsch und suchte sich immer Schlager aus wie Song of India oder Das Blutbad in der 10. Avenue, die ohnedies schwierig sind, selbst wenn einer gut pfeifen kann. Er konnte wirklich jede Melodie ruinieren.
Ich sagte schon, Stradlater war ebenso schlampig wie Ackley, nur in anderer Art. Er war sozusagen mehr im geheimen schlampig. Er sah immer korrekt aus, aber sein Rasiermesser zum Beispiel war sehenswert. Es war immer ganz verrostet und mit altem Seifenschaum und Haaren und was weiß ich verklebt.
Er putzte es überhaupt nie. Er sah immer gut aus, wenn er sich hergerichtet hatte, aber im geheimen war er trotzdem unsauber, wenn man ihn so kannte wie ich. Er pflegte sein Aussehen nur deshalb so, weil er wahnsinnig in sich selber verliebt war. Er hielt sich für den schönsten Burschen der westlichen Hemisphäre. Ich muß zugeben, daß er ziemlich gut aussah. Aber nur in der Art, daß irgendwelche Eltern, wenn sie auf sein Bild im Jahrbuch gestoßen wären, sofort gefragt hätten: »Wer ist denn das?« Ich meine, er war einfach ein Typ, der auf Fotografien gut wirkt. In Pencey waren viele andere, die besser aussahen als er, aber im Jahrbuch wären sie niemandem aufgefallen. Auf einer Fotografie konnte man meinen, daß sie eine große Nase oder abstehende Ohren hätten. Das habe ich oft erlebt.
Ich saß also auf dem Waschbassin neben Stradlater und drehte am Kaltwasserhahn. Ich hatte immer noch die rote Jagdmütze verkehrt um an. Das machte mir Vergnügen.
»He«, sagte Stradlater. »Willst du mir einen großen Gefallen tun?«
»Was?« frage ich, nicht übermäßig begeistert. Er bat immer um irgendeinen großen Gefallen. Das machen alle so, die gut aussehen oder sich für große Kanonen halten. Weil sie für sich selbst schwärmen, meinen sie, man müsse ebenso für sie schwärmen und man verzehre sich danach, ihnen einen Gefallen zu tun. Eigentlich komisch.
»Gehst du heute abend aus?« fragte er.
»Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Weiß noch nicht. Warum?«
»Ich muß bis Montag noch ungefähr hundert Seiten Geschichte lesen. Könntest du wohl einen englischen Aufsatz für mich schreiben? Ich bin schlimm dran, wenn ich das verdammte Zeug nicht bis Montag habe. Deshalb frage ich. Was meinst du?« Das war ein starkes Stück, wahrhaftig.
»Ich fliege aus der verdammten Schule heraus«, sagte ich, »und für dich soll ich einen verdammten Aufsatz schreiben.«
»Ja, ich weiß. Aber es ist doch eben so, daß es mir sonst selber an den Kragen geht. Sei kein mieser Frosch. O.K.?«
Ich antwortete nicht sofort. Manchen Parasiten wie Stradlater tut es gut, wenn man sie zappeln läßt.
»Über was?« fragte ich.
»Irgend etwas. Irgendeine Beschreibung. Ein Zimmer. Oder ein Haus. Oder irgendeine Erinnerung du weißt schon. Wenn es nur eine verdammte Schilderung ist.« Dabei gähnte er. Von so etwas bekomme ich Krämpfe. Ich meine, wenn einer in dem Augenblick gähnt, in dem er um eine Gefälligkeit bittet.
»Schreib ihn nur nicht zu gut, dann wird es schon richtig«, sagte er. »Dieser verdammte Hartzell hält dich für eine Kanone bei Aufsätzen, und er weiß, daß wir zusammenwohnen. Ich meine, setz nur nicht alle Kommas und so weiter an die richtige Stelle.«
Das ist wieder so etwas, wovon ich Krämpfe bekomme. Wenn man gut Aufsätze schreiben kann und dann jemand von Kommas zu reden anfängt. Stradlater tat das immer. Er wollte einem weismachen, daß er nur deshalb schlecht im Aufsatz sei, weil er die Kommas falsch einsetzte. In diesem Punkt war er ähnlich wie Ackley. Einmal saß ich bei diesem Basketballspiel direkt neben Ackley. Wir hatten einen phantastischen Kerl in der Mannschaft, Howie Coyle, der die Bälle von der Mitte des Spielfeldes aus reinbekam, ohne nur das Brett zu berühren oder so. Ackley sagte immer wieder, während des ganzen verdammten Spiels, dieser Coyle habe einen idealen Basketballkörper. Mein Gott, wie ich diesen Quatsch hasse.
Allmählich langweilte ich mich auf dem Waschbassin. Ich stand auf und fing einen Steptanz an, einfach aus Blödsinn. Es machte mir einfach Spaß. Der Steinboden eignete sich gut dafür, obwohl ich gar nicht steppen kann. Ich machte die Tänzer in Filmen nach, in diesen Musicals. Ich hasse Filme wie Gift, aber sie nachahmen macht mir Spaß. Stradlater sah mir im Spiegel zu, während er sich rasierte. Ich brauche nur Publikum, mehr nicht. Ich bin ein Exhibitionist. »Ich bin der Sohn des blöden Gouverneurs«, sagte ich. Ich kam in Fahrt und tanzte durch den ganzen Raum. »Er will nicht, daß ich Tänzer werde. Er will mich nach Oxford schicken. Aber das Tanzen liegt mir im Blut.«
Stradlater lachte. Er hatte keinen üblen Sinn für Humor.
»Die Premiere der Ziegfeld Follies«, sagte ich außer Atem.
Ich bin furchtbar kurzatmig. »Der erste Tänzer kann nicht weiter. Er ist besoffen. Wen sollen sie als Ersatz nehmen? Mich natürlich. Den Sohn des verdammten Gouverneurs.«
»Wo hast du die Mütze her?« fragte Stradlater. Er meinte meine Jagdmütze; so etwas hatte er noch nie gesehen.
Weil ich ohnedies keine Luft mehr bekam, hörte ich auf. Ich nahm die Mütze ab und betrachtete sie zum ungefähr neunzigstenmal.
»Heute morgen in New York gekauft. Für einen Dollar. Gefällt sie dir?«
Stradlater nickte. »Toll«, sagte er. Er wollte mir aber nur schmeicheln, denn gleich darauf sagte er: »Hör, schreibst du den Aufsatz für mich? Ich muß es wissen.«
»Wenn ich Zeit habe, tu ich's. Wenn nicht, tu ich's nicht.«
Ich setzte mich wieder auf das Waschbassin. »Mit wem gehst du aus?« fragte ich. »Fitzgerald?«
»Herr im Himmel, nein! Mit der bin ich fertig.«
»Wirklich? Gib sie mir. Im Ernst. Sie ist mein Typ.«
»Nimm sie nur... Sie ist zu alt für dich.«
Plötzlich - aus keinem anderen Grund, als weil ich dazu aufgelegt war, mich zu balgen - sprang ich vom Waschbassin herunter und stürzte mich wie ein Panther auf Stradlater. Ich wollte den Halb-Nelson anwenden, das ist ein Ringergriff, falls das jemand wissen will, wobei man den Gegner um den Hals packt und würgt, wenn man will, bis er erstickt.
»Hör auf, Holden!« sagte Stradlater. Er hatte keine Lust zum Balgen. Er war beim Rasieren. »Was hast du vor - daß ich mir den Kopf abschneide?«
Ich ließ aber nicht los. Ich hatte ihn gut im Halb-Nelson.
»Befreie dich aus meinem tödlichen Griff«, sagte ich.
»Jesus Christus.« Er legte seinen Rasierapparat hin, warf plötzlich die Arme in die Höhe und machte sich los. Er war sehr stark, und ich habe überhaupt keine Kraft. »Jetzt hör mit dem Blödsinn auf«, sagte er. Er fing wieder von vorne an mit dem Rasieren. Er rasierte sich immer zweimal, um fabelhaft auszusehen. Und das mit seiner schauerlichen alten Klinge.
»Wer ist es denn, wenn es nicht Fitzgerald ist?« fragte ich.
Dabei setzte ich mich wieder hin. »Dieses Phyllis-Smith-Baby?«
»Nein. Die sollte es sein, aber es wurde nichts daraus. Ich habe jetzt die, die mit dem Mädchen von Bud Thaw im gleichen Zimmer wohnt... He, fast hätte ich's vergessen. Sie kennt dich.«
»Wer?«
»Eben die.«
»So? Wie heißt sie?« Das interessierte mich.
»Wart einmal... Ach ja. Jane Gallagher.«
Mich traf fast der Schlag, als ich das hörte.
»Jane Gallagher«, sagte ich. Ich stand sogar auf. Ich war wirklich erschlagen. »Die kenne ich tatsächlich. Im vorletzten Sommer wohnte sie sozusagen direkt neben mir. Sie hatte so einen großen verdammten Dobermannpinscher. So habe ich sie kennengelernt. Ihr Hund kam immer in unsern -«
»Du stehst mir im Licht, Holden«, sagte Stradlater. »Ist das unbedingt nötig?«
Junge, ich war vielleicht aufgeregt, wirklich.
»Wo ist sie? Ich muß ihr doch guten Tag sagen. Wo ist sie? Im Anbau?«
»Ja.«
»Wieso hat sie von mir gesprochen? Ist sie jetzt in Shipley oder wo? Sie sagte, vielleicht käme sie dorthin. Wieso hat sie von mir gesprochen?« Ich war wirklich ganz aufgeregt.
»Das weiß ich doch nicht, um Himmels willen. Steh auf, bitte. Du sitzt auf meinem Handtuch.« Ich saß tatsächlich auf seinem doofen Handtuch.
»Jane Gallagher«, sagte ich. Ich wurde gar nicht damit fertig. »Herr im Himmel.«
Stradlater rieb sich Vitalis in die Haare. Aus meiner Flasche.
»Sie ist Tänzerin«, sagte ich. »Ballett und so. Sie hat damals jeden Tag zwei Stunden geübt, auch bei der größten Hitze. Sie hatte Angst, daß sie häßliche Beine davon bekommen könnte - dicke Beine und so. Ich habe immer mit ihr Dame gespielt.«
»Was hast du mit ihr gespielt?«
»Dame.«
»Dame, um Himmels willen!«
»Ja. Sie wollte nie mit ihren Damen ziehen. Wenn sie eine Dame hatte, wollte sie nicht damit ziehen. Sie ließ sie einfach am Rand stehen, bis alle dort aufgereiht waren. Gezogen hat sie nie damit. Es gefiel ihr einfach, wenn alle in einer Reihe standen.«
Stradlater antwortete nichts. Die meisten Leute interessieren sich nicht für solches Zeug.
»Ihre Mutter war im gleichen Golfclub wie wir«, sagte ich. »Manchmal ging ich als Caddie hin, um Geld zu verdienen. Ihrer Mutter habe ich oft die Schläger nachgetragen.«
Stradlater hörte kaum hin. Er frisierte sein prachtvolles Lockenhaupt.
»Ich sollte ihr wenigstens guten Tag sagen«, sagte ich.
»Warum gehst du nicht zu ihr?«
»Ich geh sofort.«
Er zog sich wieder einen neuen Scheitel. Er brauchte immer eine gute Stunde, bis er gekämmt war.
»Ihre Eltern waren geschieden. Ihre Mutter hat dann irgendeinen Säufer geheiratet«, sagte ich. »Brandmager, mit haarigen Beinen. Ich erinnere mich an ihn. Er hatte immer Shorts an. Jane sagte, er sei irgendein Schriftsteller oder etwas Ähnliches, aber ich habe immer nur gesehen, daß er gesoffen, am Radio gesessen und jedes, aber auch jedes gottverdammte Krimiprogramm gehört hat. Und mit Vorliebe lief er nackt um das verdammte Haus herum. Obwohl Jane dort war und so.«
»So?« fragte Stradlater. Das interessierte ihn plötzlich. Ein Alkoholiker, der nackt herumlief, wenn Jane dort war. Solche Sachen hörte er gern. Er war ziemlich scharf auf Sex.
»Sie hat eine elende Kindheit gehabt. Im Ernst.«
Aber das interessierte Stradlater schon nicht mehr. Nur richtiger Sex interessierte ihn.
»Jane Gallagher, großer Gott.« Ich kam nicht davon los. »Ich sollte wirklich hinuntergehen und ihr guten Tag sagen.«
»Warum zum Teufel tust du es denn nicht, anstatt immer davon zu reden?«
Ich ging zum Fenster, aber man konnte nicht hinaussehen, weil es vom Dampf so beschlagen war.
»Ich bin nicht in der Stimmung«, sagte ich. Das war wirklich so. Für so etwas muß man in der richtigen Stimmung sein. »Ich habe gemeint, sie wäre in Shipley. Ich hätte geschworen, daß sie dorthin gegangen ist.« Ich ging hin und her. Etwas anderes hatte ich nicht zu tun. »Hat dir das Spiel Spaß gemacht?« fragte ich.
»Ja, ich glaube. Ich weiß nicht.«
»Hat sie dir erzählt, daß wir immer Dame gespielt haben oder so?«
»Weiß ich nicht mehr, Herr im Himmel, ich hab sie ja gerade erst kennengelernt«, sagte Stradlater.
Er war jetzt endlich mit seinem prachtvollen Lockenhaupt fertig und sammelte seine dreckigen Toilettensachen ein.
»Sag mal, könntest du sie von mir grüßen?«
»O. K.«, sagte er, aber ich war ziemlich sicher, daß er es wohl nicht tun würde. Solche Typen richten nie Grüße aus. Er ging ins Zimmer zurück, aber ich lungerte noch eine Zeitlang im Waschraum umher und dachte an Jane. Dann ging auch ich ins Zimmer.
Stradlater band sich vor dem Spiegel die Krawatte. Er verbrachte ungefähr die Hälfte seines Lebens vor dem Spiegel.
Ich setzte mich in meinen Sessel und sah ihm zu.
»Du«, sagte ich, »erzähl ihr nicht, daß ich geflogen bin, bitte.«
»O. K.«
Das war ein sympathischer Zug an ihm. Man brauchte ihm nicht jede verdammte Kleinigkeit zu erklären, wie es bei Ackley nötig war. Vor allem wohl deshalb, weil er sich nie besonders interessierte. Das war der Grund. Ackley war ganz anders.
Ackley war ein Schnüffler.
Stradlater zog meine karierte Jacke an.
»Gib um Himmels willen acht, daß du sie mir nicht ausweitest«, sagte ich. »Ich habe sie erst ungefähr zweimal angehabt.«
»Reg dich nicht auf. Wo zum Teufel sind meine Zigaretten?«
»Auf dem Tisch.« Er wußte nie, wo er etwas hingelegt hatte. »Unter deinem Schal.« Er steckte sie in meine Jackentasche.
Ich drehte zur Abwechslung wieder meine Mütze um, mit dem Schild nach vorn. Ich wurde plötzlich irgendwie nervös. Ich bin überhaupt ein nervöser Mensch. »Wo gehst du denn mit ihr hin?« fragte ich. »Weißt du das schon?«
»Nein, New York, falls wir Zeit haben. Sie hat sich nur bis halb zehn abgemeldet, du lieber Himmel.«
Sein Ton gefiel mir nicht, deshalb sagte ich: »Das hat sie nur deshalb so gemacht, weil sie vermutlich noch nicht wußte, welch ein gutaussehender Schweinehund du bist. Wenn sie das gewußt hätte, hätte sie sich wohl bis halb zehn morgens abgemeldet.«
»Ganz richtig«, sagte er. Man konnte ihn nicht leicht ärgern.
Er war zu eingebildet. »Aber jetzt im Ernst. Schreib den Aufsatz für mich«, sagte er. Er hatte schon den Mantel angezogen und war zum Gehen bereit. »Überanstreng dich nicht damit, mach ihn einfach höllisch farbig, O. K.?«
Ich gab keine Antwort. Ich hatte keine Lust dazu. Ich sagte nur: »Frag sie, ob sie immer noch alle ihre Damen am Rand sitzen läßt.«
»O. K.«, sagte Stradlater, aber ich wußte genau, daß er es nicht ausrichten würde. »Sei nicht zu fleißig.« Damit stob er hinaus.
Ich blieb ungefähr noch eine halbe Stunde sitzen, nachdem er fort war. Ich saß einfach da und tat überhaupt nichts. Ich dachte immer an Jane und an Stradlater, der mit ihr ausging, und das alles. Es machte mich so nervös, wie sexy Stradlater war.
Plötzlich platzte Ackley wieder durch die verfluchten Vorhänge vom Duschraum herein. Dieses einzige Mal in meinem blöden Leben war ich wirklich froh über sein Erscheinen. Er lenkte mich von dem andern Zeug ab.
Er blieb fast bis zum Abendessen da, schwätzte über die andern und daß er sie alle nicht ausstehen könne und drückte an dem großen Pickel auf seinem Kinn herum. Er benützte nicht einmal sein Taschentuch dazu.
Vermutlich besaß der Lümmel überhaupt kein Taschentuch.
Jedenfalls habe ich nie eins bei ihm gesehen.
Stradlater benützte das in der Mitte. Ich setzte mich auf das Becken neben seinem und drehte den Kaltwasserhahn auf und zu - eine nervöse Angewohnheit von mir. Stradlater pfiff Song of India beim Rasieren. Er pfiff immer durchdringend und falsch und suchte sich immer Schlager aus wie Song of India oder Das Blutbad in der 10. Avenue, die ohnedies schwierig sind, selbst wenn einer gut pfeifen kann. Er konnte wirklich jede Melodie ruinieren.
Ich sagte schon, Stradlater war ebenso schlampig wie Ackley, nur in anderer Art. Er war sozusagen mehr im geheimen schlampig. Er sah immer korrekt aus, aber sein Rasiermesser zum Beispiel war sehenswert. Es war immer ganz verrostet und mit altem Seifenschaum und Haaren und was weiß ich verklebt.
Er putzte es überhaupt nie. Er sah immer gut aus, wenn er sich hergerichtet hatte, aber im geheimen war er trotzdem unsauber, wenn man ihn so kannte wie ich. Er pflegte sein Aussehen nur deshalb so, weil er wahnsinnig in sich selber verliebt war. Er hielt sich für den schönsten Burschen der westlichen Hemisphäre. Ich muß zugeben, daß er ziemlich gut aussah. Aber nur in der Art, daß irgendwelche Eltern, wenn sie auf sein Bild im Jahrbuch gestoßen wären, sofort gefragt hätten: »Wer ist denn das?« Ich meine, er war einfach ein Typ, der auf Fotografien gut wirkt. In Pencey waren viele andere, die besser aussahen als er, aber im Jahrbuch wären sie niemandem aufgefallen. Auf einer Fotografie konnte man meinen, daß sie eine große Nase oder abstehende Ohren hätten. Das habe ich oft erlebt.
Ich saß also auf dem Waschbassin neben Stradlater und drehte am Kaltwasserhahn. Ich hatte immer noch die rote Jagdmütze verkehrt um an. Das machte mir Vergnügen.
»He«, sagte Stradlater. »Willst du mir einen großen Gefallen tun?«
»Was?« frage ich, nicht übermäßig begeistert. Er bat immer um irgendeinen großen Gefallen. Das machen alle so, die gut aussehen oder sich für große Kanonen halten. Weil sie für sich selbst schwärmen, meinen sie, man müsse ebenso für sie schwärmen und man verzehre sich danach, ihnen einen Gefallen zu tun. Eigentlich komisch.
»Gehst du heute abend aus?« fragte er.
»Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Weiß noch nicht. Warum?«
»Ich muß bis Montag noch ungefähr hundert Seiten Geschichte lesen. Könntest du wohl einen englischen Aufsatz für mich schreiben? Ich bin schlimm dran, wenn ich das verdammte Zeug nicht bis Montag habe. Deshalb frage ich. Was meinst du?« Das war ein starkes Stück, wahrhaftig.
»Ich fliege aus der verdammten Schule heraus«, sagte ich, »und für dich soll ich einen verdammten Aufsatz schreiben.«
»Ja, ich weiß. Aber es ist doch eben so, daß es mir sonst selber an den Kragen geht. Sei kein mieser Frosch. O.K.?«
Ich antwortete nicht sofort. Manchen Parasiten wie Stradlater tut es gut, wenn man sie zappeln läßt.
»Über was?« fragte ich.
»Irgend etwas. Irgendeine Beschreibung. Ein Zimmer. Oder ein Haus. Oder irgendeine Erinnerung du weißt schon. Wenn es nur eine verdammte Schilderung ist.« Dabei gähnte er. Von so etwas bekomme ich Krämpfe. Ich meine, wenn einer in dem Augenblick gähnt, in dem er um eine Gefälligkeit bittet.
»Schreib ihn nur nicht zu gut, dann wird es schon richtig«, sagte er. »Dieser verdammte Hartzell hält dich für eine Kanone bei Aufsätzen, und er weiß, daß wir zusammenwohnen. Ich meine, setz nur nicht alle Kommas und so weiter an die richtige Stelle.«
Das ist wieder so etwas, wovon ich Krämpfe bekomme. Wenn man gut Aufsätze schreiben kann und dann jemand von Kommas zu reden anfängt. Stradlater tat das immer. Er wollte einem weismachen, daß er nur deshalb schlecht im Aufsatz sei, weil er die Kommas falsch einsetzte. In diesem Punkt war er ähnlich wie Ackley. Einmal saß ich bei diesem Basketballspiel direkt neben Ackley. Wir hatten einen phantastischen Kerl in der Mannschaft, Howie Coyle, der die Bälle von der Mitte des Spielfeldes aus reinbekam, ohne nur das Brett zu berühren oder so. Ackley sagte immer wieder, während des ganzen verdammten Spiels, dieser Coyle habe einen idealen Basketballkörper. Mein Gott, wie ich diesen Quatsch hasse.
Allmählich langweilte ich mich auf dem Waschbassin. Ich stand auf und fing einen Steptanz an, einfach aus Blödsinn. Es machte mir einfach Spaß. Der Steinboden eignete sich gut dafür, obwohl ich gar nicht steppen kann. Ich machte die Tänzer in Filmen nach, in diesen Musicals. Ich hasse Filme wie Gift, aber sie nachahmen macht mir Spaß. Stradlater sah mir im Spiegel zu, während er sich rasierte. Ich brauche nur Publikum, mehr nicht. Ich bin ein Exhibitionist. »Ich bin der Sohn des blöden Gouverneurs«, sagte ich. Ich kam in Fahrt und tanzte durch den ganzen Raum. »Er will nicht, daß ich Tänzer werde. Er will mich nach Oxford schicken. Aber das Tanzen liegt mir im Blut.«
Stradlater lachte. Er hatte keinen üblen Sinn für Humor.
»Die Premiere der Ziegfeld Follies«, sagte ich außer Atem.
Ich bin furchtbar kurzatmig. »Der erste Tänzer kann nicht weiter. Er ist besoffen. Wen sollen sie als Ersatz nehmen? Mich natürlich. Den Sohn des verdammten Gouverneurs.«
»Wo hast du die Mütze her?« fragte Stradlater. Er meinte meine Jagdmütze; so etwas hatte er noch nie gesehen.
Weil ich ohnedies keine Luft mehr bekam, hörte ich auf. Ich nahm die Mütze ab und betrachtete sie zum ungefähr neunzigstenmal.
»Heute morgen in New York gekauft. Für einen Dollar. Gefällt sie dir?«
Stradlater nickte. »Toll«, sagte er. Er wollte mir aber nur schmeicheln, denn gleich darauf sagte er: »Hör, schreibst du den Aufsatz für mich? Ich muß es wissen.«
»Wenn ich Zeit habe, tu ich's. Wenn nicht, tu ich's nicht.«
Ich setzte mich wieder auf das Waschbassin. »Mit wem gehst du aus?« fragte ich. »Fitzgerald?«
»Herr im Himmel, nein! Mit der bin ich fertig.«
»Wirklich? Gib sie mir. Im Ernst. Sie ist mein Typ.«
»Nimm sie nur... Sie ist zu alt für dich.«
Plötzlich - aus keinem anderen Grund, als weil ich dazu aufgelegt war, mich zu balgen - sprang ich vom Waschbassin herunter und stürzte mich wie ein Panther auf Stradlater. Ich wollte den Halb-Nelson anwenden, das ist ein Ringergriff, falls das jemand wissen will, wobei man den Gegner um den Hals packt und würgt, wenn man will, bis er erstickt.
»Hör auf, Holden!« sagte Stradlater. Er hatte keine Lust zum Balgen. Er war beim Rasieren. »Was hast du vor - daß ich mir den Kopf abschneide?«
Ich ließ aber nicht los. Ich hatte ihn gut im Halb-Nelson.
»Befreie dich aus meinem tödlichen Griff«, sagte ich.
»Jesus Christus.« Er legte seinen Rasierapparat hin, warf plötzlich die Arme in die Höhe und machte sich los. Er war sehr stark, und ich habe überhaupt keine Kraft. »Jetzt hör mit dem Blödsinn auf«, sagte er. Er fing wieder von vorne an mit dem Rasieren. Er rasierte sich immer zweimal, um fabelhaft auszusehen. Und das mit seiner schauerlichen alten Klinge.
»Wer ist es denn, wenn es nicht Fitzgerald ist?« fragte ich.
Dabei setzte ich mich wieder hin. »Dieses Phyllis-Smith-Baby?«
»Nein. Die sollte es sein, aber es wurde nichts daraus. Ich habe jetzt die, die mit dem Mädchen von Bud Thaw im gleichen Zimmer wohnt... He, fast hätte ich's vergessen. Sie kennt dich.«
»Wer?«
»Eben die.«
»So? Wie heißt sie?« Das interessierte mich.
»Wart einmal... Ach ja. Jane Gallagher.«
Mich traf fast der Schlag, als ich das hörte.
»Jane Gallagher«, sagte ich. Ich stand sogar auf. Ich war wirklich erschlagen. »Die kenne ich tatsächlich. Im vorletzten Sommer wohnte sie sozusagen direkt neben mir. Sie hatte so einen großen verdammten Dobermannpinscher. So habe ich sie kennengelernt. Ihr Hund kam immer in unsern -«
»Du stehst mir im Licht, Holden«, sagte Stradlater. »Ist das unbedingt nötig?«
Junge, ich war vielleicht aufgeregt, wirklich.
»Wo ist sie? Ich muß ihr doch guten Tag sagen. Wo ist sie? Im Anbau?«
»Ja.«
»Wieso hat sie von mir gesprochen? Ist sie jetzt in Shipley oder wo? Sie sagte, vielleicht käme sie dorthin. Wieso hat sie von mir gesprochen?« Ich war wirklich ganz aufgeregt.
»Das weiß ich doch nicht, um Himmels willen. Steh auf, bitte. Du sitzt auf meinem Handtuch.« Ich saß tatsächlich auf seinem doofen Handtuch.
»Jane Gallagher«, sagte ich. Ich wurde gar nicht damit fertig. »Herr im Himmel.«
Stradlater rieb sich Vitalis in die Haare. Aus meiner Flasche.
»Sie ist Tänzerin«, sagte ich. »Ballett und so. Sie hat damals jeden Tag zwei Stunden geübt, auch bei der größten Hitze. Sie hatte Angst, daß sie häßliche Beine davon bekommen könnte - dicke Beine und so. Ich habe immer mit ihr Dame gespielt.«
»Was hast du mit ihr gespielt?«
»Dame.«
»Dame, um Himmels willen!«
»Ja. Sie wollte nie mit ihren Damen ziehen. Wenn sie eine Dame hatte, wollte sie nicht damit ziehen. Sie ließ sie einfach am Rand stehen, bis alle dort aufgereiht waren. Gezogen hat sie nie damit. Es gefiel ihr einfach, wenn alle in einer Reihe standen.«
Stradlater antwortete nichts. Die meisten Leute interessieren sich nicht für solches Zeug.
»Ihre Mutter war im gleichen Golfclub wie wir«, sagte ich. »Manchmal ging ich als Caddie hin, um Geld zu verdienen. Ihrer Mutter habe ich oft die Schläger nachgetragen.«
Stradlater hörte kaum hin. Er frisierte sein prachtvolles Lockenhaupt.
»Ich sollte ihr wenigstens guten Tag sagen«, sagte ich.
»Warum gehst du nicht zu ihr?«
»Ich geh sofort.«
Er zog sich wieder einen neuen Scheitel. Er brauchte immer eine gute Stunde, bis er gekämmt war.
»Ihre Eltern waren geschieden. Ihre Mutter hat dann irgendeinen Säufer geheiratet«, sagte ich. »Brandmager, mit haarigen Beinen. Ich erinnere mich an ihn. Er hatte immer Shorts an. Jane sagte, er sei irgendein Schriftsteller oder etwas Ähnliches, aber ich habe immer nur gesehen, daß er gesoffen, am Radio gesessen und jedes, aber auch jedes gottverdammte Krimiprogramm gehört hat. Und mit Vorliebe lief er nackt um das verdammte Haus herum. Obwohl Jane dort war und so.«
»So?« fragte Stradlater. Das interessierte ihn plötzlich. Ein Alkoholiker, der nackt herumlief, wenn Jane dort war. Solche Sachen hörte er gern. Er war ziemlich scharf auf Sex.
»Sie hat eine elende Kindheit gehabt. Im Ernst.«
Aber das interessierte Stradlater schon nicht mehr. Nur richtiger Sex interessierte ihn.
»Jane Gallagher, großer Gott.« Ich kam nicht davon los. »Ich sollte wirklich hinuntergehen und ihr guten Tag sagen.«
»Warum zum Teufel tust du es denn nicht, anstatt immer davon zu reden?«
Ich ging zum Fenster, aber man konnte nicht hinaussehen, weil es vom Dampf so beschlagen war.
»Ich bin nicht in der Stimmung«, sagte ich. Das war wirklich so. Für so etwas muß man in der richtigen Stimmung sein. »Ich habe gemeint, sie wäre in Shipley. Ich hätte geschworen, daß sie dorthin gegangen ist.« Ich ging hin und her. Etwas anderes hatte ich nicht zu tun. »Hat dir das Spiel Spaß gemacht?« fragte ich.
»Ja, ich glaube. Ich weiß nicht.«
»Hat sie dir erzählt, daß wir immer Dame gespielt haben oder so?«
»Weiß ich nicht mehr, Herr im Himmel, ich hab sie ja gerade erst kennengelernt«, sagte Stradlater.
Er war jetzt endlich mit seinem prachtvollen Lockenhaupt fertig und sammelte seine dreckigen Toilettensachen ein.
»Sag mal, könntest du sie von mir grüßen?«
»O. K.«, sagte er, aber ich war ziemlich sicher, daß er es wohl nicht tun würde. Solche Typen richten nie Grüße aus. Er ging ins Zimmer zurück, aber ich lungerte noch eine Zeitlang im Waschraum umher und dachte an Jane. Dann ging auch ich ins Zimmer.
Stradlater band sich vor dem Spiegel die Krawatte. Er verbrachte ungefähr die Hälfte seines Lebens vor dem Spiegel.
Ich setzte mich in meinen Sessel und sah ihm zu.
»Du«, sagte ich, »erzähl ihr nicht, daß ich geflogen bin, bitte.«
»O. K.«
Das war ein sympathischer Zug an ihm. Man brauchte ihm nicht jede verdammte Kleinigkeit zu erklären, wie es bei Ackley nötig war. Vor allem wohl deshalb, weil er sich nie besonders interessierte. Das war der Grund. Ackley war ganz anders.
Ackley war ein Schnüffler.
Stradlater zog meine karierte Jacke an.
»Gib um Himmels willen acht, daß du sie mir nicht ausweitest«, sagte ich. »Ich habe sie erst ungefähr zweimal angehabt.«
»Reg dich nicht auf. Wo zum Teufel sind meine Zigaretten?«
»Auf dem Tisch.« Er wußte nie, wo er etwas hingelegt hatte. »Unter deinem Schal.« Er steckte sie in meine Jackentasche.
Ich drehte zur Abwechslung wieder meine Mütze um, mit dem Schild nach vorn. Ich wurde plötzlich irgendwie nervös. Ich bin überhaupt ein nervöser Mensch. »Wo gehst du denn mit ihr hin?« fragte ich. »Weißt du das schon?«
»Nein, New York, falls wir Zeit haben. Sie hat sich nur bis halb zehn abgemeldet, du lieber Himmel.«
Sein Ton gefiel mir nicht, deshalb sagte ich: »Das hat sie nur deshalb so gemacht, weil sie vermutlich noch nicht wußte, welch ein gutaussehender Schweinehund du bist. Wenn sie das gewußt hätte, hätte sie sich wohl bis halb zehn morgens abgemeldet.«
»Ganz richtig«, sagte er. Man konnte ihn nicht leicht ärgern.
Er war zu eingebildet. »Aber jetzt im Ernst. Schreib den Aufsatz für mich«, sagte er. Er hatte schon den Mantel angezogen und war zum Gehen bereit. »Überanstreng dich nicht damit, mach ihn einfach höllisch farbig, O. K.?«
Ich gab keine Antwort. Ich hatte keine Lust dazu. Ich sagte nur: »Frag sie, ob sie immer noch alle ihre Damen am Rand sitzen läßt.«
»O. K.«, sagte Stradlater, aber ich wußte genau, daß er es nicht ausrichten würde. »Sei nicht zu fleißig.« Damit stob er hinaus.
Ich blieb ungefähr noch eine halbe Stunde sitzen, nachdem er fort war. Ich saß einfach da und tat überhaupt nichts. Ich dachte immer an Jane und an Stradlater, der mit ihr ausging, und das alles. Es machte mich so nervös, wie sexy Stradlater war.
Plötzlich platzte Ackley wieder durch die verfluchten Vorhänge vom Duschraum herein. Dieses einzige Mal in meinem blöden Leben war ich wirklich froh über sein Erscheinen. Er lenkte mich von dem andern Zeug ab.
Er blieb fast bis zum Abendessen da, schwätzte über die andern und daß er sie alle nicht ausstehen könne und drückte an dem großen Pickel auf seinem Kinn herum. Er benützte nicht einmal sein Taschentuch dazu.
Vermutlich besaß der Lümmel überhaupt kein Taschentuch.
Jedenfalls habe ich nie eins bei ihm gesehen.