9. Kapitel

Als ich in Penn Station ausstieg, ging ich zuallererst in eine Telefonkabine. Ich hatte Lust, irgend jemand anzurufen. Ich ließ die Koffer vor der Kabine stehen, um sie im Auge zu behalten, aber sobald ich drinnen war, fiel mir kein Mensch ein, mit dem ich hätte telefonieren können. Mein Bruder D.B. war in Hollywood. Meine kleine Schwester Phoebe geht immer um neun ins Bett - sie kam also auch nicht in Betracht. Sie selbst hätte zwar nichts dagegen gehabt, wenn sie von mir geweckt worden wäre, aber leider hätte nicht sie das Telefon abgenommen, sondern meine Eltern. Das ging nicht. Dann wollte ich Jane Galaghers Mutter anrufen und fragen, wann Janes Ferien anfingen, aber dann war ich doch nicht in der Stimmung dazu. Außerdem war es schon reichlich spät.
Schließlich dachte ich an das Mädchen, mit dem ich oft ausgegangen war, Sally Hayes, weil ich wußte, daß sie schon Ferien hatte - sie hatte mir einen langen affektierten Brief geschrieben und mich eingeladen, ihr am Heiligen Abend den Baum schmücken zu helfen -, aber ich befürchtete, daß ihre Mutter ans Telefon käme.
Ihre Mutter kannte meine Mutter, und ich konnte mir vorstellen, wie sie sich sofort ein Bein ausreißen würde, um meine Mutter anzurufen, und ihr mitteilen würde, daß ich in New York sei. Ich legte überhaupt keinen großen Wert darauf, mit Mrs. Hayes zu telefonieren. Sie hatte einmal zu Sally gesagt, ich sei haltlos und hätte keine feste Lebensrichtung. Zu guter Letzt fiel mir noch Carl Luce ein, mit dem ich früher in Whooton gewesen war, aber ich hatte ihn nicht besonders gern.
Deshalb rief ich schließlich überhaupt niemand an. Ich kam nach ungefähr zwanzig Minuten wieder aus der Kabine heraus, nahm meine Koffer und ging zu den Taxis hinüber.
Ich bin so verdammt zerstreut, daß ich dem Fahrer aus lauter Gewohnheit meine richtige Adresse gab - ich vergaß vollständig, daß ich ein paar Tage lang in einem Hotel absteigen wollte, bis die Ferien anfingen. Es fiel mir erst wieder ein, als wir schon halb durch den Central Park gefahren waren. Ich rief: »He, könnten Sie wohl bei der nächsten Gelegenheit umkehren? Ich wollte in die Stadt hinein.«
Der Fahrer antwortete ziemlich frech: »Hier kann ich nicht umkehren, Mac. Einbahn. Ich muß bis zur Nineteenth Street fahren.«
Ich wollte keine Diskussion. »Schön«, sagte ich. Dann kam mir plötzlich ein anderer Einfall.
»Kennen Sie die Enten in dem See beim Central Park South?« fragte ich. »In dem kleinen See? Wissen Sie zufällig, wo die Enten hinkommen, wenn der See zugefroren ist?« Ich wußte, daß die Chance, er könne es wissen, eins zu einer Million stand.
Er drehte sich um und warf mir einen Blick zu, als ob ich wahnsinnig wäre. »Was soll denn das bedeuten?« fragte er. »Wollen Sie mich zum Narren halten?«
»Nein, es hätte mich nur interessiert.«
Er gab keine Antwort mehr. Ich schwieg ebenfalls, bis wir an der Nineteenth Street aus dem Park kamen. Dann sagte er: »So, wohin jetzt?«
»Wissen Sie, ich möchte in keinem Hotel hier herum absteigen, weil ich da auf Bekannte stoßen könnte. Ich reise inkognito«, sagte ich. Solche Ausdrücke wie »inkognito reisen« sind mir zwar verhaßt, aber wenn ich mit einem groben Menschen zu tun habe, benehme ich mich entsprechend.
»Sie wissen nicht zufällig, welche Band im Taft oder im New Yorker spielt?«
»Keine Ahnung, Mac.«
»Nun, dann fahren Sie mich einfach zum Edmont. Wollen Sie unterwegs irgendwo halten und einen Cocktail mit mir trinken? Meine Einladung. Ich bin gut bei Kasse.«
»Das geht nicht, Mac. Tut mir leid.« Er war eine höchst angenehme Gesellschaft, wahrhaftig. Eine ausgeprägte Persönlichkeit. Wir kamen am Hotel Edmont an, und ich stieg aus. Im Taxi hatte ich meine rote Jagdmütze aufgesetzt, einfach zum Spaß, aber bevor ich ins Hotel ging, nahm ich sie doch wieder ab. Ich wollte nicht so zweifelhaft aussehen. Mein Gott, war ich naiv!
Ich wußte damals noch nicht, daß dieses verdammte Hotel voll von perversen und zweifelhaften Leuten war.
Sie gaben mir dieses miese Zimmer mit Aussicht auf die andere Seite des Hotels. Es war mir ziemlich gleichgültig. Ich war zu deprimiert, um mir etwas aus der Aussicht zu machen.
Der Pförtner, der mich hinaufführte, war dieser alte Kerl von ungefähr fünfundsechzig. Er war noch viel deprimierender als das Zimmer. Er hatte sich alle Haare von der Seite über die Glatze gekämmt, um sie zu verdecken. Ich wäre lieber kahl, als mich so zu frisieren. Den Leuten die Koffer zu schleppen und auf Trinkgeld zu warten, ist nicht gerade eine fabelhafte Tätigkeit für einen Mann von fünfundsechzig Jahren. Er schien mir zwar nicht sehr intelligent zu sein, aber ich fand es trotzdem schrecklich.
Als er fortgegangen war, schaute ich eine Weile lang im Mantel aus dem Fenster. Ich hatte nichts anderes zu tun. Es war sehenswert, was auf der anderen Seite des Hotels vor sich ging.
Die Leute machten nicht einmal die Läden zu. Ein grauhaariger, sehr distinguiert aussehender Mann in Unterhosen führte sich so auf, daß man mir kaum glauben wird, wenn ich es erzähle.
Zuerst stellte er seinen Koffer auf das Bett. Dann packte er lauter Frauensachen aus und zog sie an. Seidenstrümpfe, Schuhe mit hohen Absätzen, Büstenhalter und ein Korsett mit Strumpfbändern. Dann zog er ein enges schwarzes Abendkleid an. Dann ging er mit kleinen Schritten wie eine Frau im Zimmer auf und ab, rauchte eine Zigarette und betrachtete sich im Spiegel. Ganz für sich allein. Vielleicht war jemand im Badezimmer, aber das konnte ich nicht sehen. Durch das Fenster über seinem Zimmer, im oberen Stock, sah ich einen Mann und eine Frau, die sich gegenseitig mit Wasser anspuckten.
Vermutlich war es nicht Wasser, sondern irgendein Getränk, aber ich konnte nicht erkennen, was sie in ihren Gläsern hatten.
Jedenfalls nahm immer er zuerst einen Schluck und bespritzte sie damit, und dann tat sie dasselbe, Herr im Himmel. Sie machten es abwechselnd, das hätte man sehen müssen. Sie lachten wie besessen, als hätten sie noch nie so etwas Komisches erlebt. Ich übertreibe nicht, das Hotel wimmelte von Perversen. Ich war wohl der einzige normale Esel im ganzen Haus, und das heißt nicht viel. Ich hätte Stradlater beinahe ein Telegramm geschickt, daß er den ersten Zug nach New York nehmen solle. Er wäre der König dieses Hotels gewesen.
Leider wird man von solchem Zeug fasziniert, ob man will oder nicht. Diese junge Frau zum Beispiel, die sich Wasser ins Gesicht spucken ließ, war eigentlich sehr hübsch. Das ist eben meine große Schwäche. In meiner Phantasie bin ich wohl von einer wahren sexuellen Besessenheit. Manchmal kann ich von allem möglichen Zeug denken, daß ich es gern tun würde, wenn ich Gelegenheit dazu hätte. Ich verstehe sogar, daß es in einer verrückten Art sehr amüsant sein könnte - wenn beide mehr oder weniger betrunken und so weiter sind -, sich mit einem Mädchen gegenseitig Wasser ins Gesicht zu spucken. Aber sympathisch ist mir diese Vorstellung nicht. Sobald man sie analysiert, ist etwas faul daran. Ich finde, wenn man ein Mädchen nicht wirklich gern hat, sollte man überhaupt keinen Blödsinn mit ihr machen; wenn man sie aber gern hat, sollte man auch ihr Gesicht gern haben, und wenn man ihr Gesicht gern hat, sollte man nichts Blödsinniges damit tun, wie zum Beispiel, daß man sie mit Wasser anspuckt. Es ist wirklich schlimm, daß so verrücktes Zeug manchmal soviel Vergnügen machen kann.
Von den Mädchen selbst ist auch keine große Hilfe zu erhoffen, wenn man versucht, sich nicht zu verrückt aufzuführen, wenn man versucht, irgend etwas Gutes nicht zu verderben. Vor ein paar Jahren kannte ich ein Mädchen, das sogar noch verdrehter war als ich. Und wie verdreht! Eine Weile unterhielten wir uns zwar großartig auf diese Weise. Das sexuelle Gebiet ist etwas, das ich nicht richtig verstehe. Man weiß nie, wo zum Teufel man eigentlich steht. Ich stelle mir fortwährend Gesetze auf, und dann verstoße ich sofort wieder dagegen. Letztes Jahr nahm ich mir vor, keinen Blödsinn mehr mit Mädchen zu machen, die ich im Grund nicht gern hatte. Aber dann verstieß ich in derselben Woche dagegen, in der ich den Vorsatz gefaßt hatte - sogar noch am gleichen Tag. Ich gab mich den ganzen Abend mit einer dummen Gans namens Anne Louise Sherman ab. Von Sex verstehe ich einfach nichts, im Ernst, nichts.
Während ich am Fenster stand, spielte ich mit dem Plan, Jane anzutelefonieren - das heißt ein Ferngespräch nach B. M. anzumelden, anstatt ihre Mutter zu fragen, wann sie heimkäme.
Eigentlich durfte man in den Schulen nicht spät abends anrufen, aber ich hatte mir alles schon ausgedacht. Ich wollte einfach sagen, daß ich ihr Onkel wäre, wenn irgend jemand ans Telefon kam. Ich wollte sagen, ihre Tante sei bei einem Autounglück umgekommen, und ich müsse sofort mit Jane sprechen.
Das hätte sicher funktioniert. Ich tat es dann nur deshalb nicht, weil ich nicht in der richtigen Stimmung war. Wenn man nicht entsprechend aufgelegt ist, kann man so etwas nicht durchführen.
Nach einiger Zeit setzte ich mich hin und rauchte einige Zigaretten. Es war mir ziemlich nach Weibern zumut, muß ich gestehen. Plötzlich kam mir ein neuer Einfall. Ich suchte in meiner Brieftasche nach der Adresse, die mir ein Student von Princeton im letzten Sommer gegeben hatte, als ich ihm bei einer Einladung begegnet war. Endlich fand ich sie. Der Zettel war von meiner Brieftasche ganz verfärbt, aber man konnte ihn noch lesen. Dieser Bursche von Princeton hatte damals gesagt, das sei die Adresse von einer, die es nicht gerade berufsmäßig mache, aber doch gelegentlich nicht abgeneigt sei. Er hatte sie einmal zu einem Ball in Princeton mitgenommen und war deshalb fast geflogen. Sie hatte früher mal in Varietes gestrippt oder so. Ich ging also zum Telefon und läutete bei ihr an. Sie hieß Faith Cavendish und wohnte im Stanford Arms Hotel.
Sicher eine Bumsbude.
Zuerst dachte ich, sie sei nicht zu Hause. Niemand meldete sich. Dann nahm endlich jemand den Hörer ab.
»Hallo?« sagte sie. Ich machte eine sehr tiefe Stimme, so daß man mein Alter nicht erraten konnte.
Meine Stimme ist ohnedies ziemlich tief.
»Hallo«, antwortete ein weibliches Wesen, nicht übermäßig freundlich.
»Ist da Miss Faith Cavendish?«
»Wer ist am Telefon?« fragte sie. »Wer ruft mich um diese verfluchte Zeit an?«
Das jagte mir einen leisen Schrecken ein. »Ich weiß, es ist ziemlich spät«, sagte ich mit meiner männlichsten Stimme. »Bitte entschuldigen Sie, aber es lag mir sehr daran, mich mit Ihnen in Verbindung zu setzen.« Das sagte ich sehr weltmännisch, tatsächlich.
»Wer ist am Apparat?«
»Ach, Sie kennen mich nicht, aber ich bin ein Freund von Eddie Birdsell. Er sagte, wenn ich einmal in New York wäre, sollten wir uns für einen Cocktail treffen.«
»Wer? Mit wem sind Sie befreundet?« Großer Gott, sie benahm sich am Telefon wie eine Wilde.
Sie schrie mich sozusagen an.
»Mit Edmund Birdsell. Eddie Birdsell«, sagte ich. Ich konnte mich nicht erinnern, ob er Edmund oder Edward hieß. Ich hatte ihn nur ein einziges Mal in so einer blöden Gesellschaft getroffen.
»Ich kenne niemand, der so heißt, Jack. Und falls Sie meinen, ich ließe mich gern mitten in der Nacht wecken -«
»Eddie Birdsell? Von Princeton?« sagte ich.
Offenbar drehte sie den Namen in ihrem Gedächtnis hin und her.
»Birdsell, Birdsell... Von Princeton... Princeton College?«
»Ja«, sagte ich.
»Sind Sie auch von Princeton?«
»Ja, so ungefähr.«
»So... und wie geht es Eddie?« fragte sie. »Eine sonderbare Zeit, jemand anzurufen, Herr im Himmel.«
»Es geht ihm glänzend. Er läßt Sie grüßen.«
»Danke. Grüßen Sie ihn auch von mir. Er ist ein feiner Kerl. Was macht er jetzt?« Plötzlich wurde sie ausnehmend freundlich.
»Ach, Sie wissen ja. Immer das gleiche«, sagte ich. Wie zum Teufel sollte ich wissen, was er machte? Ich kannte ihn ja kaum.
Ich wußte nicht einmal, ob er noch in Princeton war. »Sagen Sie, hätten Sie wohl Lust, irgendwo einen Cocktail mit mir zu trinken?«
»Wissen Sie vielleicht zufällig, wieviel Uhr es ist?« sagte sie. »Wie heißen Sie überhaupt, wenn ich fragen darf? Sie scheinen noch ziemlich jung zu sein.«
Ich lachte. »Danke für das Kompliment«, sagte ich wieder sehr weltmännisch. »Ich heiße Holden Caulfield.« Ich hätte einen falschen Namen angeben sollen, aber es fiel mir keiner ein.
»Schön, Mr. Cawffle, aber ich habe nicht die Gewohnheit, mitten in der Nacht Verabredungen zu treffen. Ich hin berufstätig.«
»Morgen ist Sonntag«, sagte ich.
»Ja, aber trotzdem. Ich muß meinen Schönheitsschlaf haben.«
»Ich dachte, wir könnten rasch einen Cocktail zusammen trinken. Es ist noch nicht zu spät dafür.«
»Sehr liebenswürdig«, sagte sie. »Von wo rufen Sie an? Wo sind Sie?«
»Ich? In einer Telefonkabine.«
»Ah.« Darauf folgte eine lange Pause. »Ich würde Sie furchtbar gern einmal treffen, Mr. Cawffle. Sie machen einen sehr gewinnenden Eindruck. Sicher sind Sie sehr sympathisch. Aber es ist tatsächlich schon spät.«
»Ich könnte zu Ihnen kommen.«
»Ja, das wäre sicher nett gewesen, ich meine, ich würde mich freuen, wenn Sie für einen Cocktail hätten hereinschauen können, aber meine Wohnpartnerin ist zufällig krank. Sie hat schon die ganze Nacht nicht schlafen können. Erst jetzt gerade ist sie eingeschlafen.«
»Ach, das ist wirklich schade.«
»Wo wohnen Sie? Vielleicht können wir uns morgen zum Cocktail verabreden.«
»Morgen geht es nicht«, sagte ich. »Heute abend ist für mich die einzige Möglichkeit.« Ich war ein Esel. Das hätte ich nicht sagen sollen.
»Oh. Ja, dann tut es mir sehr leid.«
»Ich werde Eddie von Ihnen grüßen.«
»Wollen Sie ihm das ausrichten? Hoffentlich verbringen Sie schöne Tage in New York. Fabelhafte Stadt.«
»Ja, das stimmt. Danke. Gute Nacht«, sagte ich. Dann hängte ich ein.
Junge, das war mir gründlich danebengegangen. Ich hätte wenigstens einen Cocktail oder so etwas abmachen sollen.