3. Kapitel
Ich bin der größte Lügner, den man sich denken
kann.
Schrecklich. Sogar, wenn ich unterwegs bin, um mir ein Magazin zu kaufen, und mich jemand fragt, wohin ich gehe, bin ich imstande, zu antworten, ich ginge in die Oper. Fürchterlich.
Als ich Spencer sagte, ich müßte in der Turnhalle meine Habseligkeiten holen, war das auch eine reine Lüge. Ich habe meine verdammten Sachen überhaupt nie in der Turnhalle aufbewahrt.
In Pencey wohnte ich im Ossenburger-Gedächtnis-Flügel, wo die neuen Schlafräume sind. Dieser Flügel war nur für Junioren und Senioren. Ich war ein Junior und mein Zimmergenosse ein Senior.
Der Flügel war nach einem ehemaligen Schüler namens Ossenburger benannt. Er wurde steinreich, nachdem er von Pencey fortging. Er gründete ein Begräbnisinstitut - mit Filialen in ganz Amerika -, das den Leuten ermöglichte, ihre Angehörigen für ungefähr fünf Dollar pro Stück zu bestatten.
Man muß diesen Ossenburger gesehen haben, um sich das vorzustellen. Vermutlich steckt er sie in einen Sack und wirft sie ins Wasser. Immerhin stiftete er Pencey also einen Haufen Geld, und dafür wurde unser Flügel nach ihm benannt. Zum ersten Fußballmatch des Jahres erschien er in einem kolossalen Cadillac, und wir mußten auf der Tribüne alle aufstehen und Hurra brüllen. Am nächsten Morgen hielt er dann in der Kapelle eine ungefähr zehnstündige Rede. Er begann mit ungefähr fünfzig blöden Witzen, um uns zu zeigen, was für ein rechter Kerl er sei. Überwältigend.
Dann erzählte er uns, daß er sich nie schäme, wenn er in Schwierigkeiten oder so stecke, sich hinzuknien und zu Gott zu beten. Er sagte, wir sollten auch immer zu Gott beten - einfach mit ihm sprechen und so -, wo immer wir uns befänden. Er sagte, wir müßten uns Jesus als unseren Kumpel vorstellen und so. Er selbst spreche die ganze Zeit mit Christus, behauptete er.
Sogar wenn er am Lenkrad sitze. Das gab mir den Rest. Ich kann mir diesen dicken Schwindler vorstellen, wie er in den ersten Gang schaltet und Christus bittet, ihm noch ein paar Leichname zu schicken. Das eigentlich Gute kam aber erst in der Mitte der Rede. Ossenburger erzählte uns gerade, was für ein toller Kerl er sei, was für ein Draufgänger und so, da ließ dieser Kerl, der in der Reihe vor mir saß, dieser Edgar Marsalla, diesen grandiosen Furz los. Das war natürlich unanständig in der Kapelle und so, aber es war auch ganz lustig. Der gute Marsalla. Das Dach flog fast in die Luft. Fast keiner wagte, laut zu lachen, und der alte Ossenburger tat so, als habe er's gar nicht gehört, aber Thurmer, der Rektor, der neben Ossenburger auf dem Podium saß, dem konnte man ansehen, daß er's gehört hatte, Junge, der war vielleicht verbittert. Im Augenblick sagte er nichts, aber am nächsten Abend ließ er uns im Schulgebäude nachsitzen und hielt uns eine Rede. Er sagte, der Junge, der in der Kapelle die Störung verursacht habe, sei nicht würdig, in Pencey zu bleiben. Wir versuchten, den guten Marsalla dazu zu kriegen, noch mal einen direkt in Thurmers Rede fliegen zu lassen, aber er hatte gerade keinen auf der Latte.
Also, ich wohnte im Ossenburger-Gedächtnis-Flügel. Ich freute mich auf mein Zimmer, als ich vom alten Spencer zurückkam, denn die andern waren alle noch beim Fußballmatch, und ausnahmsweise war das Zimmer geheizt. Ich fand es richtig gemütlich. Ich zog meinen Mantel und die Krawatte aus und machte den Hemdkragen auf, und dann setzte ich die Mütze auf, die ich morgens in New York gekauft hatte.
Es war eine rote Jagdmütze mit langem Schild. Ich hatte sie in einem Sportgeschäft im Schaufenster gesehen, als wir aus der Untergrundbahn kamen - gerade nachdem ich entdeckte, daß ich die verfluchten Floretts hatte liegenlassen. Die Mütze kostete nur einen Dollar. Ich setzte sie verkehrt herum auf - mit dem Schild im Nacken -, idiotisch, das gebe ich zu, aber es gefiel mir am besten so. Ich sah gut darin aus. Dann nahm ich das Buch, das ich angefangen hatte, und setzte mich in meinen Sessel. In jedem Zimmer waren zwei Sessel. Jeder von uns hatte einen, mein Zimmergenosse Ward Stradlater und ich. Die Armlehnen waren in traurigem Zustand, weil sich immer alle draufsetzten, aber es waren trotzdem ganz bequeme Sessel.
Das Buch, in dem ich gerade las, hatte ich in der Bibliothek aus Versehen bekommen. Man hatte mir die falsche Nummer gegeben, und ich merkte es erst, als ich schon wieder in meinem Zimmer war.
Es hieß Out of Afrika, von Isak Diesen. Zuerst dachte ich, es wäre zum Sterben langweilig, aber das war ein Irrtum. Es war ein sehr gutes Buch. Ich bin ganz ungebildet, aber ich lese sehr viel. Mein Lieblingsautor ist mein Bruder D.B., und dann kommt Ring Lardner. Mein Bruder schenkte mir ein Buch von Ring Lardner zum Geburtstag, gerade bevor ich nach Pencey kam. Es waren furchtbar komische, verrückte Theaterstücke darin und die Geschichte von einem Verkehrspolizisten, der sich in ein tolles Mädchen verliebt, die immer rasend schnell fährt.
Aber der Polizist ist verheiratet, so daß er sie nicht heiraten kann. Dann kommt das Mädchen um, weil es immer so schnell fährt. Die Geschichte hat mich umgeworfen. Am liebsten lese ich Bücher, in denen wenigstens von Zeit zu Zeit komische Stellen sind. Ich lese auch viel klassische Bücher, Psychokrimis wie Des Wilden Wiederkehr und Kriegsbücher und so, aber sie machen mir keinen besonders tiefen Eindruck.
Am meisten halte ich davon, wenn man nach einem Buch ganz erledigt ist und sich wünscht, daß man mit dem Autor, der es geschrieben hat, nah befreundet wäre und daß man ihn antelefonieren könnte, wenn man dazu Lust hätte. Das kommt allerdings nicht oft vor. Ich hätte nichts dagegen, Isak Diesen anzurufen. Und auch Ring Lardner, wenn mir D.B. nicht gesagt hätte, daß er gestorben ist. Zum Beispiel so ein Buch wie Des Menschen Hörigkeit von Somerset Maugham - das habe ich letzten Sommer gelesen. Es ist sicher ein gutes Buch und so, aber ich hätte keine Lust, Somerset Maugham anzurufen. Ich weiß nicht. Er ist einfach nicht der Typ, den ich gerne anrufen würde. Viel lieber den alten Thomas Hardy. Eustacia Vye gefällt nur sehr gut.
Ich setzte also meine neue Mütze auf und fing an, Out of Afrika zu lesen. Ich hatte das Buch schon gelesen, aber ich wollte ein paar Stellen noch einmal lesen. Ich hatte erst ungefähr drei Seiten hinter mir, als ich jemand durch die Vorhänge vom Duschraum kommen hörte. Auch ohne hinzusehen, wußte ich sofort, wer es war. Es war Robert Ackley, der im Zimmer neben uns wohnte. In unserem Flügel war immer zwischen zwei Zimmern ein Duschraum, und ungefähr fünfundachtzigmal im Tag platzte dieser Ackley herein. Außer mir war er wohl der einzige von allen in unserem Flügel, der nicht beim Fußballmatch war. Er machte fast nie bei etwas mit. Ein komischer Kerl. Er war ein Senior und war seit vier Jahren in Pencey, aber niemand nannte ihn anders als »Ackley«. Nicht einmal Herb Gale, der das Zimmer mit ihm teilte, nannte ihn »Bob« oder auch nur »Ack«. Falls er jemals heiratet, nennt ihn vermutlich auch seine eigene Frau »Ackley«. Er war sehr groß - ungefähr 1,93 -, mit hängenden Schultern und schlechten Zähnen. In der ganzen Zeit dort habe ich nie gesehen, daß er sich die Zähne geputzt hätte. Sie sahen immer moosig und gräßlich aus, und es konnte einem schlecht werden, wenn er beim Essen den ganzen Mund voll Kartoffelbrei oder Erbsen oder was weiß ich hatte. Außerdem war er mit Pickeln bedeckt.
Nicht nur auf der Stirn oder auf dem Kinn wie die meisten andern, sondern über das ganze Gesicht. Und nicht nur das, er war überhaupt ein ekelhafter Charakter, irgendwie schmierig.
Ich schwärmte nicht gerade für ihn, ehrlich gesagt.
Ich fühlte, daß er hinter meinem Stuhl stand und herumschaute, ob Stradlater da sei. Er konnte Stradlater nicht ausstehen und kam nie ins Zimmer, wenn Stradlater da war. Er konnte so ziemlich niemand ausstehen.
Dann kam er näher. »Hi«, sagte er. Er sagte das immer in einem Ton, als ob er furchtbar gelangweilt oder furchtbar müde wäre. Er wollte nie, daß man dächte, er statte einen Besuch ab.
Man sollte meinen, er sei nur aus Versehen hereingekommen, um Himmels willen.
»Hi«, sagte ich, ohne von meinem Buch aufzusehen. Bei einem solchen Kerl wie Ackley war man verloren, wenn man vom Buch aufsah. Man war ohnedies verloren, aber wenigstens nicht so von Anfang an, wenn man sich tot stellte.
Er schlenderte langsam im Zimmer herum und so. Das machte er jedesmal so und befingerte dabei alle möglichen persönlichen Sachen auf meinem Tisch oder auf der Kommode. Das machte er immer: die persönlichsten Sachen anfassen und beglotzen.
Junge, der konnte einem manchmal ziemlich auf die Nerven gehen. »Wie ging's mit dem Fechten?« fragte er. Er wollte einfach meinen Frieden stören. Das Fechten war ihm ganz gleichgültig. »Haben wir gewonnen, oder was?« fragte er.
»Niemand hat gewonnen«, sagte ich, ohne aufzusehen.
»Was?« fragte er. Er zwang einen immer, alles zweimal zu sagen.
»Niemand hat gewonnen«, sagte ich. Dabei schaute ich schnell hin, um zu sehen, an was er auf meiner Kommode herummachte. Er glotzte das Bild von dem Mädchen an, mit dem ich in New York oft ausgegangen war, Sally Hayes. Seit ich das Bild habe, muß er es mindestens fünftausendmal in die Hand genommen und angeglotzt haben. Und jedesmal stellte er es dann an den falschen Ort zurück. Er machte das absichtlich.
Das merkte man genau.
»Niemand hat gewonnen!« sagte er. »Wieso?«
»Ich habe die verdammten Floretts und alles übrige in der Untergrundbahn liegenlassen.« Ich schaute immer noch in mein Buch.
»In der Untergrundbahn, Herr im Himmel! Verloren sagst du?«
»Wir waren im falschen Zug. Ich mußte die ganze Zeit aufstehn und auf dem verfluchten Stadtplan an der Wand nachsehn.«
Er kam zu mir herüber und stellte sich mir ins Licht. »He«, sagte ich. »Seit du da bist, lese ich schon zum zwanzigstenmal den gleichen Satz.«
Jeder andere hätte diesen verdammten Wink verstanden. Aber Ackley durchaus nicht. »Meinst du, du mußt die Sachen ersetzen?« fragte er.
»Weiß ich nicht, ist mir auch gleichgültig. Wie wär's, wenn du dich setzen würdest oder so, Kleiner? Du stehst mir verdammt im Licht.« Er hörte nicht gern, wenn ich Kleiner sagte. Er behauptete immer, ich sei ein verdammtes Kind, weil ich sechzehn war und er achtzehn. Es machte ihn verrückt, wenn ich ihn Kleiner nannte.
Er blieb ruhig stehen. Das sah ihm ähnlich, keinen Schritt weiter zu gehen, wenn man ihm sagte, er stehe einem im Licht.
Schließlich tat er es dann doch, aber wenn man ihn darum gebeten hatte, dauerte es viel länger. »Was zum Teufel liest du da?« fragte er.
»Ein verdammtes Buch.«
Er hob das Buch auf, um den Titel zu lesen. »Gut?« fragte er.
»Dieser Satz, den ich gerade lese, ist toll.« Ich kann auch sarkastisch sein, wenn ich in der Stimmung bin. Er merkte es aber nicht. Er schlenderte wieder im Zimmer umher und befingerte meine und Stradlaters Sachen. Schließlich legte ich das Buch auf den Boden. Man konnte mit so einem Menschen in der Nähe nichts lesen. Unmöglich.
Ich setzte mich tief in den Sessel, bis ich beinah lag, und sah Ackley zu, wie er sich häuslich einrichtete. Ich war müde von der Fahrt nach New York und allem und fing an zu gähnen.
Dann fing ich an Theater zu spielen. Das tue ich oft aus Langeweile. Ich drehte meine Mütze um, so daß sie richtig saß, und zog mir den Schirm tief über die Augen. Auf diese Weise konnte ich nichts mehr sehen. »Ich glaube, ich werde blind«, sagte ich mit gepreßter Stimme. »Liebste Mutter, alles wird so dunkel.«
»Du spinnst, Gott sei's geklagt«, sagte Ackley.
»Liebste Mutter, gib mir deine Hand. Warum willst du mir die Hand nicht geben?«
»Um Himmels willen, benimm dich doch wie ein normaler Mensch.«
Ich tastete herum wie ein Blinder, aber ohne aufzustehen. Ich sagte immer wieder: »Liebste Mutter, warum gibst du mir nicht die Hand?« Natürlich war alles nur Blödsinn. Manchmal macht mir das Spaß. Außerdem wußte ich, daß es diesen Ackley wahnsinnig ärgerte. Er machte immer einen Sadisten aus mir.
Ich benahm mich oft sadistisch, wenn er da war. Aber endlich hörte ich doch damit auf. Ich schob mir den Mützenschirm wieder ins Genick und hielt mich still.
»Wem gehört das?« fragte Ackley. Er hielt Stradlaters Kniebandage in die Höhe. Dieser Ackley nahm alles in die Finger, was er nur erwischte. Der würde sogar einen Unterleibsschützer in die Finger nehmen. Ich antwortete, es gehöre Stradlater. Daraufhin warf er das Zeug auf Stradlaters Bett. Er hatte es auf Stradlaters Kommode gefunden und warf es deshalb aufs Bett.
Dann kam er wieder her und setzte sich auf die Armlehne von Stradlaters Sessel. Immer auf die Armlehne. »Wo zum Kuckuck hast du das her?« fragte er.
»New York.«
»Wieviel?«
»Einen Dollar.«
»Schandpreis.« Er fing an, sich mit einem Streichholzende seine blöden Nägel zu säubern. Er putzte sich fortwährend die Nägel. Eigentlich komisch. Seine Zähne sahen immer ganz bemoost aus, und seine Ohren waren widerwärtig schmutzig, aber die Nägel putzte er sich fortwährend.
Wahrscheinlich hielt er das für ausreichend, um äußerst gepflegt zu wirken. Dazwischen wart er wieder einen Blick auf meine Mütze. »Zu Hause tragen wir solche Mützen für die Jagd«, sagte er. »Das ist eine Jagdmütze.«
»Allerdings.« Ich nahm sie ab und betrachtete sie. Ich kniff ein Auge zu, als ob ich auf die Mütze zielte. »Das ist eine Menschenjagdmütze«, sagte ich. »Ich trage sie zur Menschenjagd.«
»Wissen deine Alten schon, daß man dich hinausgeworfen hat?«
»Nein.«
»Wo zum Teufel ist Stradlater überhaupt?«
»Beim Match. Hat ein Rendezvous.« Ich gähnte. Ich gähnte die ganze Zeit. Es war viel zu heiß im Zimmer. Das machte einen schläfrig. In Pencey fror man sich entweder zu Tode oder starb vor Hitze.
»Der große Stradlater«, sagte Ackley. »He, leih mir deine Schere einen Augenblick. Hast du sie in Reichweite?«
»Nein. Schon eingepackt. Zuoberst im Schrank.«
»Gib sie mir, sei so gut. Ich muß mir diesen eingerissenen Nagel abschneiden.« Es war ihm gleichgültig, ob man etwas schon eingepackt hatte oder nicht und ob es zuoberst im Schrank war. Ich holte ihm die Schere trotzdem. Dabei wurde ich fast erschlagen. Als ich den Schrank aufmachte, fiel mir Stradlaters Tennisracket samt dem Holzrahmen auf den Kopf. Es krachte laut und tat höllisch weh.
Auch Ackley wäre beinah ums Leben gekommen. Er stimmte mit seiner Falsettstimme ein Gelächter an und lachte die ganze Zeit weiter, während ich meinen Handkoffer herunterholte und die Schere für ihn auspackte. Solche Vorfälle - daß jemandem ein Felsstück oder was weiß ich auf den Kopf fiel - fand er zum Bersten komisch. »Du hast einen prächtigen Sinn für Humor, Kind«, sagte ich. »Weißt du das?« Dabei gab ich ihm die Schere.
»Engagier mich als Manager. Ich kann dich am Radio unterbringen.« Ich setzte mich wieder hin, und er schnitt sich seine dicken, hornigen Nägel. »Wie wär's, wenn du das am Tisch machen würdest?« sagte ich. »Schneid sie dir am Tisch, könntest du das wohl? Ich habe keine Lust, heute abend mit bloßen Füßen auf deinen abgeschnittenen Nägeln herumzugehen.« Er schnitt sie trotzdem über dem Fußboden weiter.
Sehr schlechte Manieren nenne ich so etwas.
»Mit wem hat Stradlater ein Rendezvous?« fragte er. Er platzte immer vor Neugier, mit wem sich Stradlater verabredet habe, obwohl er ihn nicht riechen konnte.
»Weiß ich nicht. Warum?«
»Darum. Großer Gott, ich kann diesen Idioten nicht ausstehen. So ein blödes Kamel.«
»Er schwärmt für dich. Er hat mir gesagt, er halte dich für einen Prinzen«, sagte ich. Ich nenne die Leute oft Prinzen, wenn ich in der Laune bin. So aus Langeweile.
»Er führt sich immer so von oben herab auf«, sagte Ackley. »Ich kann ihn einfach nicht riechen. Man könnte meinen, daß er-«
»Hättest du etwas dagegen, dir die Nägel über dem Tisch zu schneiden, he?« sagte ich. »Ich sag es zum fünfzigsten -«
»Er führt sich die ganze Zeit so überheblich auf«, sagte Ackley. »Dabei glaube ich nicht einmal, daß er intelligent ist. Er selber meint es natürlich. Er meint, er sei der aller-«
»Ackley, verdammt noch mal! Schneid dir deine verdammten Nägel über dem Tisch! Ich hab es schon fünfzigmal gesagt.«
Zur Abwechslung begab er sich tatsächlich an den Tisch. Ihn anzubrüllen war die einzige Art, ihn zu etwas zu bringen.
Ich sah ihm eine Weile lang zu. Dann sagte ich: »Du hast nur deshalb eine Wut auf Stradlater, weil er gesagt hat, du solltest dir von Zeit zu Zeit die Zähne putzen. Er hat das nicht als Beleidigung gemeint. Er hat es zwar nicht gerade höflich gesagt, aber beleidigen wollte er dich nicht. Er meinte nur, du würdest besser aussehen und dich selber wohler fühlen, wenn du dir von Zeit zu Zeit die Zähne putzen würdest.«
»Ich putze sie ja. Red keinen Mist.«
»Nein, nie. Ich seh dir schon lange zu, und du putzt sie nie.«
Das sagte ich aber nicht unfreundlich.
Irgendwie tat er mir leid. Natürlich ist es nicht besonders angenehm, wenn man zu hören bekommt, daß man sich die Zähne nicht putze. »Man kann nichts gegen Stradlater sagen. Er ist gar nicht so übel«, sagte ich. »Du kennst ihn nur nicht.«
»Ich finde trotzdem, daß er ein gemeines Schwein ist. Ein eingebildeter Idiot.«
»Eingebildet ist er, aber in vielem ist er auch sehr großzügig. Im Ernst«, sagte ich. »Nimm zum Beispiel an, Stradlater hätte eine Krawatte oder was, die dir gefällt. Eine, die dir ganz besonders gut gefällt, meine ich - nur als Beispiel. Weißt du, was er täte? Höchstwahrscheinlich würde er sie abnehmen und sie dir geben. Oder er würde sie auf dein Bett legen oder so. Jedenfalls würde er dir die Krawatte schenken. Die meisten andern würden nur-«
»Zum Teufel«, sagte Ackley. »Wenn ich so reich wäre wie er, täte ich das auch.«
»Nein, du nicht.« Ich schüttelte den Kopf. »Du nicht, Kleiner. Wenn du soviel Geld hättest, wärst du der größte -«
»Hör auf mit dem Kleiner. Verdammt noch mal. Ich bin alt genug, um dein blöder Vater zu sein.«
»Das sicher nicht.« Er konnte einem wirklich manchmal auf die Nerven gehen. Er betonte bei jeder Gelegenheit, daß ich sechzehn war und er achtzehn. »Erstens einmal würde ich dich überhaupt nicht in meine gottverdammte Familie aufnehmen«, sagte ich.
»Schön, aber hör auf mich -«
Plötzlich ging die Tür auf und Stradlater kam in großer Eile herein. Er war immer eilig. Alles bei ihm war immer furchtbar wichtig. Er ging auf mich zu und tätschelte mir die Wangen - eine ekelhafte Gewohnheit. »Hör«, sagte er, »hast du heute abend etwas Besonderes vor?«
»Weiß nicht. Möglich. Wie ist es draußen - schneit es?« Sein Mantel war voll Schnee.
»Ja. Hör, wenn du selber nicht ausgehen willst, könntest du mir deine karierte Jacke leihen?«
»Wer hat gewonnen?« fragte ich.
»Erst Halbzeit. Aber im Ernst, brauchst du die Jacke heut abend oder nicht? Ich hab mir irgend so 'n Zeug über meinen Flanellanzug gegossen.«
»Nein, ich brauch sie nicht, aber ich hab keine Lust, daß du sie mit deinen verdammten Schultern ausweitest.« Wir waren fast gleich groß, aber er war ungefähr doppelt so schwer wie ich und hatte sehr breite Schultern.
»Ich weite sie sicher nicht aus.« Er ging eilig zum Schrank. »Wie geht's, Ackley?« fragte er.
Stradlater war wenigstens immer freundlich. Zum Teil in einer herablassenden Art, aber wenigstens sagte er Ackley immer guten Tag.
Ackley gab nur irgendein Geknurr von sich. Er wollte ihm eigentlich nicht antworten, hatte aber nicht den Mut, überhaupt nichts zu sagen. Dann sagte er zu mir: »So, ich muß gehn. Auf später.«
»O.K.«, sagte ich. Es brach einem nicht unbedingt das Herz, wenn er wieder in sein Zimmer verschwand.
Stradlater zog Jacke und Krawatte und so weiter aus. »Ich muß mich wohl schnell noch rasieren«, sagte er. Er hatte einen ziemlich starken Bartwuchs, wirklich, den hatte er.
»Wo ist dein Mädchen?« fragte ich.
»Sie wartet im Anbau.« Er ging mit seinen Toilettensachen und Handtüchern unterm Arm hinaus.
Ohne Hemd oder so. Er lief immer mit nacktem Oberkörper herum, weil er sich für fabelhaft gut gewachsen hielt. Das stimmt sogar, das muß ich zugeben.
Schrecklich. Sogar, wenn ich unterwegs bin, um mir ein Magazin zu kaufen, und mich jemand fragt, wohin ich gehe, bin ich imstande, zu antworten, ich ginge in die Oper. Fürchterlich.
Als ich Spencer sagte, ich müßte in der Turnhalle meine Habseligkeiten holen, war das auch eine reine Lüge. Ich habe meine verdammten Sachen überhaupt nie in der Turnhalle aufbewahrt.
In Pencey wohnte ich im Ossenburger-Gedächtnis-Flügel, wo die neuen Schlafräume sind. Dieser Flügel war nur für Junioren und Senioren. Ich war ein Junior und mein Zimmergenosse ein Senior.
Der Flügel war nach einem ehemaligen Schüler namens Ossenburger benannt. Er wurde steinreich, nachdem er von Pencey fortging. Er gründete ein Begräbnisinstitut - mit Filialen in ganz Amerika -, das den Leuten ermöglichte, ihre Angehörigen für ungefähr fünf Dollar pro Stück zu bestatten.
Man muß diesen Ossenburger gesehen haben, um sich das vorzustellen. Vermutlich steckt er sie in einen Sack und wirft sie ins Wasser. Immerhin stiftete er Pencey also einen Haufen Geld, und dafür wurde unser Flügel nach ihm benannt. Zum ersten Fußballmatch des Jahres erschien er in einem kolossalen Cadillac, und wir mußten auf der Tribüne alle aufstehen und Hurra brüllen. Am nächsten Morgen hielt er dann in der Kapelle eine ungefähr zehnstündige Rede. Er begann mit ungefähr fünfzig blöden Witzen, um uns zu zeigen, was für ein rechter Kerl er sei. Überwältigend.
Dann erzählte er uns, daß er sich nie schäme, wenn er in Schwierigkeiten oder so stecke, sich hinzuknien und zu Gott zu beten. Er sagte, wir sollten auch immer zu Gott beten - einfach mit ihm sprechen und so -, wo immer wir uns befänden. Er sagte, wir müßten uns Jesus als unseren Kumpel vorstellen und so. Er selbst spreche die ganze Zeit mit Christus, behauptete er.
Sogar wenn er am Lenkrad sitze. Das gab mir den Rest. Ich kann mir diesen dicken Schwindler vorstellen, wie er in den ersten Gang schaltet und Christus bittet, ihm noch ein paar Leichname zu schicken. Das eigentlich Gute kam aber erst in der Mitte der Rede. Ossenburger erzählte uns gerade, was für ein toller Kerl er sei, was für ein Draufgänger und so, da ließ dieser Kerl, der in der Reihe vor mir saß, dieser Edgar Marsalla, diesen grandiosen Furz los. Das war natürlich unanständig in der Kapelle und so, aber es war auch ganz lustig. Der gute Marsalla. Das Dach flog fast in die Luft. Fast keiner wagte, laut zu lachen, und der alte Ossenburger tat so, als habe er's gar nicht gehört, aber Thurmer, der Rektor, der neben Ossenburger auf dem Podium saß, dem konnte man ansehen, daß er's gehört hatte, Junge, der war vielleicht verbittert. Im Augenblick sagte er nichts, aber am nächsten Abend ließ er uns im Schulgebäude nachsitzen und hielt uns eine Rede. Er sagte, der Junge, der in der Kapelle die Störung verursacht habe, sei nicht würdig, in Pencey zu bleiben. Wir versuchten, den guten Marsalla dazu zu kriegen, noch mal einen direkt in Thurmers Rede fliegen zu lassen, aber er hatte gerade keinen auf der Latte.
Also, ich wohnte im Ossenburger-Gedächtnis-Flügel. Ich freute mich auf mein Zimmer, als ich vom alten Spencer zurückkam, denn die andern waren alle noch beim Fußballmatch, und ausnahmsweise war das Zimmer geheizt. Ich fand es richtig gemütlich. Ich zog meinen Mantel und die Krawatte aus und machte den Hemdkragen auf, und dann setzte ich die Mütze auf, die ich morgens in New York gekauft hatte.
Es war eine rote Jagdmütze mit langem Schild. Ich hatte sie in einem Sportgeschäft im Schaufenster gesehen, als wir aus der Untergrundbahn kamen - gerade nachdem ich entdeckte, daß ich die verfluchten Floretts hatte liegenlassen. Die Mütze kostete nur einen Dollar. Ich setzte sie verkehrt herum auf - mit dem Schild im Nacken -, idiotisch, das gebe ich zu, aber es gefiel mir am besten so. Ich sah gut darin aus. Dann nahm ich das Buch, das ich angefangen hatte, und setzte mich in meinen Sessel. In jedem Zimmer waren zwei Sessel. Jeder von uns hatte einen, mein Zimmergenosse Ward Stradlater und ich. Die Armlehnen waren in traurigem Zustand, weil sich immer alle draufsetzten, aber es waren trotzdem ganz bequeme Sessel.
Das Buch, in dem ich gerade las, hatte ich in der Bibliothek aus Versehen bekommen. Man hatte mir die falsche Nummer gegeben, und ich merkte es erst, als ich schon wieder in meinem Zimmer war.
Es hieß Out of Afrika, von Isak Diesen. Zuerst dachte ich, es wäre zum Sterben langweilig, aber das war ein Irrtum. Es war ein sehr gutes Buch. Ich bin ganz ungebildet, aber ich lese sehr viel. Mein Lieblingsautor ist mein Bruder D.B., und dann kommt Ring Lardner. Mein Bruder schenkte mir ein Buch von Ring Lardner zum Geburtstag, gerade bevor ich nach Pencey kam. Es waren furchtbar komische, verrückte Theaterstücke darin und die Geschichte von einem Verkehrspolizisten, der sich in ein tolles Mädchen verliebt, die immer rasend schnell fährt.
Aber der Polizist ist verheiratet, so daß er sie nicht heiraten kann. Dann kommt das Mädchen um, weil es immer so schnell fährt. Die Geschichte hat mich umgeworfen. Am liebsten lese ich Bücher, in denen wenigstens von Zeit zu Zeit komische Stellen sind. Ich lese auch viel klassische Bücher, Psychokrimis wie Des Wilden Wiederkehr und Kriegsbücher und so, aber sie machen mir keinen besonders tiefen Eindruck.
Am meisten halte ich davon, wenn man nach einem Buch ganz erledigt ist und sich wünscht, daß man mit dem Autor, der es geschrieben hat, nah befreundet wäre und daß man ihn antelefonieren könnte, wenn man dazu Lust hätte. Das kommt allerdings nicht oft vor. Ich hätte nichts dagegen, Isak Diesen anzurufen. Und auch Ring Lardner, wenn mir D.B. nicht gesagt hätte, daß er gestorben ist. Zum Beispiel so ein Buch wie Des Menschen Hörigkeit von Somerset Maugham - das habe ich letzten Sommer gelesen. Es ist sicher ein gutes Buch und so, aber ich hätte keine Lust, Somerset Maugham anzurufen. Ich weiß nicht. Er ist einfach nicht der Typ, den ich gerne anrufen würde. Viel lieber den alten Thomas Hardy. Eustacia Vye gefällt nur sehr gut.
Ich setzte also meine neue Mütze auf und fing an, Out of Afrika zu lesen. Ich hatte das Buch schon gelesen, aber ich wollte ein paar Stellen noch einmal lesen. Ich hatte erst ungefähr drei Seiten hinter mir, als ich jemand durch die Vorhänge vom Duschraum kommen hörte. Auch ohne hinzusehen, wußte ich sofort, wer es war. Es war Robert Ackley, der im Zimmer neben uns wohnte. In unserem Flügel war immer zwischen zwei Zimmern ein Duschraum, und ungefähr fünfundachtzigmal im Tag platzte dieser Ackley herein. Außer mir war er wohl der einzige von allen in unserem Flügel, der nicht beim Fußballmatch war. Er machte fast nie bei etwas mit. Ein komischer Kerl. Er war ein Senior und war seit vier Jahren in Pencey, aber niemand nannte ihn anders als »Ackley«. Nicht einmal Herb Gale, der das Zimmer mit ihm teilte, nannte ihn »Bob« oder auch nur »Ack«. Falls er jemals heiratet, nennt ihn vermutlich auch seine eigene Frau »Ackley«. Er war sehr groß - ungefähr 1,93 -, mit hängenden Schultern und schlechten Zähnen. In der ganzen Zeit dort habe ich nie gesehen, daß er sich die Zähne geputzt hätte. Sie sahen immer moosig und gräßlich aus, und es konnte einem schlecht werden, wenn er beim Essen den ganzen Mund voll Kartoffelbrei oder Erbsen oder was weiß ich hatte. Außerdem war er mit Pickeln bedeckt.
Nicht nur auf der Stirn oder auf dem Kinn wie die meisten andern, sondern über das ganze Gesicht. Und nicht nur das, er war überhaupt ein ekelhafter Charakter, irgendwie schmierig.
Ich schwärmte nicht gerade für ihn, ehrlich gesagt.
Ich fühlte, daß er hinter meinem Stuhl stand und herumschaute, ob Stradlater da sei. Er konnte Stradlater nicht ausstehen und kam nie ins Zimmer, wenn Stradlater da war. Er konnte so ziemlich niemand ausstehen.
Dann kam er näher. »Hi«, sagte er. Er sagte das immer in einem Ton, als ob er furchtbar gelangweilt oder furchtbar müde wäre. Er wollte nie, daß man dächte, er statte einen Besuch ab.
Man sollte meinen, er sei nur aus Versehen hereingekommen, um Himmels willen.
»Hi«, sagte ich, ohne von meinem Buch aufzusehen. Bei einem solchen Kerl wie Ackley war man verloren, wenn man vom Buch aufsah. Man war ohnedies verloren, aber wenigstens nicht so von Anfang an, wenn man sich tot stellte.
Er schlenderte langsam im Zimmer herum und so. Das machte er jedesmal so und befingerte dabei alle möglichen persönlichen Sachen auf meinem Tisch oder auf der Kommode. Das machte er immer: die persönlichsten Sachen anfassen und beglotzen.
Junge, der konnte einem manchmal ziemlich auf die Nerven gehen. »Wie ging's mit dem Fechten?« fragte er. Er wollte einfach meinen Frieden stören. Das Fechten war ihm ganz gleichgültig. »Haben wir gewonnen, oder was?« fragte er.
»Niemand hat gewonnen«, sagte ich, ohne aufzusehen.
»Was?« fragte er. Er zwang einen immer, alles zweimal zu sagen.
»Niemand hat gewonnen«, sagte ich. Dabei schaute ich schnell hin, um zu sehen, an was er auf meiner Kommode herummachte. Er glotzte das Bild von dem Mädchen an, mit dem ich in New York oft ausgegangen war, Sally Hayes. Seit ich das Bild habe, muß er es mindestens fünftausendmal in die Hand genommen und angeglotzt haben. Und jedesmal stellte er es dann an den falschen Ort zurück. Er machte das absichtlich.
Das merkte man genau.
»Niemand hat gewonnen!« sagte er. »Wieso?«
»Ich habe die verdammten Floretts und alles übrige in der Untergrundbahn liegenlassen.« Ich schaute immer noch in mein Buch.
»In der Untergrundbahn, Herr im Himmel! Verloren sagst du?«
»Wir waren im falschen Zug. Ich mußte die ganze Zeit aufstehn und auf dem verfluchten Stadtplan an der Wand nachsehn.«
Er kam zu mir herüber und stellte sich mir ins Licht. »He«, sagte ich. »Seit du da bist, lese ich schon zum zwanzigstenmal den gleichen Satz.«
Jeder andere hätte diesen verdammten Wink verstanden. Aber Ackley durchaus nicht. »Meinst du, du mußt die Sachen ersetzen?« fragte er.
»Weiß ich nicht, ist mir auch gleichgültig. Wie wär's, wenn du dich setzen würdest oder so, Kleiner? Du stehst mir verdammt im Licht.« Er hörte nicht gern, wenn ich Kleiner sagte. Er behauptete immer, ich sei ein verdammtes Kind, weil ich sechzehn war und er achtzehn. Es machte ihn verrückt, wenn ich ihn Kleiner nannte.
Er blieb ruhig stehen. Das sah ihm ähnlich, keinen Schritt weiter zu gehen, wenn man ihm sagte, er stehe einem im Licht.
Schließlich tat er es dann doch, aber wenn man ihn darum gebeten hatte, dauerte es viel länger. »Was zum Teufel liest du da?« fragte er.
»Ein verdammtes Buch.«
Er hob das Buch auf, um den Titel zu lesen. »Gut?« fragte er.
»Dieser Satz, den ich gerade lese, ist toll.« Ich kann auch sarkastisch sein, wenn ich in der Stimmung bin. Er merkte es aber nicht. Er schlenderte wieder im Zimmer umher und befingerte meine und Stradlaters Sachen. Schließlich legte ich das Buch auf den Boden. Man konnte mit so einem Menschen in der Nähe nichts lesen. Unmöglich.
Ich setzte mich tief in den Sessel, bis ich beinah lag, und sah Ackley zu, wie er sich häuslich einrichtete. Ich war müde von der Fahrt nach New York und allem und fing an zu gähnen.
Dann fing ich an Theater zu spielen. Das tue ich oft aus Langeweile. Ich drehte meine Mütze um, so daß sie richtig saß, und zog mir den Schirm tief über die Augen. Auf diese Weise konnte ich nichts mehr sehen. »Ich glaube, ich werde blind«, sagte ich mit gepreßter Stimme. »Liebste Mutter, alles wird so dunkel.«
»Du spinnst, Gott sei's geklagt«, sagte Ackley.
»Liebste Mutter, gib mir deine Hand. Warum willst du mir die Hand nicht geben?«
»Um Himmels willen, benimm dich doch wie ein normaler Mensch.«
Ich tastete herum wie ein Blinder, aber ohne aufzustehen. Ich sagte immer wieder: »Liebste Mutter, warum gibst du mir nicht die Hand?« Natürlich war alles nur Blödsinn. Manchmal macht mir das Spaß. Außerdem wußte ich, daß es diesen Ackley wahnsinnig ärgerte. Er machte immer einen Sadisten aus mir.
Ich benahm mich oft sadistisch, wenn er da war. Aber endlich hörte ich doch damit auf. Ich schob mir den Mützenschirm wieder ins Genick und hielt mich still.
»Wem gehört das?« fragte Ackley. Er hielt Stradlaters Kniebandage in die Höhe. Dieser Ackley nahm alles in die Finger, was er nur erwischte. Der würde sogar einen Unterleibsschützer in die Finger nehmen. Ich antwortete, es gehöre Stradlater. Daraufhin warf er das Zeug auf Stradlaters Bett. Er hatte es auf Stradlaters Kommode gefunden und warf es deshalb aufs Bett.
Dann kam er wieder her und setzte sich auf die Armlehne von Stradlaters Sessel. Immer auf die Armlehne. »Wo zum Kuckuck hast du das her?« fragte er.
»New York.«
»Wieviel?«
»Einen Dollar.«
»Schandpreis.« Er fing an, sich mit einem Streichholzende seine blöden Nägel zu säubern. Er putzte sich fortwährend die Nägel. Eigentlich komisch. Seine Zähne sahen immer ganz bemoost aus, und seine Ohren waren widerwärtig schmutzig, aber die Nägel putzte er sich fortwährend.
Wahrscheinlich hielt er das für ausreichend, um äußerst gepflegt zu wirken. Dazwischen wart er wieder einen Blick auf meine Mütze. »Zu Hause tragen wir solche Mützen für die Jagd«, sagte er. »Das ist eine Jagdmütze.«
»Allerdings.« Ich nahm sie ab und betrachtete sie. Ich kniff ein Auge zu, als ob ich auf die Mütze zielte. »Das ist eine Menschenjagdmütze«, sagte ich. »Ich trage sie zur Menschenjagd.«
»Wissen deine Alten schon, daß man dich hinausgeworfen hat?«
»Nein.«
»Wo zum Teufel ist Stradlater überhaupt?«
»Beim Match. Hat ein Rendezvous.« Ich gähnte. Ich gähnte die ganze Zeit. Es war viel zu heiß im Zimmer. Das machte einen schläfrig. In Pencey fror man sich entweder zu Tode oder starb vor Hitze.
»Der große Stradlater«, sagte Ackley. »He, leih mir deine Schere einen Augenblick. Hast du sie in Reichweite?«
»Nein. Schon eingepackt. Zuoberst im Schrank.«
»Gib sie mir, sei so gut. Ich muß mir diesen eingerissenen Nagel abschneiden.« Es war ihm gleichgültig, ob man etwas schon eingepackt hatte oder nicht und ob es zuoberst im Schrank war. Ich holte ihm die Schere trotzdem. Dabei wurde ich fast erschlagen. Als ich den Schrank aufmachte, fiel mir Stradlaters Tennisracket samt dem Holzrahmen auf den Kopf. Es krachte laut und tat höllisch weh.
Auch Ackley wäre beinah ums Leben gekommen. Er stimmte mit seiner Falsettstimme ein Gelächter an und lachte die ganze Zeit weiter, während ich meinen Handkoffer herunterholte und die Schere für ihn auspackte. Solche Vorfälle - daß jemandem ein Felsstück oder was weiß ich auf den Kopf fiel - fand er zum Bersten komisch. »Du hast einen prächtigen Sinn für Humor, Kind«, sagte ich. »Weißt du das?« Dabei gab ich ihm die Schere.
»Engagier mich als Manager. Ich kann dich am Radio unterbringen.« Ich setzte mich wieder hin, und er schnitt sich seine dicken, hornigen Nägel. »Wie wär's, wenn du das am Tisch machen würdest?« sagte ich. »Schneid sie dir am Tisch, könntest du das wohl? Ich habe keine Lust, heute abend mit bloßen Füßen auf deinen abgeschnittenen Nägeln herumzugehen.« Er schnitt sie trotzdem über dem Fußboden weiter.
Sehr schlechte Manieren nenne ich so etwas.
»Mit wem hat Stradlater ein Rendezvous?« fragte er. Er platzte immer vor Neugier, mit wem sich Stradlater verabredet habe, obwohl er ihn nicht riechen konnte.
»Weiß ich nicht. Warum?«
»Darum. Großer Gott, ich kann diesen Idioten nicht ausstehen. So ein blödes Kamel.«
»Er schwärmt für dich. Er hat mir gesagt, er halte dich für einen Prinzen«, sagte ich. Ich nenne die Leute oft Prinzen, wenn ich in der Laune bin. So aus Langeweile.
»Er führt sich immer so von oben herab auf«, sagte Ackley. »Ich kann ihn einfach nicht riechen. Man könnte meinen, daß er-«
»Hättest du etwas dagegen, dir die Nägel über dem Tisch zu schneiden, he?« sagte ich. »Ich sag es zum fünfzigsten -«
»Er führt sich die ganze Zeit so überheblich auf«, sagte Ackley. »Dabei glaube ich nicht einmal, daß er intelligent ist. Er selber meint es natürlich. Er meint, er sei der aller-«
»Ackley, verdammt noch mal! Schneid dir deine verdammten Nägel über dem Tisch! Ich hab es schon fünfzigmal gesagt.«
Zur Abwechslung begab er sich tatsächlich an den Tisch. Ihn anzubrüllen war die einzige Art, ihn zu etwas zu bringen.
Ich sah ihm eine Weile lang zu. Dann sagte ich: »Du hast nur deshalb eine Wut auf Stradlater, weil er gesagt hat, du solltest dir von Zeit zu Zeit die Zähne putzen. Er hat das nicht als Beleidigung gemeint. Er hat es zwar nicht gerade höflich gesagt, aber beleidigen wollte er dich nicht. Er meinte nur, du würdest besser aussehen und dich selber wohler fühlen, wenn du dir von Zeit zu Zeit die Zähne putzen würdest.«
»Ich putze sie ja. Red keinen Mist.«
»Nein, nie. Ich seh dir schon lange zu, und du putzt sie nie.«
Das sagte ich aber nicht unfreundlich.
Irgendwie tat er mir leid. Natürlich ist es nicht besonders angenehm, wenn man zu hören bekommt, daß man sich die Zähne nicht putze. »Man kann nichts gegen Stradlater sagen. Er ist gar nicht so übel«, sagte ich. »Du kennst ihn nur nicht.«
»Ich finde trotzdem, daß er ein gemeines Schwein ist. Ein eingebildeter Idiot.«
»Eingebildet ist er, aber in vielem ist er auch sehr großzügig. Im Ernst«, sagte ich. »Nimm zum Beispiel an, Stradlater hätte eine Krawatte oder was, die dir gefällt. Eine, die dir ganz besonders gut gefällt, meine ich - nur als Beispiel. Weißt du, was er täte? Höchstwahrscheinlich würde er sie abnehmen und sie dir geben. Oder er würde sie auf dein Bett legen oder so. Jedenfalls würde er dir die Krawatte schenken. Die meisten andern würden nur-«
»Zum Teufel«, sagte Ackley. »Wenn ich so reich wäre wie er, täte ich das auch.«
»Nein, du nicht.« Ich schüttelte den Kopf. »Du nicht, Kleiner. Wenn du soviel Geld hättest, wärst du der größte -«
»Hör auf mit dem Kleiner. Verdammt noch mal. Ich bin alt genug, um dein blöder Vater zu sein.«
»Das sicher nicht.« Er konnte einem wirklich manchmal auf die Nerven gehen. Er betonte bei jeder Gelegenheit, daß ich sechzehn war und er achtzehn. »Erstens einmal würde ich dich überhaupt nicht in meine gottverdammte Familie aufnehmen«, sagte ich.
»Schön, aber hör auf mich -«
Plötzlich ging die Tür auf und Stradlater kam in großer Eile herein. Er war immer eilig. Alles bei ihm war immer furchtbar wichtig. Er ging auf mich zu und tätschelte mir die Wangen - eine ekelhafte Gewohnheit. »Hör«, sagte er, »hast du heute abend etwas Besonderes vor?«
»Weiß nicht. Möglich. Wie ist es draußen - schneit es?« Sein Mantel war voll Schnee.
»Ja. Hör, wenn du selber nicht ausgehen willst, könntest du mir deine karierte Jacke leihen?«
»Wer hat gewonnen?« fragte ich.
»Erst Halbzeit. Aber im Ernst, brauchst du die Jacke heut abend oder nicht? Ich hab mir irgend so 'n Zeug über meinen Flanellanzug gegossen.«
»Nein, ich brauch sie nicht, aber ich hab keine Lust, daß du sie mit deinen verdammten Schultern ausweitest.« Wir waren fast gleich groß, aber er war ungefähr doppelt so schwer wie ich und hatte sehr breite Schultern.
»Ich weite sie sicher nicht aus.« Er ging eilig zum Schrank. »Wie geht's, Ackley?« fragte er.
Stradlater war wenigstens immer freundlich. Zum Teil in einer herablassenden Art, aber wenigstens sagte er Ackley immer guten Tag.
Ackley gab nur irgendein Geknurr von sich. Er wollte ihm eigentlich nicht antworten, hatte aber nicht den Mut, überhaupt nichts zu sagen. Dann sagte er zu mir: »So, ich muß gehn. Auf später.«
»O.K.«, sagte ich. Es brach einem nicht unbedingt das Herz, wenn er wieder in sein Zimmer verschwand.
Stradlater zog Jacke und Krawatte und so weiter aus. »Ich muß mich wohl schnell noch rasieren«, sagte er. Er hatte einen ziemlich starken Bartwuchs, wirklich, den hatte er.
»Wo ist dein Mädchen?« fragte ich.
»Sie wartet im Anbau.« Er ging mit seinen Toilettensachen und Handtüchern unterm Arm hinaus.
Ohne Hemd oder so. Er lief immer mit nacktem Oberkörper herum, weil er sich für fabelhaft gut gewachsen hielt. Das stimmt sogar, das muß ich zugeben.