19. Kapitel
Ich blieb sitzen und betrank mich und wartete
auf Tinas und Janines Auftreten, aber sie waren offenbar nicht mehr
da. Ein zweifelhaft aussehender Knabe mit gewellten Haaren erschien
und spielte Klavier, und dann kam eine Sängerin namens Valencia.
Gut war sie nicht, aber doch besser als Janine, und wenigstens sang
sie gute Lieder. Der Flügel befand sich nah am Bartisch, wo ich
saß, und Valencia stand ganz dicht bei mir. Ich warf ihr Blicke zu,
aber sie tat so, als ob sie mich überhaupt nicht sähe.
Wahrscheinlich hätte ich es gar nicht versucht, wenn ich nicht
schon sehr betrunken gewesen wäre. Als sie ihre Lieder gesungen
hatte, rannte sie so schnell hinaus, daß ich sie nicht einmal
auffordern konnte, ein Glas mit mir zu trinken. Ich rief also den
Oberkellner und sagte, er solle Valencia fragen, ob ich sie
einladen dürfe. Er antwortete, er wolle ihr das ausrichten, aber
vermutlich tat er nichts dergleichen. Die Leute richten nie eine
Botschaft aus.
Ich saß bis gegen ein Uhr in der verfluchten Bar und trank wie ein Loch. Ich konnte schon kaum mehr deutlich sehen.
Immerhin gab ich mir große Mühe, nicht geräuschvoll zu werden. Ich wollte kein Aufsehen erregen und mir damit Fragen über mein Alter zuziehen. Aber ich sah schon kaum mehr deutlich, Herr im Himmel. Als ich endgültig betrunken war, fing ich wieder die Geschichte mit der Kugel im Leib an. Ich war der einzige in der Bar, der eine Kugel im Leib hatte. Ich steckte die Hand in meine Jacke und drückte sie fest auf den Magen, damit das Blut nicht überall herumtropfte.
Niemand brauchte zu wissen, daß ich verwundet war. Ich verbarg die Tatsache, daß ich ein angeschossener Hund war.
Schließlich hatte ich Lust, die gute Jane anzurufen und zu fragen, ob sie schon zu Hause sei. Ich zahlte also und ging zu den Telefonkabinen hinaus. Dabei hielt ich immer die Hand auf den Magen, damit das Blut nicht weitertropfte. Ich war schön betrunken.
Aber in der Telefonkabine hatte ich plötzlich keine Lust mehr, die gute Jane anzurufen.
Wahrscheinlich war ich zu betrunken. Statt dessen rief ich Sally Hayes an.
Ich mußte ungefähr zwanzig verschiedene Nummern wählen, bis ich die richtige erwischte. Ich war halb blind.
»Hallo«, sagte ich, als jemand an den verdammten Apparat kam. Ich war so betrunken, daß ich eigentlich brüllte.
»Wer ist da?« fragte eine eiskalte weibliche Stimme.
»Ich, Holden Caulfield. Möchte mit Sally sprechen, bitte.«
»Sally schläft. Hier ist Sallys Großmutter. Warum rufen Sie um diese Zeit an, Holden? Wissen Sie, wie spät es ist?«
»Ja. Will aber Sally sprechen. Sehr wichtig. Soll kommen.«
»Sally schläft schon, junger Mann. Rufen Sie morgen an. Gute Nacht.«
»Wecken Sie sie! He, aufwecken! Nur vorwärts!«
Dann kam eine andere Stimme. »Holden, da bin ich.« Es war Sally. »Was soll denn das bedeuten?«
»Sally? Bist du's?«
»Ja - schrei nicht so. Bist du betrunken?«
»Ja. Hör. He, hör zu. Ich komme am Heiligen Abend. O. K.? Den verdammten Baum für dich zu schmücken. O. K.? O. K.? He, Sally?«
»Ja. Du bist ja betrunken. Geh jetzt ins Bett. Wo bist du? Wer ist bei dir?«
»Sally? Soll ich kommen und deinen Baum schmücken? O. K.? O. K.? He?«
»Ja - ja! Geh jetzt ins Bett. Wo bist du denn? Wer ist bei dir?«
»Niemand. Nur ich und Holden und Caulfield.« Großer Gott, war ich betrunken! Dabei preßte ich sogar immer noch die Hand auf meine Wunde. »Sie haben mich erwischt. Rockys Bande hat mich erwischt. Weißt du das? Weißt du, was das heißt, Sally?«
»Ich kann dich nicht mehr verstehen. Geh jetzt ins Bett. Ich muß gehn. Ruf mich morgen an.«
»He, Sally! Soll ich dir den Baum schmücken? Willst du das? He?«
»Ja. Gut Nacht. Geh heim und geh ins Bett.«
Sie hängte ein.
»Gut Nacht. Gut Nacht. Sally-Baby. Liebster süßer Sally-Liebling«, sagte ich. Kann sich jemand vorstellen, wie betrunken ich war? Dann hängte ich auch ein. Vermutlich war sie gerade erst von einer Verabredung heimgekommen. Ich stellte mir vor, wie sie mit den Lunts und allen und diesem Andover-Affen irgendwo ausgewesen war, wie sie alle zusammen in einer verdammten Teekanne herumgepaddelt waren. Wie sie alle geistreiches Geschwätz von sich gaben und höchst charmant und affektiert waren. Hätte ich mit ihr nur nicht telefoniert, Herr im Himmel! Wenn ich betrunken bin, benehme ich mich wie ein Verrückter.
Ich blieb ziemlich lang in der elenden Telefonkabine. Ich hielt mich sozusagen am Telefon fest, um nicht ohnmächtig zu werden. Es ging mir nicht gerade glänzend, ehrlich gesagt.
Schließlich ging ich hinaus und stolperte wie ein Idiot in die Herrentoilette. Dort füllte ich ein Waschbassin mit kaltem Wasser und tauchte meinen Kopf bis zu den Ohren hinein. Ich machte mir nicht einmal die Mühe, mich abzutrocknen. Ich ließ den blöden Hund einfach tropfen. Dann ging ich zum Heizkörper am Fenster und setzte mich darauf. Er fühlte sich schön warm an. Das tat mir gut, weil ich wahnsinnig schlotterte.
Komisch, ich schlottere immer wie toll, wenn ich betrunken bin.
Da ich sonst nichts zu tun hatte, blieb ich auf der Heizung sitzen und zählte die weißen Plättchen auf dem Fußboden. Ich wurde allmählich tropfnaß. Ganze Wasserbäche liefen mir am Hals hinunter über Kragen und Krawatte, aber es war mir alles gleichgültig. Ich war viel zu betrunken, um mir etwas daraus zu machen. Kurz darauf kam der Pianist, der die gute Valencia begleitete, und wollte sich seine goldenen Locken frisieren.
Während er sich kämmte, unterhielten wir uns, obwohl er nicht übertrieben freundlich war. »He, sehen Sie wohl diese Valencia, wenn Sie wieder in die Bar gehen?« fragte ich.
»Das ist beinah anzunehmen«, sagte er.
Ha, ha, wie witzig! Ich habe immer mit Witzbolden zu tun.
»Dann sagen Sie ihr Grüße von mir. Fragen Sie sie, ob dieser verdammte Kellner ihr meine Botschaft ausgerichtet hat, ja?«
»Warum gehst du denn nicht heim, Mac? Wie alt bist du überhaupt?«
»Sechsundachtzig. Hören Sie, richten Sie bitte Valencia meine Grüße aus, O. K.?«
»Warum gehst du nicht heim, Mac?«
»Keine Lust. Sie können aber wirklich Klavier spielen«, sagte ich. Reine Schmeichelei. Er spielte jämmerlich, falls das jemand interessiert. »Sie sollten am Radio spielen«, sagte ich. »So ein hübscher Bursche wie Sie. Alle die verdammten goldnen Locken. Brauchen Sie einen Manager?«
»Geh heim, Mac, sei brav. Geh nach Haus und mach, daß du ins Bett kommst.«
»Kein Haus, wo ich hin kann. Im Ernst - brauchen Sie einen Manager?«
Er gab mir keine Antwort mehr, sondern ging einfach hinaus.
Da er seine Lockenpracht fertig gekämmt und getätschelt hatte, ging er eben weg. Wie Stradlater. Diese hübschen Burschen sind alle gleich. Wenn sie mit ihren verdammten Haaren fertig sind, lassen sie einen sitzen.
Als ich schließlich von der Heizung aufstand und zur Garderobe ging, heulte ich. Ich weiß nicht warum, aber jedenfalls heulte ich. Wahrscheinlich, weil ich so verdammt deprimiert und allein war.
Dann konnte ich aber meine Garderobennummer nicht finden.
Das Mädchen an der Garderobe benahm sich zwar nett und gab mir meinen Mantel trotzdem. Und auch meine Platte Little Shirley Beans, die ich immer noch herumschleppte.
Ich gab ihr einen Dollar, weil sie so freundlich war, aber sie wollte ihn nicht annehmen. Sie sagte immer nur, ich solle nach Hause gehn und mich ins Bett legen. Ich versuchte, mich mit ihr zu verabreden, sobald sie heute frei hätte, aber davon wollte sie auch nichts wissen. Sie sagte, sie sei ja alt genug, daß sie meine Mutter sein könnte. Ich zeigte ihr meine verdammten grauen Haare und sagte, ich sei zweiundzwanzig - natürlich aus Blödsinn. Sie war aber wirklich nett. Ich zeigte ihr meine verdammte rote Jagdmütze, und die gefiel ihr sehr. Sie sagte, ich müsse die Mütze aber jetzt aufsetzen, weil ich so nasse Haare hätte. Sie war wirklich anständig.
Draußen war ich nicht mehr so betrunken, aber es war wieder ziemlich kalt geworden, und die Zähne schlugen mir wie toll aufeinander. Ich konnte nichts dagegen tun. Ich ging bis zur Madison Avenue und wartete dort auf einen Omnibus, weil ich fast kein Geld mehr hatte und mit Taxis und so weiter sparen mußte. Aber ich hatte dann doch keine Lust, mich in einen verdammten Omnibus zu setzen. Ich wußte ja auch gar nicht, wohin ich fahren sollte. Deshalb machte ich mich auf den Weg zum Park. Ich wollte zu dem kleinen See gehen und nachsehen, was zum Teufel die Enten machten ob sie überhaupt noch da waren. Ich wußte immer noch nicht, was im Winter aus ihnen wurde. Der Park war nicht weit weg, und es fiel mir nichts ein, wo ich sonst hätte hingehen können - ich wußte ja überhaupt nicht, wo ich schlafen sollte. Ich war gar nicht müde oder so.
Nur wahnsinnig deprimiert. Als ich im Park ankam, passierte etwas Schreckliches. Ich ließ Phoebes Schallplatte fallen. Sie zerbrach in hundert Stücke. Sie steckte zwar in einem großen Umschlag, aber sie zerbrach trotzdem. Ich hatte beinah wieder geheult, weil ich das entsetzlich fand, aber dann nahm ich nur die Stücke aus dem Umschlag und steckte sie in meine Manteltasche. Man konnte nichts mehr damit machen, aber ich wollte sie doch nicht einfach wegwerfen. Dann ging ich weiter in den Park hinein. Es war stockdunkel.
Ich bin in New York aufgewachsen und kenne den Central Park auswendig, weil ich als Kind immer mit den Rollschuhen oder mit dem Rad dort herumgefahren bin, aber in dieser Nacht hatte ich die größte Mühe, bis ich den See fand. Ich wußte ganz genau, wo er war - beim Central Park South und so weiter -, aber ich konnte ihn doch nicht finden. Offenbar war ich viel betrunkener, als ich selber dachte. Ich ging immer weiter und weiter, und es wurde immer dunkler und unheimlicher und unheimlicher. Auf dem ganzen Weg begegnete ich keinem Menschen. Das war mir nur recht.
Wahrscheinlich hätte ich einen Luftsprung gemacht, wenn mir jemand begegnet wäre. Dann fand ich den See endlich. Er war zum Teil zugefroren und zum Teil nicht. Aber Enten sah ich nirgends. Ich ging um den ganzen verdammten See herum - einmal wäre ich um ein Haar hineingefallen -, aber ich sah keine einzige Ente. Ich dachte, falls sie noch da wären, schliefen sie vielleicht nah am Ufer, auf dem Gras und so. Aus diesem Grund fiel ich fast hinein. Aber es war keine Ente da. Schließlich setzte ich mich auf eine Bank, wo es nicht so verdammt dunkel war.
Ich schlotterte wie ein Verrückter, und am Hinterkopf hatte ich trotz der Jagdmütze kleine Eisklumpen in den Haaren. Das machte mir Sorgen. Ich dachte, ich würde wahrscheinlich Lungenentzündung bekommen und sterben. Ich stellte mir die Millionen Leute bei meiner Beerdigung vor. Mein Großvater aus Detroit, der immer die Straßennummern ausruft, wenn man mit ihm in einem verdammten Omnibus fährt, und meine Tanten - ich habe gut fünfzig Tanten - und meine sämtlichen blöden Cousins. Eine riesige Menschenmenge. Als Allie gestorben war, rückte die ganze Herde vollzählig an. Eine besonders blöde Tante mit Mundgeruch sagte fortwährend, wie friedlich Allie daliege - das erzählte mir D.B.
Ich war noch im Spital. Jetzt machte ich mir also Sorgen, daß ich von diesen Eisklumpen in den Haaren Lungenentzündung bekommen und sterben könnte. Meine Eltern taten mir fürchterlich leid.
Hauptsächlich meine Mutter, weil sie immer noch nicht über Allie weggekommen ist. Ich stellte mir vor, wie sie gar nicht wüßte, was sie mit meinen Anzügen und den Sportsachen und so weiter anfangen sollte. Der einzige Trost war, daß ich sicher wußte, daß sie Phoebe nicht zu meiner verdammten Beerdigung mitnehmen würde, weil Phoebe noch zu klein war. Das war wirklich das einzige Gute an der ganzen Geschichte. Dann stellte ich mir auch vor, wie sie mich alle auf den gottverfluchten Friedhof schleppen würden und mein Name auf einem Grabstein stünde. Zwischen lauter anderen Toten. Großer Gott, wenn man tot ist, sperren sie einen regelrecht ein. Ich hoffe nur, daß irgend jemand soviel Vernunft hat, mich einfach in den Fluß zu werfen, wenn ich einmal wirklich sterbe. Mir ist alles recht, nur nicht ein gottverfluchter Friedhof. Wo die Leute dann kommen und einem am Sonntag einen Blumenstrauß auf den Bauch legen, und lauter solchen Mist. Wer will denn noch Blumen, wenn er tot ist? Niemand.
Bei schönem Wetter gehen meine Eltern oft zu Allies Grab und legen Blumen hin. Ich bin ein paarmal mitgegangen, aber dann hatte ich genug. Erstens ist es kein Vergnügen, ihn auf diesem blöden Friedhof zu sehen. Zwischen lauter Toten und Grabsteinen und allem. Wenn die Sonne schien, war es weniger schlimm, aber zweimal - zweimal - fing es an zu regnen.
Schrecklich. Es regnete auf seinen blöden Grabstein und in das Gras über seinem Bauch. Überallhin. Sämtliche Friedhofsbesucher rannten wie wild zu ihren Autos. Das machte mich fast verrückt. Alle diese Besucher konnten sich in ihre Autos setzen und das Radio andrehen und dann in irgendeinem guten Restaurant essen - nur Allie nicht. Ich konnte das nicht ertragen. Ich weiß wohl, daß nur sein Körper auf dem Friedhof liegt und daß seine Seele im Himmel ist - und der ganze übrige Mist -, aber ich konnte es trotzdem nicht aushalten. Ich möchte einfach, daß er nicht dort wäre. Wenn ihn jemand gekannt hätte, müßte er verstehen, was ich meine.
Bei schönem Wetter ist es weniger schlimm, aber die Sonne scheint ja nur, wenn sie dazu aufgelegt ist.
Um mich von der Lungenentzündung und dem allem abzulenken, versuchte ich unter der elenden Straßenlaterne mein Geld zu zählen. Es waren nur noch drei einzelne Dollars und fünf Vierteldollars.
Junge, seit Pencey hatte ich ein Vermögen ausgegeben. Dann ging ich ans Ufer hinunter und warf das Kleingeld in den See, wo er nicht zugefroren war. Ich weiß nicht warum, aber jedenfalls warf ich es hinein. Wahrscheinlich dachte ich, es würde mich von der Lungenentzündung und vom Sterben ablenken. Das war aber nicht so.
Ich fing an, mir vorzustellen, wie Phoebe es wohl aufnähme, wenn ich Lungenentzündung bekommen und sterben würde.
Kindische Gedanken, aber ich konnte nicht damit aufhören. Es würde ihr ziemlich elend, wenn es dazu käme, dachte ich. Sie hat mich sehr gern. Ich meine, sie hängt wirklich an mir. Ich kam einfach nicht davon los, und schließlich dachte ich, es wäre am besten, wenn ich mich nach Hause schleichen und sie besuchen würde - falls ich sterben müßte und so. Ich hatte den Hausschlüssel bei mir und dachte, ich könnte mich ganz leise in die Wohnung schleichen und eine Weile mit ihr schwätzen. Nur unsere Wohnungstür machte mir Kummer. Sie kreischt wahnsinnig.
Das ganze Haus ist schon ziemlich alt, und der Verwalter ist ein fauler Hund; alles kreischt und knarrt. Ich hatte Angst, daß meine Eltern mich hören könnten. Aber ich wollte es wenigstens versuchen.
Ich lief also schnell aus dem Park und ging heim. Ich ging den ganzen Weg zu Fuß. Sehr weit war es nicht, und ich war überhaupt nicht mehr müde oder betrunken. Es war nur sehr kalt und ganz menschenleer.
Ich saß bis gegen ein Uhr in der verfluchten Bar und trank wie ein Loch. Ich konnte schon kaum mehr deutlich sehen.
Immerhin gab ich mir große Mühe, nicht geräuschvoll zu werden. Ich wollte kein Aufsehen erregen und mir damit Fragen über mein Alter zuziehen. Aber ich sah schon kaum mehr deutlich, Herr im Himmel. Als ich endgültig betrunken war, fing ich wieder die Geschichte mit der Kugel im Leib an. Ich war der einzige in der Bar, der eine Kugel im Leib hatte. Ich steckte die Hand in meine Jacke und drückte sie fest auf den Magen, damit das Blut nicht überall herumtropfte.
Niemand brauchte zu wissen, daß ich verwundet war. Ich verbarg die Tatsache, daß ich ein angeschossener Hund war.
Schließlich hatte ich Lust, die gute Jane anzurufen und zu fragen, ob sie schon zu Hause sei. Ich zahlte also und ging zu den Telefonkabinen hinaus. Dabei hielt ich immer die Hand auf den Magen, damit das Blut nicht weitertropfte. Ich war schön betrunken.
Aber in der Telefonkabine hatte ich plötzlich keine Lust mehr, die gute Jane anzurufen.
Wahrscheinlich war ich zu betrunken. Statt dessen rief ich Sally Hayes an.
Ich mußte ungefähr zwanzig verschiedene Nummern wählen, bis ich die richtige erwischte. Ich war halb blind.
»Hallo«, sagte ich, als jemand an den verdammten Apparat kam. Ich war so betrunken, daß ich eigentlich brüllte.
»Wer ist da?« fragte eine eiskalte weibliche Stimme.
»Ich, Holden Caulfield. Möchte mit Sally sprechen, bitte.«
»Sally schläft. Hier ist Sallys Großmutter. Warum rufen Sie um diese Zeit an, Holden? Wissen Sie, wie spät es ist?«
»Ja. Will aber Sally sprechen. Sehr wichtig. Soll kommen.«
»Sally schläft schon, junger Mann. Rufen Sie morgen an. Gute Nacht.«
»Wecken Sie sie! He, aufwecken! Nur vorwärts!«
Dann kam eine andere Stimme. »Holden, da bin ich.« Es war Sally. »Was soll denn das bedeuten?«
»Sally? Bist du's?«
»Ja - schrei nicht so. Bist du betrunken?«
»Ja. Hör. He, hör zu. Ich komme am Heiligen Abend. O. K.? Den verdammten Baum für dich zu schmücken. O. K.? O. K.? He, Sally?«
»Ja. Du bist ja betrunken. Geh jetzt ins Bett. Wo bist du? Wer ist bei dir?«
»Sally? Soll ich kommen und deinen Baum schmücken? O. K.? O. K.? He?«
»Ja - ja! Geh jetzt ins Bett. Wo bist du denn? Wer ist bei dir?«
»Niemand. Nur ich und Holden und Caulfield.« Großer Gott, war ich betrunken! Dabei preßte ich sogar immer noch die Hand auf meine Wunde. »Sie haben mich erwischt. Rockys Bande hat mich erwischt. Weißt du das? Weißt du, was das heißt, Sally?«
»Ich kann dich nicht mehr verstehen. Geh jetzt ins Bett. Ich muß gehn. Ruf mich morgen an.«
»He, Sally! Soll ich dir den Baum schmücken? Willst du das? He?«
»Ja. Gut Nacht. Geh heim und geh ins Bett.«
Sie hängte ein.
»Gut Nacht. Gut Nacht. Sally-Baby. Liebster süßer Sally-Liebling«, sagte ich. Kann sich jemand vorstellen, wie betrunken ich war? Dann hängte ich auch ein. Vermutlich war sie gerade erst von einer Verabredung heimgekommen. Ich stellte mir vor, wie sie mit den Lunts und allen und diesem Andover-Affen irgendwo ausgewesen war, wie sie alle zusammen in einer verdammten Teekanne herumgepaddelt waren. Wie sie alle geistreiches Geschwätz von sich gaben und höchst charmant und affektiert waren. Hätte ich mit ihr nur nicht telefoniert, Herr im Himmel! Wenn ich betrunken bin, benehme ich mich wie ein Verrückter.
Ich blieb ziemlich lang in der elenden Telefonkabine. Ich hielt mich sozusagen am Telefon fest, um nicht ohnmächtig zu werden. Es ging mir nicht gerade glänzend, ehrlich gesagt.
Schließlich ging ich hinaus und stolperte wie ein Idiot in die Herrentoilette. Dort füllte ich ein Waschbassin mit kaltem Wasser und tauchte meinen Kopf bis zu den Ohren hinein. Ich machte mir nicht einmal die Mühe, mich abzutrocknen. Ich ließ den blöden Hund einfach tropfen. Dann ging ich zum Heizkörper am Fenster und setzte mich darauf. Er fühlte sich schön warm an. Das tat mir gut, weil ich wahnsinnig schlotterte.
Komisch, ich schlottere immer wie toll, wenn ich betrunken bin.
Da ich sonst nichts zu tun hatte, blieb ich auf der Heizung sitzen und zählte die weißen Plättchen auf dem Fußboden. Ich wurde allmählich tropfnaß. Ganze Wasserbäche liefen mir am Hals hinunter über Kragen und Krawatte, aber es war mir alles gleichgültig. Ich war viel zu betrunken, um mir etwas daraus zu machen. Kurz darauf kam der Pianist, der die gute Valencia begleitete, und wollte sich seine goldenen Locken frisieren.
Während er sich kämmte, unterhielten wir uns, obwohl er nicht übertrieben freundlich war. »He, sehen Sie wohl diese Valencia, wenn Sie wieder in die Bar gehen?« fragte ich.
»Das ist beinah anzunehmen«, sagte er.
Ha, ha, wie witzig! Ich habe immer mit Witzbolden zu tun.
»Dann sagen Sie ihr Grüße von mir. Fragen Sie sie, ob dieser verdammte Kellner ihr meine Botschaft ausgerichtet hat, ja?«
»Warum gehst du denn nicht heim, Mac? Wie alt bist du überhaupt?«
»Sechsundachtzig. Hören Sie, richten Sie bitte Valencia meine Grüße aus, O. K.?«
»Warum gehst du nicht heim, Mac?«
»Keine Lust. Sie können aber wirklich Klavier spielen«, sagte ich. Reine Schmeichelei. Er spielte jämmerlich, falls das jemand interessiert. »Sie sollten am Radio spielen«, sagte ich. »So ein hübscher Bursche wie Sie. Alle die verdammten goldnen Locken. Brauchen Sie einen Manager?«
»Geh heim, Mac, sei brav. Geh nach Haus und mach, daß du ins Bett kommst.«
»Kein Haus, wo ich hin kann. Im Ernst - brauchen Sie einen Manager?«
Er gab mir keine Antwort mehr, sondern ging einfach hinaus.
Da er seine Lockenpracht fertig gekämmt und getätschelt hatte, ging er eben weg. Wie Stradlater. Diese hübschen Burschen sind alle gleich. Wenn sie mit ihren verdammten Haaren fertig sind, lassen sie einen sitzen.
Als ich schließlich von der Heizung aufstand und zur Garderobe ging, heulte ich. Ich weiß nicht warum, aber jedenfalls heulte ich. Wahrscheinlich, weil ich so verdammt deprimiert und allein war.
Dann konnte ich aber meine Garderobennummer nicht finden.
Das Mädchen an der Garderobe benahm sich zwar nett und gab mir meinen Mantel trotzdem. Und auch meine Platte Little Shirley Beans, die ich immer noch herumschleppte.
Ich gab ihr einen Dollar, weil sie so freundlich war, aber sie wollte ihn nicht annehmen. Sie sagte immer nur, ich solle nach Hause gehn und mich ins Bett legen. Ich versuchte, mich mit ihr zu verabreden, sobald sie heute frei hätte, aber davon wollte sie auch nichts wissen. Sie sagte, sie sei ja alt genug, daß sie meine Mutter sein könnte. Ich zeigte ihr meine verdammten grauen Haare und sagte, ich sei zweiundzwanzig - natürlich aus Blödsinn. Sie war aber wirklich nett. Ich zeigte ihr meine verdammte rote Jagdmütze, und die gefiel ihr sehr. Sie sagte, ich müsse die Mütze aber jetzt aufsetzen, weil ich so nasse Haare hätte. Sie war wirklich anständig.
Draußen war ich nicht mehr so betrunken, aber es war wieder ziemlich kalt geworden, und die Zähne schlugen mir wie toll aufeinander. Ich konnte nichts dagegen tun. Ich ging bis zur Madison Avenue und wartete dort auf einen Omnibus, weil ich fast kein Geld mehr hatte und mit Taxis und so weiter sparen mußte. Aber ich hatte dann doch keine Lust, mich in einen verdammten Omnibus zu setzen. Ich wußte ja auch gar nicht, wohin ich fahren sollte. Deshalb machte ich mich auf den Weg zum Park. Ich wollte zu dem kleinen See gehen und nachsehen, was zum Teufel die Enten machten ob sie überhaupt noch da waren. Ich wußte immer noch nicht, was im Winter aus ihnen wurde. Der Park war nicht weit weg, und es fiel mir nichts ein, wo ich sonst hätte hingehen können - ich wußte ja überhaupt nicht, wo ich schlafen sollte. Ich war gar nicht müde oder so.
Nur wahnsinnig deprimiert. Als ich im Park ankam, passierte etwas Schreckliches. Ich ließ Phoebes Schallplatte fallen. Sie zerbrach in hundert Stücke. Sie steckte zwar in einem großen Umschlag, aber sie zerbrach trotzdem. Ich hatte beinah wieder geheult, weil ich das entsetzlich fand, aber dann nahm ich nur die Stücke aus dem Umschlag und steckte sie in meine Manteltasche. Man konnte nichts mehr damit machen, aber ich wollte sie doch nicht einfach wegwerfen. Dann ging ich weiter in den Park hinein. Es war stockdunkel.
Ich bin in New York aufgewachsen und kenne den Central Park auswendig, weil ich als Kind immer mit den Rollschuhen oder mit dem Rad dort herumgefahren bin, aber in dieser Nacht hatte ich die größte Mühe, bis ich den See fand. Ich wußte ganz genau, wo er war - beim Central Park South und so weiter -, aber ich konnte ihn doch nicht finden. Offenbar war ich viel betrunkener, als ich selber dachte. Ich ging immer weiter und weiter, und es wurde immer dunkler und unheimlicher und unheimlicher. Auf dem ganzen Weg begegnete ich keinem Menschen. Das war mir nur recht.
Wahrscheinlich hätte ich einen Luftsprung gemacht, wenn mir jemand begegnet wäre. Dann fand ich den See endlich. Er war zum Teil zugefroren und zum Teil nicht. Aber Enten sah ich nirgends. Ich ging um den ganzen verdammten See herum - einmal wäre ich um ein Haar hineingefallen -, aber ich sah keine einzige Ente. Ich dachte, falls sie noch da wären, schliefen sie vielleicht nah am Ufer, auf dem Gras und so. Aus diesem Grund fiel ich fast hinein. Aber es war keine Ente da. Schließlich setzte ich mich auf eine Bank, wo es nicht so verdammt dunkel war.
Ich schlotterte wie ein Verrückter, und am Hinterkopf hatte ich trotz der Jagdmütze kleine Eisklumpen in den Haaren. Das machte mir Sorgen. Ich dachte, ich würde wahrscheinlich Lungenentzündung bekommen und sterben. Ich stellte mir die Millionen Leute bei meiner Beerdigung vor. Mein Großvater aus Detroit, der immer die Straßennummern ausruft, wenn man mit ihm in einem verdammten Omnibus fährt, und meine Tanten - ich habe gut fünfzig Tanten - und meine sämtlichen blöden Cousins. Eine riesige Menschenmenge. Als Allie gestorben war, rückte die ganze Herde vollzählig an. Eine besonders blöde Tante mit Mundgeruch sagte fortwährend, wie friedlich Allie daliege - das erzählte mir D.B.
Ich war noch im Spital. Jetzt machte ich mir also Sorgen, daß ich von diesen Eisklumpen in den Haaren Lungenentzündung bekommen und sterben könnte. Meine Eltern taten mir fürchterlich leid.
Hauptsächlich meine Mutter, weil sie immer noch nicht über Allie weggekommen ist. Ich stellte mir vor, wie sie gar nicht wüßte, was sie mit meinen Anzügen und den Sportsachen und so weiter anfangen sollte. Der einzige Trost war, daß ich sicher wußte, daß sie Phoebe nicht zu meiner verdammten Beerdigung mitnehmen würde, weil Phoebe noch zu klein war. Das war wirklich das einzige Gute an der ganzen Geschichte. Dann stellte ich mir auch vor, wie sie mich alle auf den gottverfluchten Friedhof schleppen würden und mein Name auf einem Grabstein stünde. Zwischen lauter anderen Toten. Großer Gott, wenn man tot ist, sperren sie einen regelrecht ein. Ich hoffe nur, daß irgend jemand soviel Vernunft hat, mich einfach in den Fluß zu werfen, wenn ich einmal wirklich sterbe. Mir ist alles recht, nur nicht ein gottverfluchter Friedhof. Wo die Leute dann kommen und einem am Sonntag einen Blumenstrauß auf den Bauch legen, und lauter solchen Mist. Wer will denn noch Blumen, wenn er tot ist? Niemand.
Bei schönem Wetter gehen meine Eltern oft zu Allies Grab und legen Blumen hin. Ich bin ein paarmal mitgegangen, aber dann hatte ich genug. Erstens ist es kein Vergnügen, ihn auf diesem blöden Friedhof zu sehen. Zwischen lauter Toten und Grabsteinen und allem. Wenn die Sonne schien, war es weniger schlimm, aber zweimal - zweimal - fing es an zu regnen.
Schrecklich. Es regnete auf seinen blöden Grabstein und in das Gras über seinem Bauch. Überallhin. Sämtliche Friedhofsbesucher rannten wie wild zu ihren Autos. Das machte mich fast verrückt. Alle diese Besucher konnten sich in ihre Autos setzen und das Radio andrehen und dann in irgendeinem guten Restaurant essen - nur Allie nicht. Ich konnte das nicht ertragen. Ich weiß wohl, daß nur sein Körper auf dem Friedhof liegt und daß seine Seele im Himmel ist - und der ganze übrige Mist -, aber ich konnte es trotzdem nicht aushalten. Ich möchte einfach, daß er nicht dort wäre. Wenn ihn jemand gekannt hätte, müßte er verstehen, was ich meine.
Bei schönem Wetter ist es weniger schlimm, aber die Sonne scheint ja nur, wenn sie dazu aufgelegt ist.
Um mich von der Lungenentzündung und dem allem abzulenken, versuchte ich unter der elenden Straßenlaterne mein Geld zu zählen. Es waren nur noch drei einzelne Dollars und fünf Vierteldollars.
Junge, seit Pencey hatte ich ein Vermögen ausgegeben. Dann ging ich ans Ufer hinunter und warf das Kleingeld in den See, wo er nicht zugefroren war. Ich weiß nicht warum, aber jedenfalls warf ich es hinein. Wahrscheinlich dachte ich, es würde mich von der Lungenentzündung und vom Sterben ablenken. Das war aber nicht so.
Ich fing an, mir vorzustellen, wie Phoebe es wohl aufnähme, wenn ich Lungenentzündung bekommen und sterben würde.
Kindische Gedanken, aber ich konnte nicht damit aufhören. Es würde ihr ziemlich elend, wenn es dazu käme, dachte ich. Sie hat mich sehr gern. Ich meine, sie hängt wirklich an mir. Ich kam einfach nicht davon los, und schließlich dachte ich, es wäre am besten, wenn ich mich nach Hause schleichen und sie besuchen würde - falls ich sterben müßte und so. Ich hatte den Hausschlüssel bei mir und dachte, ich könnte mich ganz leise in die Wohnung schleichen und eine Weile mit ihr schwätzen. Nur unsere Wohnungstür machte mir Kummer. Sie kreischt wahnsinnig.
Das ganze Haus ist schon ziemlich alt, und der Verwalter ist ein fauler Hund; alles kreischt und knarrt. Ich hatte Angst, daß meine Eltern mich hören könnten. Aber ich wollte es wenigstens versuchen.
Ich lief also schnell aus dem Park und ging heim. Ich ging den ganzen Weg zu Fuß. Sehr weit war es nicht, und ich war überhaupt nicht mehr müde oder betrunken. Es war nur sehr kalt und ganz menschenleer.