69
Sie flüchteten nach Granada, wohl wissend, dass ihnen im Fall ihrer Verhaftung der Tod oder die Sklaverei drohten. Für die Hauptleute der Milizen aus Córdoba konnte nur Hernando der dreiste Flüchtling gewesen sein. Schließlich waren es seine Pferde, und weder sein Name noch der seiner Kinder tauchten auf den Passagierlisten auf. Hernando entschied sich für die Alpujarras als Ziel ihrer Flucht. Dort waren ganze Ortschaften entvölkert. Miguel war, als er El Arenal auf dem Maultier verließ, auf keinerlei Schwierigkeiten gestoßen und konnte sich ihnen jenseits der Stadtmauern wieder anschließen. Die prächtigen Pferde mussten sie allerdings zurücklassen. Aber kam es darauf noch an?
Der Weg von Sevilla in die Alpujarras war lang und beschwerlich. Sie mussten die Hauptstrecken meiden und sich vor den Bewohnern der Dörfer verbergen. Von den winterlichen Feldern stahlen sie etwas für ihre spärlichen Mahlzeiten, oder sie versteckten sich außerhalb der Ortschaften, während Miguel dort um milde Gaben bettelte. Schließlich fanden sie in Viñas Unterschlupf, einem Dorf in der Nähe von Juviles, das nach der Vertreibung seiner Bewohner aufgegeben worden war.
Es war bitterkalt, und die Gipfel der Sierra Nevada waren noch mit Schnee bedeckt, doch sie durften tagsüber kein Feuer machen. Hernando blickte zu den eisigen Bergeshöhen und betrachtete dann seine Kinder. Sie richteten sich in einem verfallenen Haus ein, in dem Rafaela mithilfe der Kinder ohne jegliche Gerätschaften – und mit entsprechend geringem Erfolg – um Sauberkeit und Wärme kämpfte. Hernando und Miguel beobachteten sie dabei: Sie sahen wie Bettler aus.
Die beiden Männer verließen das Haus und traten auf die schmale, gewundene Gasse, die von eingestürzten Ruinen gesäumt war. Rafaela bemerkte ihre Abwesenheit, wies die Kinder an weiterzumachen und folgte ihnen.
Und nun? Sollten sie hier, in diesem Versteck, ihr gesamtes Leben zubringen?
»Miguel, ich muss dich noch einmal um einen Gefallen bitten«, sagte Hernando schnell, ohne seinen Freund anzusehen. Dabei hielt er dem Blick seiner Gattin stand und reichte ihr die Hand.
»Was immer du willst.«
Hernando begleitete Miguel bis kurz vor die Tore von Granada, dann ritt er auf dem Maultier in die Alpujarras zurück. Ein Bettler durfte so ein Tier nicht besitzen. Nach einem längeren Streit mit den Wächtern, die vor seiner scheinbar unendlichen Worttirade schließlich kapitulierten, betrat Miguel die Stadt durch die Puerta del Rastro und begab sich vom Stadttor direkt zur Casa de los Tiros.
Solange Miguel fort war, verbrachte Hernando viel Zeit mit seinen Kindern. Unter anderem versuchte er ihnen beizubringen, wie man Vögel fängt. Er nahm ein kurzes Stück Strick, dröselte die Fäden auseinander, und unter dem aufmerksamen Blick seiner Kinder fertigte er daraus einige kleine Schlingen, die sie gemeinsam an Baumäste hängten. Sie erlegten zwar keine Beute, aber die Kinder hatten etwas zu tun. Hunger brauchten sie zum Glück nicht zu leiden, denn Hernando kannte sich in der Gegend bestens aus, und abgesehen von Fleisch hatten sie endlich wieder genug zu essen.
Als sie nach einer Woche noch immer keine Menschenseele in Viñas gesehen hatten, verkündete Hernando seiner Frau, dass er mit Amin und Muqla für ein paar Tage das Dorf verlassen würde.
»Wohin geht ihr?«
»Ich muss meinen Söhnen etwas zeigen.« Rafaelas Angst war nicht zu übersehen. »Keine Sorge. Niemand wird hierherkommen. Und wenn du doch etwas Merkwürdiges siehst, versteckst du dich mit den Kindern. Dort, wo wir versucht haben, Vögel zu fangen, sind einige Höhlen. Laila kennt den Ort.«
Das alte Kastell von Lanjarón thronte erhaben auf der Felsenanhöhe. Hernando hatte es so eingerichtet, dass ihr Ausflug bei Vollmond stattfand, der nun silbern am wolkenlosen Sternenhimmel leuchtete. In Begleitung seiner beiden Söhne steuerte er die Bastion im südlichen Bereich der Festung an.
»Es gibt keinen Gott außer Gott, und Mohammed ist der Gesandte Gottes«, flüsterte er in die Nacht.
Dann kniete er nieder und begann zu graben. Schließlich stieß er im gefrorenen Erdreich auf das Gesuchte und zog es an die Oberfläche. Ehrfürchtig schlug er das Tuch zur Seite und präsentierte seinen Söhnen den Krummsäbel aus Mohammeds Besitz.
»Dieser Säbel«, verkündete er feierlich, »ist eine der Waffen, die einst dem Propheten gehörten.«
Er zog den Krummsäbel aus der kostbaren Scheide mit den leise klirrenden Metallplättchen. Hernando erschauerte, als er an der inzwischen von Rost überzogenen Klinge Barrax’ Blut erkennen konnte. Der Korsarenanführer! Er hatte gehofft, dass der Säbel im Mondlicht genauso funkeln würde wie vor Jahren, als er die Waffe zum ersten Mal in Hamids Hütte gesehen hatte. Doch den ersehnten Glanz entdeckte er nun in den weit aufgerissenen Augen seiner Söhne. Hernando ließ sich von seinen Erinnerungen davontragen, und noch einmal erschienen vor ihm Fatimas Augen wie Sterne in der Nacht.
»Lange Zeit«, sagte er, »wurde dieser Säbel von Muslimen bewacht. Als wir dieses Gebiet noch beherrschten, wurde er mit Stolz vorgezeigt und mit Mut eingesetzt. Später, in der Zeit der Unterdrückung unseres Volkes, wurde er in der Erwartung eines neuen Sieges versteckt, der eines Tages kommen wird. Ihr dürft nie daran zweifeln. Heute sind wir ihnen so unterlegen wie noch nie, und unsere Glaubensbrüder wurden aus Spanien vertrieben. Aber bis das, was ich vorbereitet habe, Früchte tragen kann, müssen wir uns weiterhin wie Christen verhalten. Wir müssen ihre Sprache sprechen, ihre Speisen essen und ihre Gebete beten, aber ihr dürft den Mut nicht verlieren. Kinder, ich werde es wahrscheinlich selbst nicht mehr erleben, und ihr vermutlich auch nicht, aber eines Tages wird ein Gläubiger kommen und diesen Krummsäbel an sich nehmen und …« In Erinnerung an Hamids Worte von damals zögerte er einen Moment. Was sollte er seinen Söhnen mit auf den Weg geben? Dass mit dieser Waffe die Ungerechtigkeit gerächt werden würde? Doch trotz seines eigenen Grolls wollte er vermeiden, dass seine Kinder mit Hass in ihren Herzen aufwuchsen. »Und er wird diese Waffe erneut ans Licht bringen, als Symbol dafür, dass unser Volk die Freiheit wiedererrungen hat. Ihr dürft nie vergessen, wo sich der Säbel befindet und auf uns wartet, und wenn es in eurem Leben nicht mehr dazu kommt, müsst ihr dieses Wissen an eure Kinder weitergeben, so wie diese es ihren Kindern weitergeben werden. Niemals dürft ihr den Kampf für den einzigen Gott aufgeben. Schwört dies bei Allah!«
»Ich schwöre es«, antwortete Amin feierlich.
»Ich schwöre es«, sprach Muqla ihm nach.
Auf ihrem Rückweg nach Viñas dachte Hernando lange über den Schwur nach, den er seinen Söhnen abgenommen hatte. Er hatte dafür gearbeitet, die beiden Religionen miteinander zu versöhnen. Er wollte erreichen, dass die Christen ihre Anwesenheit hinnahmen und ihnen ihre Lebensweise zugestanden … und dennoch hatte er seine Söhne gegen sie aufgehetzt. Mit welchem Ziel? Hernando war verwirrt. Zu den Bildern der Tausenden unterdrückten Morisken, die sich in El Arenal in Sevilla drängten und wie Vieh behandelt wurden, fügte sich die Erinnerung an den Tag, an dem ihm Hamid den Krummsäbel gegeben hatte. Damals hatten sie für ihr Überleben gekämpft, damals hatten sie ihr Leben für ihre Gesetze und ihre Sitten riskiert. Jetzt erlebten sie die demütigende Ausweisung aus Spanien. Und es blieben nur seine Familie und vermutlich ein paar wenige andere Muslime, die sich in abgelegenen Dörfern versteckt hielten. Wo war das gegenseitige Verständnis, auf das er gesetzt hatte?
Als sie in der Nacht zurückwanderten, legte er seinen Söhnen die Arme um die Schultern und zog sie an sich. Diese beiden Jungen sollten die Flamme der Hoffnung für ihr gedemütigtes Volk bewahren. Gewiss, es war nur ein schwaches Feuer, aber: Jeder Flächenbrand beginnt mit einem winzigen Funkenschlag!
Miguel kehrte nach fast zwanzig Tagen in die Alpujarras zurück. Er saß auf einem neuen Maultier, und Don Pedro de Granada Venegas begleitete ihn. Der Adlige kam allein, ohne Gefolge. Don Pedro bot ihnen an, jederzeit in Campotéjar Zuflucht zu nehmen, auf seinem Lehen an der Grenze zwischen den Reichen Granada und Jaén. Aber sie müssten sich als Christen ausgeben, die aus der Stadt Granada dorthin gezogen waren. Don Pedro würde ihnen gefälschte Dokumente beschaffen, die sie als Bewohner der Stadt Granada und als Altchristen auswiesen. Hernando würde in Zukunft Santiago Pastor heißen und Rafaela den Namen Consolación Almenar annehmen. Niemand würde sich über ihren Umzug wundern. Seit der Vertreibung der Morisken waren ganze Dörfer entvölkert, und ohne Landarbeiter blieben die Felder unbestellt. Das galt nicht nur für das Reich Valencia, sondern auch für die Ländereien der Familie Granada Venegas.
Don Pedro überreichte Hernando zwei Briefe: Ein Schreiben war an den Diener gerichtet, der mit den Angelegenheiten in seinem Lehnsgebiet befasst war. Das andere war ein Empfehlungsschreiben für den Pfarrer von Campotéjar, einen Freund des Adligen. Darin pries er die Frömmigkeit der Neuankömmlinge, die er zudem als seine ergebensten Diener bezeichnete, und garantierte deren Gottesfürchtigkeit. Miguel wurde in den Dokumenten als ein weiterer Familienangehöriger geführt. Wenn sie keine Fehler begingen, würde niemand sie behelligen, versicherte Don Pedro.
»Was ist in der Zwischenzeit mit den Bleibüchern geschehen?«, fragte Hernando Don Pedro unter vier Augen, ehe der Adlige wieder aufsaß, um in die Stadt zurückzureiten.
»Der Erzbischof gibt die Bücher immer noch nicht aus der Hand, und er greift nach wie vor persönlich in die Übersetzung ein. Dabei lässt er auch nicht den kleinsten Hinweis auf islamische Glaubensgrundsätze zu. Auf dem Sacromonte wird eine Stiftskirche gebaut, in der die Reliquien verehrt werden, außerdem noch ein Kolleg für religiöse und juristische Studien. Wir sind gescheitert.«
»Eines Tages wird …«, begann Hernando mit leiser Hoffnung in der Stimme.
Don Pedro sah ihm in die Augen und schüttelte den Kopf.
»Selbst wenn es uns gelingen würde und der Sultan oder ein anderer König der Araber das Barnabas-Evangelium bekanntmachen würde, in Spanien leben keine Muslime mehr. Es wäre bedeutungslos.«
Hernando wollte widersprechen, doch er hielt sich zurück. War es für Don Pedro nicht mehr wichtig, dass die Wahrheit ans Licht kam, ganz unabhängig von den Morisken in Spanien? Immerhin waren die zum Christentum konvertierten muslimischen Adligen der Vertreibung entgangen. Ja, Don Pedro unterstützte ihn und seine Familie, aber glaubte er noch an den einzigen Gott?
»Ich wünsche euch ein langes Leben«, sagte der Adlige zum Abschied. »Wenn ihr Schwierigkeiten habt, dann lasst es mich wissen.«
Nach diesen Worten galoppierte er davon.