68

Nach dem Erlass, der ihre Vertreibung aus Andalusien anordnete, blieb den Morisken in Córdoba kaum ein Monat Zeit, um die einstige Stadt der Kalifen zu verlassen.

Die innere Stärke, die Rafaela in dieser Zeit bewiesen hatte, verschwand genau einen Tag vor Ablauf der von den Behörden festgelegten Frist für die Ausweisung. Da konnte sie nicht mehr und gab sich ganz ihrer Verzweiflung hin. Der Kummer ergriff auch die Kinder. Anders als noch einige Tage zuvor konnte Hernando jetzt nur mehr den Kleinen tröstliche Lügen erzählen: Doch, sie würden wiederkommen, versicherte er ihnen, es sei ja nur eine kurze Reise. Dann ging er ihnen schnell aus dem Weg, damit sie nicht auch noch in seinen Augen die Tränen der Verzweiflung entdeckten. Während Miguel sich zwang, fröhlich mit den Kindern zu spielen und sie mit seinen Geschichten aufzuheitern, überreichte Hernando dem kleinen Muqla die Wachstafel für die Schreibübungen. Für seine fünf Jahre brachte der Junge mit dem Stöckchen bereits ein recht gelungenes Alif zustande – fast so gekonnt wie das seines großen Bruders. Gott, warum nur? Hernando wischte den Buchstaben wieder weg.

Er packte das Bündel und befüllte es mit den Dingen, die er mitnehmen durfte. Zum Schluss holte er aus einem Versteck in einer doppelten Wand die goldene Fatimahand und die alte Abschrift des Barnabas-Evangeliums, die er damals im ehemaligen Minarett am Palast des Herzogs von Monterreal entdeckt hatte. Er verstaute alles in einen schmalen Beutel, den er unter dem Sattel eines der Pferde verstecken wollte, so wie es damals die Maultiertreiber mit dem geschmuggelten Papier aus Xátiva getan hatten. Bevor er dort auch das Schmuckstück verbarg, führte er es an seine Lippen und küsste es. Doch anders als sonst hielt er es fest zwischen den zitternden Fingern, so als widerstrebte es ihm, das Amulett loszulassen.

In der Nacht lagen die beiden in ihrem Bett, Rafaela mit geröteten Augen. Sie verbrachten die letzten Stunden mit Schweigen, als versuchten sie, alles um sich herum in ihr Gedächtnis aufzunehmen: die Gerüche, das Ächzen der Holzmöbel, das Plätschern des Wassers unten im Patio, die Rufe auf der Straße, das regelmäßige Atmen der Kinder, das sie auch durch die Türen zu vernehmen meinten.

Rafaela schmiegte sich eng an ihren Mann. Sie wollte nicht daran denken, dass dies die letzte Nacht sein sollte, in der sie beisammenlagen, und dass sie fortan allein in dem Bett schlafen würde. Ohne nachzudenken, entschlüpften ihr die Worte.

»Nimm mich«, bat sie ihn.

»Aber …« Hernando strich ihr zärtlich übers Haar.

»Ein letztes Mal«, flüsterte sie.

Hernando drehte sich zu seiner Frau um. Sie saß aufrecht auf dem Bett. Zu seiner Überraschung zog sie das Nachtgewand aus und zeigte ihm ihre Brüste. So nackt wie sie war, legte sie sich hin, ohne jede Scheu.

»Das bin ich. Kein anderer Mann wird mich je so sehen, wie du mich jetzt siehst.«

Hernando suchte ihre Lippen und küsste sie, zunächst zärtlich, doch dann ergriff ihn eine Begierde, die er seit Langem nicht mehr gespürt hatte. Rafaela zog ihn an sich, als wollte sie ihn für immer festhalten.

Sie liebten sich und verharrten bis zum Morgengrauen in ihrer engen Umarmung. Keiner der beiden fand in den Schlaf.

Die Rufe von der Straße und die Schläge gegen ihre Tür ließen sie verstummen. Sie hatten das Frühstück gerade beendet und waren alle in der Küche versammelt, in den Ecken lagen die Bündel. Es war wenig Gepäck für eine so lange Reise, dachte Rafaela. Sie wollte nicht erneut in Tränen ausbrechen. Doch bevor sie sich wieder ihrer Familie zuwandte, hatten sich Amin und Laila bereits auf sie gestürzt und umklammerten ihre Hüfte, damit niemand sie auseinanderbrachte.

Die harschen Worte von der Straße mischten sich mit dem allgemeinen Schluchzen im Haus. Wieder hämmerte es gegen die Tür.

»Im Namen des Königs, Tür auf!«

Nur der kleine Muqla wahrte eine sonderbare Ruhe, seine blauen Augen waren die ganze Zeit über auf seinen Vater gerichtet. Die beiden Kleinen heulten los, und Rafaela konnte sich nicht mehr beherrschen, in die Umarmung mit ihren Kindern versunken, gab sie sich ungehemmt ihren Tränen hin.

»Wir müssen los.« Hernando räusperte sich, bevor er den Satz hervorbrachte. Er hielt Muqlas Blicken nicht mehr stand. Niemand hörte auf seine Worte. »Los!«

Er versuchte, die beiden Älteren von ihrer Mutter zu trennen, was ihm erst gelang, als auch Rafaela ihn dabei unterstützte. Hernando schulterte die kleine Truhe und ein großes Bündel, Amin und Laila nahmen den Rest an sich.

Die enge Gasse vor der Tür bot ein trostloses Bild: Die Milizen, die man unter dem Befehl der jeweiligen Jurados für jeden Pfarrbezirk in Córdoba aufgestellt hatte, gingen auf ihrer Suche nach den registrierten Morisken von Haus zu Haus. Hinter Don Gil Ulloa und den Soldaten, die Hernando vor seinem Haus mit hämischer Miene erwarteten, drängten sich zahllose Morisken mit ihrem Gepäck. Alle warteten darauf, dass Hernando sich mit seinen älteren Kindern einreihte, ehe es weiter zum nächsten Haus ging.

»Hernando Ruiz, Neuchrist aus Juviles, und seine Kinder Juan und Rosa, jeweils älter als sechs Jahre.«

Ein Schreiber begleitete Gil und seine Soldaten mit einem Verzeichnis in der Hand und überprüfte die Namen. Neben ihm stand der Pfarrer von Santa María.

Hernando nickte und passte auf, dass seine Kinder nicht wieder zu ihrer Mutter zurückstürzten, die in der Haustür stehen geblieben war. Amin und Laila blickten unentwegt zu der Menge der Vertriebenen, die schweigend, niedergeschlagen und besiegt hinter den Soldaten stand.

»Los, geht zu den anderen!«, befahl ihnen Gil.

Hernando stand in der Tür, drehte sich ein letztes Mal zu Rafaela um und lächelte sie an. Es war alles gesagt. Er umarmte seine drei Kinder, die er zurücklassen musste, und überhäufte sie zum Abschied mit Küssen.

»Los!«, herrschte ihn der Jurado an.

Hernandos Herz raste, und er biss sich mit geröteten Augen auf die Unterlippe. Für den Abschied von seiner Familie fehlten ihm die Worte. Er wollte gerade dem Jurado gehorchen, da stürmte Rafaela zu ihm, umschlang seinen Hals und küsste ihn ein letztes Mal. Die Truhe und das Bündel fielen auf die Straße, als er ihre Umarmung erwiderte. Der leidenschaftliche Abschiedskuss brachte ihren Bruder Gil innerlich zum Rasen. Die Soldaten in seiner Begleitung beobachteten die Szene und schüttelten abschätzig den Kopf: Die Schwester eines Jurados, eine Altchristin, tauschte mit einem Mauren gierige Küsse. Und noch dazu in aller Öffentlichkeit!

Don Gil Ulloa näherte sich dem Ehepaar und versuchte, die beiden mit Gewalt auseinanderzubringen – erfolglos. Sogleich kamen ihm mehrere Soldaten zu Hilfe. Sie stießen die Kolben ihrer Arkebusen in Hernandos Rücken. Als er sich daraufhin umdrehen wollte, prügelten sie mit aller Wucht auf ihn ein. Rafaela stürzte zu Boden und stöhnte, Amin wollte seinem Vater helfen und trat einen der Soldaten.

Den letzten Fausthieb versetzte Don Gil Ulloa seinem verhassten Schwager persönlich. Seine Männer hielten Hernando dafür fest und stellten ihn vor den Jurado, der Moriske blutete bereits aus der Nase, sein Sohn an der Lippe.

»Verdammter Maurenhund!«, murmelte Don Gil, nachdem er ihm mit aller Kraft ins Gesicht geschlagen hatte.

Rafaela stand wieder aufrecht und wollte ihren Mann beschützen, doch Don Gil verpasste seiner Schwester einen harten Faustschlag, und sie stolperte zur Seite.

»Im Namen des Königs, beschlagnahmt dieses Haus!«, befahl daraufhin der Schreiber.

Hernando war überrascht und wollte protestieren, doch die Soldaten prügelten sofort wieder auf ihn ein und schleiften ihn schließlich zu den wartenden Morisken, die die heftige Auseinandersetzung beobachtet hatten. Amin und Laila schubsten sie hinter ihrem blutenden Vater her. Don Gil gab den Befehl zum Aufbruch, und die Morisken setzten sich in Bewegung. Hernando und seine Kinder griffen nach der Truhe und den Bündeln, während die Kolonne, von den Soldaten eskortiert, an ihrem Haus vorbeimarschierte.

»O Gott! Nein!«, schrie Rafaela, als ihr Mann an ihr vorbeiging. »Hernando, ich liebe dich!«

Noch bevor er ihr antworten konnte, wurde Hernando von der drängenden Masse seiner Glaubensbrüder weitergestoßen. Er versuchte noch, sich umzudrehen, da bogen sie bereits in die nächste Gasse ein. Der verzweifelte Vater mit seinen beiden Kindern wurde von der Menschenmenge einfach mitgerissen.

Am Ende dieses eisigen Februarmorgens wurden die etwa zehntausend Morisken aus Córdoba außerhalb der Stadt auf dem Campo de la Verdad versammelt, auf der anderen Seite der römischen Brücke. Die Milizen patrouillierten um sie herum und überwachten sie. Auch Miguel befand sich dort, mit seinem Maultier und den Pferden, die heillos überladen waren. Er wollte überprüfen, ob sich die Morisken, die ihn vor dem allgemeinen Aufbruch angeheuert hatten, an die Absprachen hielten. Später würde er allein mit den Tieren und dem Geld für die Beförderung wieder von Sevilla zurückkehren.

»Warum nicht?« Fatima sprach die Frage laut aus, schließlich war sie allein im Saal. »Warum eigentlich nicht?«

Ein wohliges Gefühl durchströmte sie bei dem Gedanken. Ephraim, der Überbringer der neuesten Nachrichten aus Córdoba, hatte den Palast längst wieder verlassen. Sobald die ersten vertriebenen Morisken aus Valencia in den Barbareskenstaaten gelandet waren und Fatima somit wusste, was Ibn Hamid bevorstand, hatte sie Ephraim zu sich einbestellt. Der jüdische Kaufmann hatte sofort seine Beziehungen spielen lassen, für die Religion und Herkunft weniger wichtig waren als eine gute Bezahlung, und ihr die gewünschten Neuigkeiten überbracht: Auch der Erlass über die Vertreibung aus Andalusien sei in Kraft, folglich werde auch Hernando bald aus Spanien ausgewiesen werden, und er sei wahrscheinlich schon längst auf dem Weg nach Sevilla. Und er könne nichts dagegen unternehmen. Der Jude hatte auch erfahren, dass Hernando Ruiz sich bei den Obrigkeiten von Córdoba und offenbar auch in Granada, wo sein Gesuch auf Anerkennung als Hidalgo beim Obergericht anhängig war, viele Feinde gemacht hatte. Und die christliche Gattin werde mit den Kindern, die noch nicht sechs Jahre alt waren, in Spanien bleiben müssen.

Sobald Ephraim gegangen war, kam Fatima eine Idee. Sie ließ den Blick durch den prunkvollen Saal schweifen. Die Holzmöbel mit Intarsienarbeiten, die kleinen und großen Kissen aus kostbaren Stoffen, die Säulen, die Teppiche auf dem Marmorfußboden, die Lampen – all das barg auf einmal einen neuen Sinn, der sie zu einer Entscheidung verleitete. Denn schon seit geraumer Zeit hatte sie das Gefühl, in ihren großzügigen Gemächern zu ersticken. Abdul und Shamir hatten vor Kurzem versucht, ein spanisches Handelsschiff zu kapern, das aber nur als Köder gedient hatte, und sie waren von den restlichen, plötzlich auftauchenden Schiffen der Flotte eingekesselt und gefangen genommen worden. Wie hatten sie nur in so eine Falle tappen können? Vielleicht besaßen sie einfach zu viel Selbstvertrauen … Einige ihrer Männer, die entkommen konnten, überbrachten verwirrende und widersprüchliche Nachrichten: Die einen sagten, sie seien tot, die anderen, sie seien nur Gefangene, und einer behauptete sogar, sie hätten sich selbst ins Meer gestürzt. Dann kam jemand mit der Nachricht, sie seien zur Galeere verurteilt worden, aber auch das konnte niemand mit Gewissheit bestätigen. Fatima beweinte das Schicksal ihres Sohnes, auch wenn sie in ihrem tiefsten Inneren längst erkannt hatte, dass seit dem Zusammentreffen der Korsaren mit Ibn Hamid in Toga etwas in ihrer Beziehung zerbrochen war.

Shamirs Witwe hatte nicht lange gezögert und das ansehnliche Vermögen an sich gerissen, das ihr Ehemann hinterließ, und die Richter gaben ihr ohne zu zögern recht. Fatimas Beziehung zu Shamirs Familie beschränkte sich auf wenige Berührungspunkte. Für diese Leute war sie nur die Mutter des christlichen Stiefbruders, und Shamirs Schwiegereltern setzten ihr eine Frist, den Palast zu verlassen. Was sollte sie nun tun? Die Barmherzigkeit von Abduls Gattin oder einer ihrer Töchter in Anspruch nehmen?

Doch es gab noch eine andere Möglichkeit. Der Vorschlag kam von Ephraim, als er von ihrer neuen Situation erfahren hatte. Wenn er schwieg, würde Shamirs Familie niemals von den zahlreichen Investitionen erfahren, die die beiden Korsaren im gesamten Mittelmeerraum getätigt hatten. Fatima könnte sich mit diesem Geld ein neues Leben aufbauen, und Ephraim wollte die Führung und somit den Gewinn aus den Geschäften nicht verlieren, die Shamirs Familie in Zukunft bestimmt jemand anderem anvertrauen würde. Fatima konnte auf diese Weise eine reiche Frau bleiben. Allerdings nicht in Tetuan, denn hier würde sie niemals die Herkunft ihres Vermögens offenlegen können.

Fatima spazierte in dem Saal auf und ab. Ohne Abdul und Shamir war sie zwar allein auf sich gestellt, aber endlich auch frei! Nichts hielt sie mehr in Tetuan. Sie konnte die Stadt für immer verlassen. Zudem sollte nun Ibn Hamid aus Spanien ausgewiesen werden, und seine Gattin musste zurückbleiben. Wer, wenn nicht Gott, konnte ihr eine so eindeutige Botschaft schicken?

Sie ging in den Patio und betrachtete den Wasserspeier. All dies würde sie schon bald nicht mehr sehen müssen. Konstantinopel! Dort könnte sie leben. Ibn Hamid musste inzwischen über fünfzig Jahre alt sein. Wie er jetzt wohl aussah? Da war sie sich plötzlich sicher. Ja! Sie musste ihn wiedersehen! Das Schicksal, das bisher so hart zu ihnen gewesen war, schenkte ihr nun die Hoffnung auf ein Wiedersehen. Und die Frau, die gelitten und getötet, die geliebt und gehasst hatte, wollte sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen.

»Lasst Ephraim kommen!«, rief sie entschlossen zu ihren Sklaven.

Der Jude hatte gesagt, dass die Morisken von Sevilla aus deportiert werden würden. Sie musste unbedingt dort sein, bevor Hernando das Schiff bestieg, das ihn über die Meerenge bringen würde. Sie hatte von den abscheulichen Gräueltaten an Flüchtlingen aus dem Königreich Valencia gehört. Auch Tetuan hieß die Vertriebenen, die es bis in die Korsarenstadt geschafft hatten, wahrlich nicht willkommen. Fatima brauchte aber ein Schiff, mit dem sie anschließend gleich nach Konstantinopel weiterreisen konnten. Und sie benötigte Geleitbriefe, mit denen sie sich in der spanischen Stadt frei bewegen und nach ihm suchen konnte. Aber zuvor musste sie noch ihre Geschäfte regeln und sich verschiedene Gefälligkeiten erkaufen. Ephraim würde sich darum kümmern. Wie immer. Er erreichte stets, was sie wollte … um jeden Preis.

Bis Don Gil Ulloa mit den neuen Anordnungen zurückkehrte, durften sie in dem Haus bleiben. Rafaela saß abwesend in ihrem Zimmer, während ein Notar und ein Büttel eine vollständige Liste über die Gegenstände des Hauses und ihren persönlichen Besitz erstellten.

»Aber der Erlass …«, stammelte Rafaela, als sie sah, wie der Notar sogar in der Truhe wühlte, in der sie ihre Kleidung aufbewahrte, »der Erlass besagt, dass nur die Liegenschaften der Krone zufallen. Alles andere gehört mir.«

»Laut Erlass«, wies der Mann sie schroff zurecht, während der Büttel mit lüsternem Blick einen weißen Spitzenunterrock gegen das Licht hielt, »dürfen die Morisken ihr Hab und Gut mitnehmen. Wenn dein Mann das nicht getan hat, dann …«

»Aber die Kleider gehören mir«, protestierte sie.

»Ich gehe davon aus, dass du diese Ehe ohne Mitgift eingegangen bist, oder?«, hielt ihr der Notar entgegen. Unbeirrt listete er den Unterrock in seinen Akten auf. »Du hast also keinen eigenen Besitz«, stellte er trocken fest. »Der Rat oder ein Richter werden über die Eigentümerschaft entscheiden.«

»Aber sie gehören mir«, versicherte Rafaela mit dünner Stimme.

In dem Moment nahm der Büttel ein zartes, ärmelloses Mieder in die Hand und hielt es in Rafaelas Richtung, als versuchte er sich vorzustellen, wie ihre Brüste darin aussehen mochten.

Die so gedemütigte Frau rannte aus dem Schlafgemach. Das Gelächter des Büttels verfolgte sie bis in den Patio, wo die Kinder warteten.

Wie kann unser Herrgott das nur zulassen? Rafaela lag in dieser Nacht mit den drei Kindern dicht gedrängt im Bett und starrte an die Decke. Keines der Kinder hatte in seinem eigenen Bett schlafen wollen, und auch Rafaela wollte nicht allein sein. Stundenlang streichelte sie ihnen die Rücken und strich über ihre Köpfe. Am Nachmittag hatte sie einen Soldaten, der sich mit dem Büttel im Haus besprach, sagen hören, dass die Kolonne der Ausgewiesenen bereits nach Sevilla aufgebrochen sei. Die Bewohner von Córdoba hatten sie mit wüsten Beschimpfungen und spöttischen Rufen verabschiedet. Sie stellte sich Hernando mit Amin und Laila in der Menge vor. Vielleicht durften ihre Kinder unterwegs hin und wieder bei Miguel auf dem Maultier sitzen. Die Pferde hatten sie an andere Morisken vermietet. Was sollte nur aus Hernando und den Kindern werden? Auf ihren Lippen spürte sie noch den letzten leidenschaftlichen Kuss. Wo war die Barmherzigkeit, von der die Priester und die frommen Christen immer sprachen? Wo waren die Gnade und das Mitleid, die sie die ganze Zeit predigten?

Die kleine Salma zuckte im Schlaf und drohte immer wieder aus dem Bett zu fallen. So gut es ging, richtete Rafaela sich auf und zog ihre jüngste Tochter zu sich.

Welche Zukunft stand diesem Kind bevor? Das Klosterleben, dem sie selbst entgangen war? Der Dienst bei einer reichen Familie? Das Hurenhaus? Und Muqla und Musa? Ihr fiel wieder der lüsterne Blick des Büttels ein. Sie musste darauf gefasst sein, dass die Leute sie schlecht behandeln würden. Sie war nur die Gattin eines Morisken, der sie verlassen hatte. Und ihre Kinder hatten einen Ketzer zum Vater. Ganz Córdoba wusste Bescheid!

Wovon sollten sie leben? Auf Unterstützung durch ihre Geschwister durfte sie nicht hoffen. Konnte sie mit der Hilfe von anderen Christen rechnen?

Sie schluchzte und nahm ihre Kleinen in den Arm. Muqla öffnete schläfrig die blauen Augen.

»Junge, schlaf weiter«, flüsterte sie und wiegte ihn sanft. Bald atmete der Junge wieder regelmäßig, und Rafaela wollte wie sonst auch Trost im Glauben finden, aber die gewohnten Bittgebete gingen ihr nicht über die Lippen. Betet zur Jungfrau! Ihr fiel Hernandos Auftrag wieder ein. Hernando glaubte an Maria. Sie hatte gehört, wie er den Kindern von der Heiligen Jungfrau erzählte und begeistert berichtete, dass Maria das Bindeglied zwischen den beiden bis aufs Blut verfeindeten Religionen war. Der Glaube an ihre Unbefleckte Empfängnis verband Christen und Muslime seit Jahrhunderten miteinander.

»Maria«, wisperte Rafaela in die Nacht.

Während sie das Bittgebet zur Heiligen Jungfrau flüsterte, wies ihr Herz ihr plötzlich den Weg und führte sie zu einer unumstößlichen Entscheidung. Zum ersten Mal seit Wochen konnte sie wieder lächeln, und endlich gaben ihre schweren Augenlider dem drängenden Schlafbedürfnis nach.

Gleich am nächsten Tag verließ Rafaela in der Morgendämmerung mit Salma auf dem Arm das Haus und ging mit Musa und Muqla zwischen den noch müden Feldarbeitern über die römische Brücke. Ihr einziges Gepäck waren ein Korb mit Essen und der Beutel mit dem Geld, das Miguel ihr übergeben hatte, nachdem der gierige Notar gegangen war.

»Mutter, wohin gehen wir?«, wollte Muqla nach einiger Zeit wissen.

»Wir suchen deinen Vater«, antwortete sie gefasst – den Blick auf die gewaltige Strecke gerichtet, die sich vor ihnen auftat.

Rafaela wusste, dass sie mit der Hilfe der Heiligen Jungfrau ihre Familie wieder zusammenbringen konnte, so wie Hernando durch sie die beiden Religionen zusammenführen wollte.

El Arenal in Sevilla war ein riesiges Gelände, das sich zwischen dem Guadalquivir und der mächtigen Stadtmauer bis hin zum Torre del Oro – dem »Goldturm« – erstreckte. Hier war alles angesiedelt, was für das Funktionieren dieses bedeutenden Flusshafens notwendig war. Sevilla war der wichtigste Umschlagplatz für die Flotten aus Amerika, die die Schätze der Eroberer herbeischafften. Seeleute, Kalfaterer, Schiffszimmerer, Stauer, Soldaten … Hunderte Menschen waren hier im Hafen für gewöhnlich mit dem Warenverkehr oder mit der Reparatur und Wartung der Schiffe beschäftigt. Doch im Februar 1610 wurde El Arenal zu einem streng bewachten Gefängnis für Tausende Moriskenfamilien, die mit Sack und Pack auf ihre Deportation in die Barbareskenstaaten warteten. Inmitten der aneinandergedrängten, gedemütigten Menschen streiften Büttel und Soldaten umher. Sie suchten nach Gold und Geldstücken, filzten Männer und Frauen, Alte und Kranke und sogar die Kinder. Anders als die Morisken aus Valencia mussten die Andalusier ihre Schiffspassagen selbst bezahlen, und die Reeder nutzten ihre Notlage aus, indem sie das Doppelte des üblichen Preises verlangten.

Zwischen den zahlreichen, in einigem Abstand vom Ufer vor Anker liegenden Schiffen befand sich auch eine große katalanische Karavelle. Auf ihr stand Fatima an der Reling und beobachtete das Treiben an Land. Wie sollte sie Hernando zwischen all diesen Flüchtlingen nur ausfindig machen? Seit den frühen Morgenstunden beförderten Barkassen ununterbrochen Vertriebene, Waren und Gepäck vom Flussufer zu den Schiffen, die sich auf die Überfahrt zu den Barbareskenstaaten vorbereiteten. Fatima blickte in die verzerrten Gesichter der Morisken auf den Schiffen. Verzweifelte Frauen, denen man die Kinder weggenommen hatte, gebrochene Männer, die nicht nur ihre letzten Hoffnungen aufgeben mussten, sondern auch ihre Häuser und Familien, altersschwache oder kranke Menschen, die von den Barkassen auf die Schiffe gehievt werden mussten. Andere wirkten zu Fatimas Überraschung geradezu glücklich, beinahe so, als hätten sie soeben ihre Freiheit errungen. Doch ihren Ehemann konnte sie auf keinem der Boote entdecken. Während der Überfahrt von Tetuan hatte sich Fatima den verrücktesten Träumen hingegeben. Sie hatte sich ausgemalt, wie Ibn Hamid auf sie zueilte und sie in seine Arme schloss, wie er ihr versicherte, sie niemals vergessen zu haben, und ihr ewige Liebe schwor. Dann holte sie sich selbst immer wieder in die Wirklichkeit zurück. Es war dreißig Jahre her, seit sie … Sie war keine junge Frau mehr, auch wenn sie nach wie vor schön war. Aber hatte sie kein Anrecht auf Glück?

»Sag dem Kapitän, dass mich eine Barkasse ans Ufer bringen soll«, wies Fatima einen der drei Nubier an, die sie dank Ephraims Vermittlung begleiteten. »Sofort!«, schrie sie den Sklaven an, als er zögerte. »Ihr begleitet mich. Nein«, verbesserte sie sich, als sie bedachte, dass drei riesige Schwarze zu viel Aufmerksamkeit erregen könnten, »sag dem Kapitän, dass er vier bewaffnete Seeleute für meine Begleitung abstellen soll.«

Sie musste unbedingt an Land gehen und dort nach Hernando suchen. Sie führte ausreichend Geleitbriefe und Genehmigungen mit sich. Ephraim hatte gute Arbeit geleistet, wie immer. Doch für alle Fälle … Sie tastete nach dem Beutel voller Goldmünzen, den sie unter ihren Kleidern verbarg. Notfalls konnte sie die christlichen Soldaten bestechen, die das Gelände bewachten.

Kurz darauf stieg sie in die Barkasse und kam neben einer Dienerin und den vier katalanischen Seeleuten auf einer Bank zu sitzen.

An Land bahnten ihr die Männer den Weg durch die Menschenmasse, und so durchstreifte Fatima das gesamte Gelände von El Arenal. Dabei erwiderte sie ungerührt die Blicke der Schaulustigen. Wie mochte ihr Ehemann inzwischen wohl aussehen?

Rafaela ließ sich erschöpft auf einen Baumstumpf am Wegesrand sinken und setzte Salma und Musa ab, die die letzte Strecke nur noch geweint hatten, obwohl sie von ihr getragen wurden. Nur der fünfjährige Muqla war schweigend neben seiner Mutter hergegangen, als verstünde er die Bedeutung ihres Marsches.

Seit mehreren Tagen liefen sie nun schon der Kolonne der vertriebenen Morisken aus Córdoba hinterher, die ihnen zwar nur eine halbe Tagesreise voraus war, die sie aber dennoch nicht einholen konnten. Rafaela war am Ende ihrer Kräfte. Ihre Beine und Arme schmerzten, ihre Füße waren wund gelaufen, und im Rücken spürte sie einen stechenden Schmerz. Und die Kleinen hörten einfach nicht auf zu jammern!

So verbrachte sie eine geraume Weile in der beruhigenden Stille der brachliegenden Felder und blickte zum Horizont, dorthin, wo in weiter Ferne Sevilla liegen musste.

»Los, Mutter, lass uns weitergehen«, drängte Muqla schließlich.

Sie schüttelte den Kopf. Das war das Ende!

»Bitte, geh weiter«, forderte der Junge sie auf und zog an ihrem Arm.

Sie machte einen Versuch, doch sobald sie sich erhob, sackte sie in sich zusammen. Sie musste sich wieder setzen.

»Lass uns nur noch ein bisschen rasten«, versuchte sie Muqla zu besänftigen. »Wir gehen gleich weiter.«

Da wurde Rafaela das außergewöhnliche Aussehen ihres Sohnes zum ersten Mal bewusst: Seine hellen blauen Augen sahen sie erwartungsvoll an. Sein Blick war vollkommen klar. Alles Übrige – seine Haare, seine Kleider, seine zerschlissenen Schuhe – vermittelte eher den zerlumpten Eindruck jener Kinder, die in den Straßen von Córdoba bettelten. Aber diese strahlenden Augen … Sollte Hernando recht behalten, der so große Hoffnung in dieses Kind setzte?

»Wir haben schon zu oft gerastet«, beschwerte sich Muqla.

»Ich weiß.« Rafaela breitete die Arme aus. »Ich weiß, mein Herz«, schluchzte sie ihm ins Ohr, als sie ihn umarmte.

Was sollte nur aus ihnen werden?

Plötzlich hörte sie aus einiger Entfernung Lärm. Bald darauf konnten sie die ersten Menschen und Pferde erkennen, die offenbar ebenfalls in ihre Richtung liefen. Es wurden immer mehr. Das waren die Morisken aus Castro del Río, Villafranca, Cañete und all den anderen Orten, die sich ebenfalls im Hafen von Sevilla einfinden mussten. Rafaela trocknete ihre Tränen und vergaß ihre Schmerzen. Sie stand auf, verbarg sich mit ihren Kindern etwas abseits vom Weg, und als die Kolonne schließlich an ihnen vorüberzog und sie keinen Wachsoldaten darunter entdeckte, packte sie die Kleinen und mischte sich einfach unter die Leute. Einige der Flüchtlinge sahen sie verwundert an, sagten aber weiter nichts. Alle waren unterwegs in die Verbannung, auf eine Familie mehr oder weniger kam es nicht an. Rafaela zückte ihren Geldbeutel und entlohnte einen der Maultiertreiber großzügig, damit sie Salma und Musa zwischen das Gepäck setzen durfte, das eines der Tiere schleppte. Nun konnten sie Sevilla doch noch rechtzeitig erreichen. Allein diese Hoffnung verlieh ihr neue Kräfte. Muqla ging beglückt neben ihr weiter, und sie hielten einander an den Händen.

Bei dem ekelhaften Gestank der Menschen, die hier unter widrigsten Umständen zusammengepfercht waren, verschlug es Fatima den Atem. Dazu kamen die lauten Rufe, der Rauch der Lagerfeuer und der Kochstellen, das Waten im Schlamm, die Kinder, die überall herumsprangen, die Stöße, die sie trotz ihrer Beschützer abbekam, das ewige Hin und Her, das sie immer wieder an Stellen führte, die sie bereits überprüft hatten: So würde sie nie ans Ziel kommen.

Sie fragte einige Soldaten nach Hernando, doch diese glotzten sie bloß an, als wäre sie verrückt, und prusteten los.

»Diese Ketzer sind doch alle gleich! Die haben keine Namen!«, schimpfte ein Soldat.

An der Stadtmauer entdeckte Fatima eine Steinbank und ließ sich erschöpft darauf nieder.

»Ihr macht euch jetzt auf die Suche nach meinem Mann«, befahl sie dreien der Seeleute in ihrer Begleitung. »Er heißt Hernando Ruiz, und er stammt aus Juviles, einem Dorf in den Alpujarras. Er ist mit den Leuten aus Córdoba gekommen. Er hat blaue Augen«, wunderschöne blaue Augen, dachte sie, »und er hat einen Jungen und ein Mädchen bei sich. Ich warte hier auf euch. Wenn ihr ihn findet, werde ich euch großzügig belohnen, euch alle«, sagte sie noch, um den Seemann zu beruhigen, der bei ihr bleiben musste.

Die drei Männer machten sich eilig davon.

Einige Zeit später kam einer der Männer aufgeregt angelaufen.

»Der Mann, den Ihr sucht, Herrin«, keuchte er, »ist dort, bei den Pferden.«

Fatima erhob sich von der Bank.

»Bist du ganz sicher?«

»Ja, ich habe mit ihm gesprochen. Er hat mir bestätigt, dass er Hernando Ruiz aus Juviles ist.«

Fatima erschauerte.

»Hast du ihm gesagt …?« Ihre Stimme bebte. »Hast du ihm gesagt, dass man ihn sucht?«

Der Katalane zögerte.

»Nein«, antwortete er unsicher.

»Bring mich zu ihm!«

Der Seemann führte sie zu einem Mann, der ihnen den Rücken zuwandte und sich mit einem Krüppel unterhielt, der auf Krücken gestützt dastand. Fatimas Hände fingen an zu zittern. Sie blieb stehen und wartete ab, ob er sie bemerken würde: Sie wagte sich keinen weiteren Schritt vor. Der Katalane blieb bei ihr. Was hatte die Frau bloß? Der Seemann deutete in Richtung des Morisken. Miguel, der mit dem Gesicht zu ihnen stand, erkannte schließlich den Mann wieder, der soeben noch mit Hernando gesprochen hatte, und machte seinen Herrn mit einer Kopfbewegung auf ihn aufmerksam.

»Ich glaube, jemand will etwas von dir, Señor.«

Hernando drehte sich um. Sehr langsam, als ahnte er, dass gleich etwas Außergewöhnliches geschehen werde. Zunächst sah er den Seemann, einige Schritte von ihnen entfernt. Aber neben ihm stand eine Frau … Genau in dem Moment lief jemand mit einem großen Bündel auf dem Rücken vorüber und verdeckte die Sicht auf … Dann waren da plötzlich nur mehr diese tiefschwarzen Mandelaugen, deren Blick ihn durchbohrte. Ihm stockte der Atem. Fatima! Er war wie gelähmt. Fatima!

Der kleine Muqla musste seine Mutter zurückhalten. Er zerrte an ihrer Hand, als sie angesichts der Stadtmauer von Sevilla die Schritte beschleunigen wollte. Die Morisken in der Kolonne dagegen hatten ihren ohnehin schleppenden Gang noch weiter verlangsamt. Überall waren tiefe Seufzer und jämmerliche Klagen zu hören. Ein alter Mann, der neben ihnen ging, schüttelte den Kopf und stöhnte leise auf, nur einmal, doch es war, als enthielte dieser Laut all seinen Schmerz.

»Nicht stehen bleiben! Ihr Mistkerle!«, rief ein Soldat den Morisken zu.

»Na los, geht weiter!«, hörte man einen anderen.

Rafaela ließ Muqlas Hand los und strich Musa zärtlich über die Wange.

»Na, mein Kleiner, aufwachen!«, sagte sie sanft.

Der Maultiertreiber sah sie erstaunt an. Dann weckte sie auch Salma.

»Wir sind da«, flüsterte sie dem Mädchen ins Ohr und ließ sich vor dem Mann ihre Freude nicht anmerken.

Die Kleine murmelte ein paar unzusammenhängende Worte und öffnete schlaftrunken die Augen, um sie dann gleich wieder zu schließen. Rafaela hob sie vom Maultier und drückte sie fest an sich.

»Euer Vater wartet auf uns!«, flüsterte sie ihr ins Ohr und versank mit den Lippen im zerzausten Haar des Mädchens.

Fatima schloss für einen Moment die Augen und presste die Lippen zusammen. Dann atmete sie tief durch und ging auf ihn zu, langsam, mit Tränen in den Augen.

Hernando konnte den Blick nicht von Fatima abwenden. Die vergangenen dreißig Jahre hatten ihrer Schönheit nichts anhaben können. Längst verdrängte Erinnerungen stiegen in ihm auf und ließen ihn erschaudern wie einen kleinen Jungen, als sie schließlich vor ihm stand.

Endlich.

Sie sah ihn an, liebkoste mit dem Blick dieses Gesicht, das so anders war als das in ihrer Erinnerung. Die Jahre waren nicht spurlos an ihm vorübergegangen, aber das Blau seiner Augen war noch immer so strahlend wie damals, als sie sich in den Alpujarras in ihn verliebte.

Sie wagte nicht, ihn zu berühren, und kämpfte mit aller Macht gegen den Drang an, ihn zu umarmen und sein Gesicht mit Küssen zu bedecken. Ein Passant stieß sie im Vorübergehen aus Versehen an, und Hernando fing sie auf. Sie spürte seine Hand auf ihrer Haut und atmete tief durch.

Da verschmolzen sie in einer innigen Umarmung. Sie vergaßen alles um sich herum und gaben sich ihren Gefühlen hin. Hernando atmete den Duft von Fatimas Haaren ein und zog sie an sich heran, als wollte er sie nie mehr loslassen.

»Ich habe so lange davon geträumt, dass … «, flüsterte er ihr ins Ohr, doch Fatima ließ ihn nicht weiterreden. Sie blickte zu ihm auf und küsste ihn. Es war ein leidenschaftlicher, sehnsüchtiger Kuss, den er erwiderte, wobei er seine Hände in ihren Nacken schob.

Miguel und die beiden Kinder, die zwischen den Beinen der Pferde hervorgekommen waren, starrten die beiden sprachlos an.

Die Kolonne der Morisken lief an der Stadtmauer entlang und passierte schließlich die Wachlokale, die man an den Zugängen zu El Arenal errichtet hatte. Die Neuankömmlinge verloren sich in der Menge der bereits Wartenden, doch Rafaela blieb stehen, um sich einen Überblick über das Gelände zu verschaffen. Sie wusste, wonach sie Ausschau halten musste. Eine Pferdeherde mit sechzehn Tieren müsste selbst in diesem Durcheinander auszumachen sein. Und Hernando hielt sich mit den Kindern gewiss bei den Pferden auf.

»Bleibt alle dicht bei mir. Lauft nicht davon«, sagte sie zu ihren Kindern und ging schnurstracks auf ein Fuhrwerk zu, das sie in der Nähe entdeckt hatte. Ohne um Erlaubnis zu bitten, stieg sie einfach auf den Kutschbock.

»He! Was machst du da?«, fragte der Kutscher und zog an ihrem Rock.

Doch Rafaela hielt dem Zerren stand, stellte sich auf die Zehenspitzen und spähte über das weitläufige Gelände. Wo waren die sechzehn Pferde?

»Das kann doch nicht so schwer sein«, murmelte Rafaela.

Der Mann wollte nun seinerseits hinaufsteigen, doch Muqla stürzte sich auf ihn und umklammerte sein Bein. Sofort waren sie von Schaulustigen umringt, und der Kutscher versuchte, den Jungen unsanft abzuschütteln.

»Sechzehn Pferde!«, sprach sich Rafaela Mut zu.

Das laute Schimpfen des Mannes, den Muqla mit aller Kraft zurückzuhalten versuchte, war nicht zu überhören.

»Dort!«, rief sie plötzlich freudig.

Die Pferde waren unterhalb des glänzenden Turmes, der sich am anderen Ende des Geländes erhob, deutlich zu erkennen.

Wie ein junges Mädchen hüpfte Rafaela vom Fuhrwerk. Den heftigen Schmerz in ihren Füßen, als sie am Boden aufkam, nahm sie gar nicht mehr wahr.

»Habt tausend Dank, guter Mann«, sagte sie zu dem verdutzten Kutscher. »Muqla, komm, lass den Herrn in Frieden.« Der Junge ließ von seinem Opfer ab und brachte sich vor dessen Fußtritten in Sicherheit. »Los, Kinder, es geht weiter!«

Rafaela bahnte sich ihren Weg durch die Menge der wartenden Morisken. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen, während sie Männern und Frauen auswich.

»Kinder, wir haben es gleich geschafft«, sagte sie immer wieder.

Die beiden Kleinen trug sie auf den Armen. Muqla konnte nur mit Mühe Schritt halten.

»Ich will nie wieder ohne dich sein!«, hatte Fatima nach ihrem langen Kuss gerufen. Jetzt schmiegten sie sich aneinander, und für einige Augenblicke waren sie wieder der junge Maultiertreiber und das Mädchen aus den Alpujarras.

»Komm mit mir nach Konstantinopel«, sagte Fatima. »Nimm deine Kinder mit. Es wird uns an nichts fehlen. Ich habe Geld, Ibn Hamid, viel Geld. Nichts und niemand kann uns aufhalten.«

Hernando hörte, was sie sagte, und sah sie dabei unschlüssig an.

»Deiner anderen Familie lassen wir Geld zukommen«, setzte Fatima hastig hinzu. »Ephraim wird sich darum kümmern. Auch ihnen wird es an nichts fehlen, das schwöre ich dir.« Fatima sprach, ohne nachzudenken, die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus.

Amin und Laila sahen sich staunend an. Unwillkürlich suchten sie Miguels Nähe, während sie sprachlos den Worten dieser Fremden lauschten, die soeben ihren Vater geküsst hatte.

»Ich habe ein Schiff. Ich habe die notwendigen Genehmigungen für die Beförderung unserer Glaubensbrüder in die Barbareskenstaaten. Danach fahren wir weiter gen Osten. Und dort ziehen wir in ein großes Haus … Ach was! In einen Palast! Wir werden alles haben, was wir brauchen. Wir können wieder so glücklich sein wie früher, als wäre nichts geschehen, jeden Tag werden wir uns wiederfinden …«

Hernando war überwältigt von seinen Gefühlen, außerstande, auch nur ein Wort hervorzubringen.

»Niemand wird uns je wieder trennen können, niemals«, sagte Fatima immer wieder, als Hernando schließlich zu seinen Kindern blickte.

Was sollte aus ihnen werden? Und Rafaela? Und den Kleinen, die in Córdoba zurückgeblieben waren? Amin und Laila durchbohrten ihn mit ihren Blicken, unzählige Fragen und Anschuldigungen standen ihnen ins Gesicht geschrieben. Wer war diese Frau? Was für ein Leben sollte das sein, so weit weg von ihrer Mutter? Hernando spürte ihre Ablehnung wie tausend feine Nadeln, die sich in sein Fleisch bohrten. Miguel … Miguel sah zu Boden, und seine Beine wirkten noch krummer als sonst. Fatima verstummte und machte einen Schritt zurück. Statt ihrer Freudenrufe waren auf einmal wieder der Lärm und die Klagen der Morisken zu hören, die in El Arenal eingepfercht waren. Die Wirklichkeit kehrte in ihr Bewusstsein zurück. Hernando überlegte. Nur der Allmächtige konnte seine erste Frau hierhergeleitet haben!

Er wollte gerade antworten, da hörte er auf einmal Lailas Stimme.

»Mutter!«, rief seine Tochter und rannte los.

»Lai …!«, begann Hernando. Mutter? Da sah er Amin hinter seiner Schwester herrennen. Er erstarrte: Nur wenige Schritte vor ihm stand Rafaela, umarmte Amin und Laila und überhäufte sie mit Küssen. Die drei jüngeren Geschwister umringten sie. Sie sagten kein Wort, sie blickten nur erwartungsvoll zu ihm.

Rafaela löste sich sanft aus der Umarmung der Kinder und ging auf ihren Mann zu. Sie lächelte. Hernando war zu keiner Reaktion fähig. Seine Frau wunderte sich und überprüfte hastig ihre Kleider. War etwas mit ihrem Aussehen? Ja, sie war schmutzig und ging in Lumpen. Beschämt versuchte sie, zumindest ihren Rock glatt zu streichen.

»Ist das deine christliche Frau?« Hernando hörte aus Fatimas geflüsterten Worten zugleich eine Frage und einen Vorwurf heraus, eine Klage.

Er nickte.

Da erst bemerkte Rafaela die schöne, prächtig gekleidete Frau neben Hernando. Sie ging auf ihren Mann zu, den Blick immer auf die Fremde gerichtet.

»Wer ist diese Frau?«, fragte Rafaela und näherte sich Fatima.

»Hast du ihr etwa nicht von mir erzählt, Hamid ibn Hamid?«, fragte Fatima, die ihrerseits die zerlumpte Gestalt vor ihnen nicht aus den Augen ließ.

Hernando wollte antworten, doch Rafaela kam ihm zuvor. Dabei legte sie die gleiche Kraft an den Tag wie damals, als sie während der Pest ihre Mutter nicht in ihr Haus in Córdoba einließ.

»Ich bin seine Gattin. Und wie kommst du dazu, uns so zu befragen?«

»Weil ich seine erste und einzige Ehefrau bin«, stellte Fatima fest.

Rafaela war verwirrt. Hernandos erste Frau war doch tot. Sie konnte sich noch genau an Miguels herzzerreißende Geschichte erinnern. Sie schloss die Augen und schüttelte den Kopf, als wollte sie diese Behauptung zurückweisen.

»Hernando, sag, dass das nicht wahr ist«, brachte sie dann mit dünner Stimme heraus.

»Es ist wahr. Sag es ihr, Ibn Hamid.« Fatimas Stimme klang herausfordernd.

»Als ich dich geheiratet habe, dachte ich, sie sei tot«, sagte Hernando leise.

Rafaela schüttelte immer noch fassungslos den Kopf.

»Als du mich geheiratet hast!«, schrie sie. »Und danach? Hast du danach von ihr gewusst? Heilige Jungfrau!«, flehte sie.

Sie hatte für Hernando alles riskiert. Sie hatte die lange Strecke zurückgelegt, um ihn zu finden. Ihre Kleider waren nur mehr Fetzen, der Staub der Wege hatte sich überall festgesetzt, ihre Schuhe fielen auseinander, ihre Füße bluteten! Wo kam diese andere Frau auf einmal her? Was wollte sie von Hernando? Um sie herum gab es scharenweise erniedrigte Morisken, die alle einem elenden Schicksal ausgeliefert waren. Was hatte diese Frau inmitten dieser Menschen hier verloren? Rafaela spürte, dass ihre Kräfte schwanden und damit auch die Entschlusskraft, mit der sie sich auf den Weg gemacht hatte, und ihre Unsicherheit wurde eins mit dem Jammern und Klagen um sie herum.

»Es war so anstrengend«, schluchzte sie. »Die Kinder … sie haben die ganze Zeit geweint. Nur Muqla war tapfer. Ich hatte solche Angst, dass wir nicht rechtzeitig ankommen könnten. Und jetzt?«

In dem Moment hob sie einen Arm, und als wäre dies ein Zeichen, suchte Laila ihre körperliche Nähe. »Sie haben uns alles genommen: das Haus, die Möbel, selbst meine Kleider.«

Hernando ging zu Rafaela. Was sollte er ihr sagen? Was sollte er tun?

»Rafaela, ich …«, begann er schließlich.

»Sie kann auch mitkommen«, unterbrach ihn Fatima mit kräftiger Stimme. Was hatte diese Christin hier zu suchen? Fatima war keineswegs bereit, ihre Hoffnungen aufzugeben, selbst wenn das mit sich brachte, dass …

Hernando drehte sich zu Fatima um. Warum zögerte er? Wovon redete diese Frau überhaupt? Wohin sollten sie gehen?

»Was hat das alles zu bedeuten?«, fragte Rafaela verwirrt.

»Wenn du willst«, erwiderte Fatima, »kannst du zusammen mit deinen Kindern mit nach Konstantinopel kommen.«

»Hernando«, Rafaelas Tonfall klang hart. »Ich habe dir mein Leben gewidmet. Ich … ich bin bereit, auf die Glaubensgrundsätze meiner Kirche zu verzichten und deinen Glauben an Maria zu teilen und das Schicksal, das sie für dich bereithält, aber niemals«, murmelte sie, »hast du mich verstanden: Niemals werde ich dich mit einer anderen Frau teilen.«

Dann deutete sie mit dem Zeigefinger auf Fatima.

»Du hast doch gar keine andere Wahl, Christin! Meinst du vielleicht, sie lassen dich mit ihm zu den Barbaresken reisen? Sie werden es dir nicht erlauben. Und sie werden dir die Kinder wegnehmen! Ihr beide wisst das. Ich habe es selbst gesehen: Gnadenlos reißen sie den Müttern ihre kleinen Kinder aus den Armen und …« Fatima führte den Satz nicht zu Ende und schloss die Augen, als sie in Rafaelas Gesicht den Schmerz wiedererkannte, den der Mutter allein die Vorstellung verursachte, ihre Kinder zu verlieren. Sie verstand die Gefühle dieser Christin nur zu gut, sie konnte ihren Kummer mitfühlen, dafür musste sie nur an ihren Erstgeborenen denken, für dessen Tod die Christen die Schuld trugen. Allein die Erinnerung daran brachte sie in Rage. Dies war eine Christin! Sie hatte kein Mitleid verdient. »Ich habe es selbst gesehen! Sobald sie ihre Dokumente überprüfen und feststellen, dass sie keine Moriskin, sondern eine Christin ist, wird man sie verhaften und anklagen, weil sie vom Glauben abgefallen ist, und ihr die Kinder wegnehmen.«

Rafaela schlug die Hände vors Gesicht.

»Hunderte Soldaten bewachen das Gelände«, sagte Fatima noch.

Rafaela schluchzte. Die Welt um sie herum schien über ihr zusammenzubrechen. Die Erschöpfung, die fürchterliche Überraschung, alles kam in diesem Moment zusammen. Sie spürte, wie ihr die Beine wegsackten und ihr die Luft wegblieb. Sie hörte nur noch die Worte dieser Frau, sie wurden immer unverständlicher, sie klangen immer weiter weg.

»Ihr habt keine Wahl. Aus El Arenal führt kein Weg hinaus … Nur ich kann euch helfen…«

Rafaela unterdrückte ein Stöhnen, dann fiel sie in Ohnmacht.

Die Kinder eilten zu ihr, doch Hernando schob sie zur Seite und kniete neben seiner Frau nieder.

»Rafaela!«, rief er, »Rafaela!«

Er sah in seiner Verzweiflung Hilfe suchend um sich. Nur einen Augenblick kreuzten sich dabei Fatimas und sein Blick, aber dieser flüchtige Moment genügte, und Fatima verstand – noch vor Hernando –, dass sie ihn verloren hatte.

»Verlass mich nicht«, flehte Rafaela, noch halb benommen, »lass mich nicht allein, Hernando.«

Fatima, Miguel und die Kinder beobachteten aus einiger Entfernung das Paar am Uferrand, wohin Hernando seine Frau getragen hatte. Rafaelas Gesicht war blass, und ihre Stimme zitterte, sie wagte nicht einmal, ihn anzusehen.

Hernando spürte noch immer Fatimas Berührung auf seiner Haut. Eben erst hatte er sie begehrt, er hatte sogar – einige wenige Augenblicke lang – von dem Leben geträumt, das sie ihm versprach. Doch jetzt … Er betrachtete Rafaela: Tränen rannen über ihre Wangen und mischten sich mit dem Staub auf ihrem Gesicht. Er bemerkte das Beben von Rafaelas Kinn und wie sie ihr Schluchzen unterdrückte, als wollte sie ihm den Eindruck einer harten, entschiedenen Frau vermitteln. Hernando presste die Lippen zusammen. Nein, das war sie nicht: Sie war das Mädchen, das er vor dem Kloster bewahrt hatte und das mit der Zeit sein Herz gewonnen hatte. Sie war seine Ehefrau.

»Ich werde dich niemals verlassen«, hörte er sich selbst sagen.

Er griff behutsam nach ihren Händen und küsste sie. Dann schlang er seine Arme um sie.

»Was sollen wir machen?«, hörte er sie fragen.

»Mach dir keine Sorgen«, flüsterte er.

Längst umringten sie ihre Kinder.

»Ich habe jetzt etwas zu erledigen …«, setzte Hernando an.

Miguel hielt etwas Abstand von der Familie, als Hernando wieder zu Fatima ging.

»Ich bin nach Sevilla gekommen, um dich zu suchen, Hamid ibn Hamid«, empfing sie ihn mit ernster Miene. »Ich dachte, Gott …«

»Gott wird bestimmen.«

»Täusche dich nicht, Gott hat bereits das hier bestimmt«, sagte sie und zeigte auf die Menge, die sich auf dem Gelände von El Arenal drängte.

»Mein Platz ist bei Rafaela und den Kindern«, entgegnete Hernando. Sein entschiedener Tonfall ließ keinen Widerspruch zu.

Fatima zitterte am ganzen Leib. Ihr Gesicht war zu einer schönen Maske versteinert.

»Ich weiß, dass du mich liebst.«

Nach diesen Worten drehte sie sich um und ging davon.

»Warte«, bat Hernando. Er lief zu den Pferden und hastete dann mit einem kleinen Bündel in der Hand zurück. Als er wieder neben ihr stand, wühlte er immer noch darin. »Das gehört dir«, sagte er und überreichte ihr das goldene Amulett. Fatima griff mit zitternden Händen danach. »Und das hier«, Hernando übergab ihr die alte Abschrift des Barnabas-Evangeliums aus der Zeit von al-Mansur, »ist eine sehr wertvolle Schrift. Sie stammt aus alter Zeit, und sie gehört unserem Volk. Ich wollte sie dem Sultan zukommen lassen.« Fatima nahm die Blätter nicht entgegen. »Ich weiß, dass du dich betrogen fühlst. Du hast recht. Es wird schwer sein, von hier zu fliehen. Aber ich werde es versuchen, und wenn mir die Flucht gelingt, werde ich in Spanien weiterhin für den Glauben an den einzigen Gott und für den Frieden zwischen unseren Völkern kämpfen. Du musst mich verstehen: Ich kann mein eigenes Leben riskieren, ich kann auch das Leben meiner Frau und sogar meiner Kinder riskieren, aber ich darf unter keinen Umständen das Erbe unseres Volkes gefährden. Fatima, ich kann diese Schrift nicht behalten, und sie darf niemals den Christen in die Hände fallen. Bitte, bewahre du sie zur ehrenden Erinnerung an unseren Kampf, den Islam lebendig zu halten. Mach damit, was du für richtig hältst. Bitte, nimm sie an dich, für Allah, für den Propheten und für unsere Glaubensbrüder.«

Da streckte Fatima eine Hand nach dem Evangelium aus.

»Du sollst wissen, dass ich dich liebe«, versicherte ihr Hernando nun, »bis in den …« Einen Moment lang versagte ihm die Stimme, und er flüsterte: »Tod verheißt ewige Hoffnung.«

Aber Fatima hatte sich bereits umgedreht und war gegangen, noch ehe er den Satz beendet hatte.

Erst nachdem Fatima in der Menschenmenge verschwunden war, begriff Hernando, dass sie mit ihrer Warnung recht hatte. Sein Magen zog sich zusammen, als er über den gewaltigen Platz blickte. Tausende Morisken hingen in El Arenal fest. Soldaten und Notare erteilten unaufhörlich Befehle. Vertriebene gingen an Bord der Schiffe. Händler und Hausierer versuchten, von diesen ohnehin schon ruinierten Menschen auch noch die letzte Blanca-Münze zu ergattern. Priester kontrollierten, dass keine jüngeren Kinder auf die Schiffe gelangten …

»Was machen wir jetzt, Hernando?«, wollte Rafaela wissen. Sie war mehr als erleichtert darüber, dass diese Frau endlich fort war. Nun waren sie wieder zusammen, nun waren sie wieder eine Familie. Die Kinder standen um ihre Eltern herum, neugierig warteten sie ab.

»Ich weiß es nicht.« Hernando konnte seinen Blick nicht von Rafaela und den Kindern abwenden. Beinahe hätte er sie für immer verloren … »Selbst wenn es dir gelingen sollte, dich als Moriskin auszugeben und an Bord zu kommen, die Kleinen wird man niemals ausreisen lassen. Sie werden uns unsere jüngsten Kinder wegnehmen. Rafaela, wir müssen aus dieser Falle heraus. Wir dürfen keine Zeit verlieren. Es wird Abend.«

Hernando stand unter dem schimmernden Goldturm und betrachtete nachdenklich die Stadtmauer. Zuerst folgte Rafaela seinem Blick, dann auch Miguel. In dieser Richtung gab es keine Rettung: Die Stadtmauer und der Alcázar riegelten das Gelände ab. In einiger Entfernung befand sich die Puerta de Jérez, doch dieses Stadttor wurde ebenso wie die Puerta del Arenal und die Puerta de la Triana von Soldaten bewacht. Der einzige Ausweg war der Guadalquivir. Rafaela und Miguel sahen, dass Hernando den Kopf schüttelte. Der Fluss war keine Lösung! All die Notare und Priester überwachten das Hafenbecken, also durften sie keinesfalls in die Nähe der Schiffe gelangen. Die einzige Möglichkeit zur Flucht bot der Weg, auf dem sie auf das Gelände gelangt waren: die Stelle am anderen Ende von El Arenal, zwischen der Stadtmauer und dem Guadalquivir, auch wenn dieser Zugang ebenfalls scharf bewacht wurde.

»Wartet hier auf mich!«, sagte Hernando nur zu seiner Familie.

Er durchquerte das gesamte Gelände. Am Zugang zu El Arenal befand sich ein Wachposten, die bewaffneten Männer hatten dort in behelfsmäßigen Verschlägen die Kolonnen der Vertriebenen in Empfang genommen. Hernando stellte jedoch fest, dass sich die Soldaten ihre Zeit nun lieber mit Kartenspielen vertrieben oder einfach nur schwatzten. Inzwischen kam niemand mehr an, und kein Moriske wagte es, El Arenal zu verlassen. Die Christen, die sich dort aufhielten, verließen das Gebiet durch die Tore, die in die Stadt führten, nicht durch den offenen Abschnitt zwischen Fluss und Stadtmauer.

Hernando kehrte zu den anderen zurück, als es dunkel wurde. Es war Zeit für das Abendgebet. Hernando sah zum Himmel und bat Gott um Hilfe. Danach besprach er sich mit Rafaela und Miguel, aber auch mit Amin und Laila. Sein Plan war riskant, äußerst riskant.

»Wo sind die Männer, die die Pferde begleitet haben?«, fragte er Miguel.

»In der Stadt. Bis auf den, der auf die Tiere aufpasst.«

»Sag ihm, dass er zu seinen Gefährten gehen soll. Richte ihm aus … richte ihm aus, dass ich meine letzte Nacht gern bei meinen Pferden verbringen möchte, aber allein. Meinst du, er glaubt das?«

»Warum du das willst, wird ihm egal sein. Er wird sich liebend gern in der Stadt vergnügen. Ich habe die Männer schon bezahlt, also haben sie Geld, und in der Stadt ist die Hölle los.«

Sie warteten Miguels Rückkehr ab.

»Erledigt«, bestätigte der Krüppel.

»Gut. Du bist Christ, du kannst hier weg …« Miguel wollte sich beschweren, doch Hernando ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Tu, was ich dir sage, Miguel. Du verlässt jetzt El Arenal durch eines der Stadttore, dann begibst du dich bis ans andere Ende der Stadt und gehst dort durch ein anderes Tor hinaus. Außerhalb der Stadtmauern wartest du dann auf uns.«

»Was ist mit ihr?«, fragte Miguel mit Blick auf Rafaela. »Sie ist doch Christin. Sie könnte mit mir …«

»Vergiss die Kinder nicht!«, erinnerte ihn Hernando. »Mit den Kleinen würde sie die Wachen nicht passieren können. Eine Christin hat mit kleinen Kindern in El Arenal nichts verloren. Man würde sie verhaften.«

»Aber …«

»Nun geh schon, Miguel.«

Hernando umarmte seinen Freund, dann half er ihm auf das Maultier. Vielleicht war dies das letzte Mal, dass er ihn sah.

»Friede sei mit dir, Miguel«, sagte er, als dieser davonritt. »Rafaela, wir werden es schaffen. Mit Gottes Hilfe wird es uns gelingen. Kinder, es gibt viel zu tun, und wir haben wenig Zeit«, drängte er Amin und Laila.

Hernando näherte sich seinen Pferden. Nach der anstrengenden Reise hatten fast alle Schrammen oder waren von den schweren Lasten wund gerieben. Hernando nahm Halfter und Stricke an sich.

»Hier, nehmt die, ihr müsst alle Tiere aneinanderbinden: nicht zu fest, aber auch nicht zu locker«, ordnete er seinen Kindern an. Zwei lange Stricke behielt er für sich. »Nein, wartet!« Er hatte nicht bedacht, dass sechzehn aneinandergefesselte Rassepferde kaum zu bändigen waren. »Bindet nur zehn zusammen. Und du«, sagte er zu Rafaela, »ich will, dass du mit den drei Kleinen schon zum anderen Ende des Hafengeländes vorausgehst. Du wirst dafür länger brauchen als wir. Dort bleibst du ganz in der Nähe der Wachen, aber sie dürfen dich nicht sehen oder irgendeinen Verdacht schöpfen. Ich werde dann die Pferde gegen sie hetzen …« Rafaela erschrak. »Liebling, mir fällt nichts Besseres ein. Wenn es so weit ist, passierst du so schnell wie möglich mit den Kindern den Wachposten. Halte dich immer zwischen Flussufer und Stadtmauer, bis die Stadt hinter dir liegt und du auf Miguel triffst.«

»Was ist mit euch?«, fragte sie bestürzt.

»Wir kommen nach. Du kannst dich darauf verlassen«, versicherte ihr Hernando, aber das Zittern in seiner Stimme verriet, dass seine Selbstsicherheit nur vorgetäuscht war.

Hernando gab ihr einen zärtlichen Kuss und drängte sie, den Weg durch El Arenal anzutreten. Rafaela zögerte.

»Wir schaffen das. Wir alle«, bekräftigte Hernando. »Hab Vertrauen zu Gott. Also, geht schon los.«

Es war Muqla, der seine Mutter in Richtung des Ausgangs von El Arenal zog. Hernando sah ihnen noch eine Zeit lang nach. Dann ging er zu seinen großen Kindern und machte sich an die Arbeit mit den Pferden.

»Habt ihr gehört, was ich eurer Mutter gesagt habe?«, fragte er seine Ältesten. Beide nickten. »Also, abgemacht. Jeder von euch geht auf einer Seite der Herde. Ich werde euch von hinten anleiten. Es wird nicht einfach sein, mit den Tieren durch die Menge zu kommen, aber wir müssen es schaffen. Zum Glück sind die meisten Soldaten in der Stadt und feiern, und hier auf dem Gelände sind keine Streifen mehr unterwegs. Niemand wird uns aufhalten. Ihr müsst die Pferde antreiben, mal von hinten und mal von der Seite, damit sie immer weitergehen«, wies er sie an. »Und wenn jemand etwas zu euch sagt, dürft ihr es nicht beachten. Unser einziges Ziel ist es, dieses Gelände zu überqueren, was auch immer geschehen mag. Habt ihr mich verstanden?« Amin und Laila nickten noch einmal. »Wenn wir in der Nähe des Wachpostens am Ausgang sind, bleibt ihr hinter den Tieren, und dann rennt ihr, so schnell ihr könnt, hinaus. Wie eure Mutter. Abgemacht?«

Er wartete ihre Antwort nicht mehr ab. Die Pferde waren bereits in zwei Reihen aneinandergebunden. Die zwei langen Stricke band Hernando abschließend an den Beinen der beiden Tiere fest, die die Herde anführten, und behielt die Enden dieser langen Leinen in der einen Hand. Mit der anderen nahm er ein weiteres Pferd beim Halfter, das nicht an die zehn anderen gebunden war.

»Abgemacht?«, fragte er seine beiden Ältesten noch einmal, und Amin und Laila nickten wieder. Ihr Vater lächelte ihnen ermutigend zu. »Eure Mutter wartet sicherlich schon auf uns! Wir dürfen sie nicht zu lange allein lassen! Los! Macht euch auf den Weg!«

Hernando trieb die Pferde an, und die aneinandergebundenen Tiere setzten sich nur zögerlich in Bewegung.

»Los! Lauft schon, meine Schönen!«

Zunächst kamen die Pferde nicht voran, schließlich waren sie es nicht gewöhnt, sich so eng nebeneinander und noch dazu aneinandergefesselt zu bewegen. Die hinteren Tiere schlugen aus und versuchten sich aufzubäumen, sie bissen einander in die Hälse und wollten nicht vorwärts. Da überfielen Hernando erste Zweifel. Ob er in seinem Alter zu so etwas überhaupt noch in der Lage war?

»Los! Auf!«

»Los!«, hörte er hinter sich.

Amin hatte ein loses Seilende genommen und peitschte damit den hinteren Pferden die Kruppen. Sofort trieb auch Laila die Tiere an, zunächst noch vorsichtig, dann genauso entschlossen wie ihr Bruder.

Ja, seinen Kindern würde es gelingen! Ihre Anfeuerungsrufe brachten ihn zum Lächeln.

Wie ein unaufhaltsames Heer setzten sich endlich alle Tiere in Bewegung. Hernando befürchtete, die Herde nicht kontrollieren zu können, doch seine Kinder liefen geschickt hin und her, bald waren sie hinten, bald an den Flanken. Tüchtig trieben sie die Tiere an und hielten sie tatsächlich zusammen.

»Vorsicht! Aus dem Weg!«, schrie Hernando immer wieder.

Auch die Kinder riefen und warnten die Leute. Die Morisken sprangen entsetzt zur Seite. Die Pferde trampelten über die Gegenstände am Boden und fegten Zelte um. Die Leute beschwerten sich und beschimpften sie. Als die Pferde sogar durch ein kleines Feuer stiegen, begriff Hernando, dass die Tiere inmitten all der Menschen wie blind waren: Unter anderen Umständen hätten sie das nicht getan, nie im Leben hätten sie sich über ein Feuer hinweggesetzt.

»Vorsicht!«

Mit aller Kraft musste er an den langen Stricken in seiner Hand zerren, damit die vorderen Pferde langsamer wurden und eine alte Frau noch rechtzeitig zur Seite springen konnte, um nicht totgetrampelt zu werden.

Plötzlich konnte Hernando in einiger Entfernung den Wachposten sehen, wo die Soldaten verdutzt auf den Aufruhr blickten.

»Es geht los! Flieht!«, rief er seinen Kindern zu.

Hernando musste nicht viel machen. Allein die freie Fläche vor ihnen – zwischen den Hütten der Soldaten und dem Lager der Morisken – ließ die Tiere ihre Schritte beschleunigen und bald in einen wilden Galopp fallen. Hinter ihnen lief Hernando zunächst noch neben dem ungefesselten Pferd her, griff dann aber mit der freien Hand in dessen Mähne und wollte aufspringen, während die Wachsoldaten – noch starr vor Schreck – den immer schneller auf sie zurasenden Pferden entgegenblickten. Beim ersten Versuch gelang es Hernando nicht, seine Muskeln waren noch zu steif, sein rechtes Bein kam nur halb über die Kruppe, aber als er erneut den Boden unter den Füßen spürte, stieß er sich mit aller Kraft ab und saß schließlich auf. Er hielt die Enden der langen Stricke, die an den Beinen der beiden vorderen Pferde festgebunden waren, fest in der Hand und ritt hinter den anderen her, die vergeblich versuchten auseinanderzustürmen. Hernando feuerte sein Pferd an und ritt neben die aneinandergebundenen Tiere. Die Soldaten beobachteten entsetzt, wie eine beeindruckende Walze aus wild schnaufenden Pferdekörpern im Galopp auf sie zudonnerte: eine Herde irrer Tiere. Sie würden jeden Moment über sie hereinbrechen!

»Allahu akbar!«

Hernando hatte seinen Lobpreis zu Gottes Ehren noch nicht einmal beendet, da zog er heftig an den langen Stricken und lenkte sein Pferd von der Herde weg, wohl wissend, was nun geschehen würde: Die beiden vorderen Tiere torkelten, stießen gegeneinander, fielen auf den Rücken, überschlugen sich – und brachten die ganze, wild wiehernde Herde zu Fall. Im Licht der Fackeln konnte Hernando die Panik in den Gesichtern der Soldaten erkennen, als die Tiere gegeneinanderstießen und gleich darauf auf die Männer und ihre Hütten stürzten.

Im selben Moment ritt Hernando im gestreckten Galopp aus El Arenal hinaus, hinter ihm lag die geschlagene Wachmannschaft.

Er saß ab und rannte zum Gebüsch am Ufer. Das Wiehern der Pferde und die wütenden Rufe der Männer schallten noch immer durch die Nacht.

»Rafaela? Amin?«

Es dauerte einen endlos langen Moment, bis Hernando eine Antwort vernahm.

»Hier.«

In der Dunkelheit hörte er die Stimme seines Erstgeborenen.

»Wo ist deine Mutter?«

»Hier«, antwortete Rafaela in einiger Entfernung.

Beim Klang ihrer Stimme blieb ihm fast das Herz stehen. Sie hatten es geschafft!

Die Pfeiler des Glaubens
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