28

Hernando hatte die Lebensweise der Menschen in Córdoba schnell durchschaut und hinter die schöne Fassade des Christentums geblickt, mit seinen Geistlichen und Gottesdiensten, seinen Prozessionen und Rosenkranzgebeten, seinen Laienschwestern und Bruderschaften, die in den Straßen um Almosen bettelten. Die frommen Menschen der Stadt gingen alle ihren religiösen Pflichten nach und unterstützten großzügig die Hospitäler und Klöster, sie setzten die Kirche in ihren Testamenten als Alleinerbin ein oder hinterließen ein Vermögen, mit dem die christlichen Gefangenen von den Barbaresken freigekauft werden sollten. Sobald sie aber der Kirche gegenüber ihre Pflicht erfüllt hatten, entsprachen ihre Interessen und ihre Lebensführung absolut nicht den religiösen Vorschriften. Sogar die Priester lebten trotz aller Beschlüsse des Konzils von Trient, so sie keine Konkubine hatten, zumindest mit einer Sklavin unter einem Dach – eine Sklavin zu schwängern war schließlich keine Sünde. Hernando hatte einmal gehört, wie jemand sagte, es sei so, als würde ein Hengst eine Eselstute decken, die dann einen Maulesel gebar. Der Nachkomme würde den Stand seiner Mutter erben und als Sklave zur Welt kommen. Und erst die Bemühungen der Kirchenbehörden, wollüstige Beichtväter davon abzuhalten, Frauen zum Beischlaf zu zwingen, führten dazu, dass Geistliche und Sünder in den Beichtstühlen durch Gitter getrennt wurden. Doch nicht einmal die Vertreter dieser Behörden waren ein Vorbild, was Keuschheit und Sittsamkeit anging. Und selbst der Dekan Don Juan Fernández de Córdoba, ein Geistlicher mit adeligem Stammbaum, hatte den Überblick über die von ihm gezeugten Kinder längst verloren.

Bei den übrigen Bewohnern Córdobas verhielt es sich nicht viel anders. Hinter der makellosen Oberfläche des christlichen Ehesakraments verbarg sich eine Welt der Ausschweifungen, und aufsehenerregende Skandale waren ebenso an der Tagesordnung wie das blutige Ende der entlarvten Ehebrecher. Die Mehrzahl der Nonnen war von ihren Familien aus rein wirtschaftlichen Gründen in die Obhut der Kirche gegeben worden – der Familienbesitz wurde weniger belastet, wenn man eine Tochter ins Kloster steckte, anstatt sie mit einer Mitgift ausstatten zu müssen –, so war es nicht verwunderlich, dass diesen jungen Frauen meist jegliche echte religiöse Berufung fehlte. Sie lagen mit den Klerikern fast in einer Art Wettstreit und ließen sich von jungen Männern verführen, für die wiederum die Eroberung einer so teuren Trophäe ein besonders großer Erfolg war, mit dem man prahlen konnte.

Für Morisken wie Hernando, die die steinige Erde im Königreich Granada mit der Hacke zu einem fruchtbaren Land gemacht hatten, waren die Bewohner von Córdoba einfach nur faul, verschwenderisch und missraten: Vor allem körperliche Arbeit war verpönt! Die Ehre, die alle spanischen Christen ungeachtet ihres gesellschaftlichen Standes durchdrang, hinderte sie daran! Jemandes Ehre zu verletzen glich einem Todesurteil.

Nur wenige Tage vor den Festivitäten anlässlich des Sieges von Lepanto hatte Hernando das selbst miterlebt. Eines Nachmittags schlenderte er durch die enge Calle de Armas, da kam ihm ein junger, hochmütiger Hidalgo – ein Mitglied des niederen Adels ohne Einkommen – mit bortenbesetztem Hut, schwarzem Umhang und Degen im Gürtel entgegen. Plötzlich stürzte der Mann, und Hernando konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, als er ihm wieder aufhelfen wollte. Der junge Mann schlug die helfende Hand wütend aus.

»Was grinst du so dämlich?«, zischte der Hidalgo, als er wieder aufrecht stand.

»Entschuldigt, ich …«

Der junge Hidalgo führte die Hand zum Degen. Nach seinem Sturz hatte er versucht, das Sägemehl wieder aufzusammeln, mit dem er seiner Hose mehr Würde verliehen hatte. Eingebildeter Schwachkopf! Vielleicht sollte er ihm eine Lektion erteilen.

»Ich … ich habe mich gerade … gefragt … wie Ihr heißt«, gab Hernando absichtlich stammelnd von sich und sah zu Boden.

»Stinkender Mistkerl, was geht dich mein Name an?«

Eingebildeter Angeber! Womit könnte er ihn nur von seinem hohen Ross holen? Die spitzen Samtschuhe des Hidalgos sagten ihm, dass dieser junge Mann durchaus Geld hatte. Er betrachtete die edle Hose, den feinen Saum des Umhangs, den wohl eine Bedienstete sorgsam ausgebessert hatte.

»Also …«

»Jetzt sag schon!«

»Mir schien … Ich glaube, ich habe letzte Nacht in einem Wirtshaus an der Plaza de la Corredera gehört, wie man schlecht über Euch geredet hat.«

»Sprich weiter!«

»Exzellenz, ich kann mich irren. Also, ich habe gehört … Nein, es geht nicht. Entschuldigt meine Kühnheit, aber ich muss darauf bestehen zu erfahren, wie Euer Name lautet.«

Der junge Mann überlegte einen Augenblick. Hernando auch: Was tat er da gerade?

»Don Nicolás Ramírez de Barros«, gab der junge Mann schließlich stolz von sich, »Hidalgo mit Stammbaum.«

»Ja, genau«, bestätigte Hernando. »Man sprach dort über Eure Exzellenz: Don Nicolás Ramírez. Ich kann mich genau daran erinnern, dass …«

»Was hat man über mich gesagt?«

»Es waren zwei Männer …« Hernando überlegte, was er noch sagen könnte, doch der junge Edelmann kam ihm zuvor.

»Wer waren diese Männer?«

»Die beiden waren auffällig gekleidet. Sie sprachen über Eure Exzellenz.« Er tat so, als wagte er nicht weiterzusprechen. Jetzt gab es kein Zurück mehr.

»Was haben sie gesagt?«

Was können zwei Männer schon über einen Hidalgo gesagt haben? Ja, natürlich, ein Hidalgo mit Stammbaum. Damit hatte der eitle Bursche soeben seinen wunden Punkt preisgegeben.

»Dass Ihr nicht von reinem Blut seid«, antwortete Hernando.

Der junge Mann umklammerte wütend den Griff seines Degens.

»Beim heiligen Jakobus!«, rief er mit hochrotem Kopf, »mein Blut ist rein! Bis in die Zeiten der Römer. Mein Familienname lässt sich auf Quintus Varus zurückführen. Sag mir sofort, wer diese infame Beleidigung ausgesprochen hat!«

»Hm … Das … weiß ich nicht«, stammelte Hernando – diesmal unabsichtlich. War er zu weit gegangen? Der junge Mann bebte vor Zorn. »Ich kannte die Männer ja nicht. Wie Eure Exzellenz verstehen wird, habe ich für gewöhnlich keinen Umgang mit solchen Personen.«

»Würdest du sie wiedererkennen?«

Wie sollte er nur zwei Männer wiedererkennen, die er gerade eben erfunden hatte? Vielleicht sollte er ihm antworten, dass er sie in der Dunkelheit …

»Würdest du sie wiedererkennen?«, fragte der Hidalgo abermals, machte einen Schritt auf ihn zu und schüttelte ihn an den Schultern.

»Natürlich«, antwortete Hernando und machte einen Schritt zurück.

»Dann begleite mich zur Plaza de la Corredera!«

»Nein.«

»Wie bitte?« Der Edelmann rückte drohend näher, und Hernando wich wieder zurück.

»Ich kann nicht. Man wartet auf mich.« Welche Zunftwerkstätten lagen am weitesten vom Potro-Viertel entfernt? Wo arbeiteten die Handwerker, bei denen der Mann ihn nie finden würde, falls er nach ihm suchen sollte? »Ich habe eine Verabredung im Töpferviertel. Ich muss doch für meine Familie sorgen. Wenn ich nicht zur Arbeit gehe, bezahlt mich der Meister nicht. Ich habe Frau und Kinder und versuche sie im christlichen Glauben zu erziehen …« Treffer! Der Hidalgo begann unbeholfen in seiner Hosentasche zu wühlen, bis er einen kleinen Beutel gefunden hatte. Für Fatima! »Ein Junge ist krank, und der andere …«

»Halt den Mund! Wie viel zahlt dir dein Meister?«, fragte der
Hidalgo und griff nach den Münzen im Geldbeutel.

»Vier Reales«, log Hernando.

»Hier sind zwei Reales«, bot er ihm an.

»Ich kann nicht. Meine Kinder …«

»Dann drei.«

»Es tut mir so leid, Exzellenz.«

Der Hidalgo legte ihm eine Vier-Reales-Münze auf die Hand.

»Los!«, befahl er ihm.

Von der Ermita de la Consolación bis zur Plaza de la Corredera musste man nur die Plaza de las Cañas queren. Der Hidalgo schritt voraus, er war angespannt und umklammerte den Degen. Er fluchte vor sich hin und schwor denjenigen Rache, die seine Familienehre befleckt hatten. Hernando spürte die Münze in seiner Hand. Eine Vier-Reales-Münze!

»Vielleicht sind sie heute Abend gar nicht dort«, überlegte er laut.

»Bete darum, dass sie da sind«, sagte der junge Edelmann nur.

Sie betraten den Platz von der Südseite. Hernando sah sich um, es gab hier drei Wirtshäuser: das Mesón de la Romana, neben dem sie gerade standen, das Mesón de los Leones an der Calle del Toril sowie das Mesón del Carbón in der Nähe des Hospital de Nuestra Señora de los Ángeles. Noch schien die Nachmittagssonne, doch die Abenddämmerung kündigte sich bereits an. Auf dem weitläufigen Platz waren um diese Tageszeit viele Menschen unterwegs, und in den Gaststuben herrschte ein einziges Kommen und Gehen.

»Also?«, fragte der Hidalgo.

Hernando atmete tief durch. Sollte er besser wegrennen? Als hätte er seine Gedanken erraten, packte der Hidalgo Hernando am Arm und schleifte ihn in das Mesón de la Romana. Beim Betreten des Wirtshauses stießen sie aus Versehen mit einem Mann zusammen. Der Hidalgo wartete immer noch auf eine Antwort.

»Nein. Hier sind sie nicht«, sagte Hernando, als einige Gäste ihre Gespräche unterbrachen und ihn anstarrten, als er seinen Blick durch die Gaststube schweifen ließ.

Im Mesón de los Leones sagte er zum Leidwesen des Hidalgos das Gleiche. Die Männer könnten ja auch sonst wo sein, dachte er in dem Moment, als sie schließlich das Mesón del Carbón betraten. Warum sollten sie gerade jetzt hier sein? Aber was würde dann aus den vier Reales? Was würde der Hidalgo tun? Bestimmt würde er die Sache nicht auf sich beruhen lassen. Schließlich ging es um seine Ehre und um den Ruf seiner Familie! Polterndes Gelächter riss ihn aus seinen Gedanken. An einem der Tische saß ein bärtiger Mann in der bunten Uniform der Tercios. Er hielt sein Weinglas hoch und erzählte grölend von seinen Heldentaten. Er war offensichtlich betrunken.

»Der ist einer von ihnen«, sagte Hernando und wartete darauf, dass Don Nicolás ihn endlich aus den Augen ließ.

Aber der Hidalgo umklammerte seinen Arm nur noch kräftiger, als bereitete er sich auf den bevorstehenden Kampf vor.

»Ihr da!«, rief Don Nicolás.

Sofort verstummten alle Gespräche. Einige Gäste in der Nähe sprangen auf und stießen dabei die Stühle zur Seite. Hernando spürte, wie seine Knie weich wurden.

»Wir konntet Ihr es wagen, den Namen derer von Varus in den Schmutz zu ziehen?«, schrie der Hidalgo wütend.

Der Soldat stand schwankend auf und griff nach seinem Degen.

»Wie könnt Ihr es wagen, Señor, die Stimme gegen mich zu erheben?«, rief er. »Schließlich bin ich ein Fahnenträger der spanischen Tercios auf Sizilien, ein Hidalgo aus dem Baskenland!« Hernando duckte sich instinktiv, als er diese Worte vernahm. Hilfe, noch ein Hidalgo! »Wenn Euer Stammbaum rein ist, was ich bezweifle, habt Ihr das nicht nötig.«

»Ihr stellt meine Ahnen infrage?«, kreischte Don Nicolás.

»Ich habe es Euch doch gesagt«, flüsterte Hernando ihm zu. »Genau das habe ich gehört, er bezweifelt, dass …« Aber Don Nicolás beachtete ihn schon nicht mehr.

»Ihr selbst befleckt den Namen Eurer Familie mit Eurem unehrenhaften Verhalten«, rief der Fahnenträger.

»Ich fordere Genugtuung«, schrie Don Nicolás.

»Die werdet Ihr bekommen!«

Beide Hidalgos zückten ihre Waffen. Spätestens jetzt standen die restlichen Schankgäste auf und machten den beiden Edelleuten Platz.

Hernando fehlten die Worte. Ein Duell! Er öffnete seine verschwitzte Hand, sah lächelnd auf das Geldstück und verließ das Wirtshaus. Hinter ihm begann das metallische Klirren der aufeinanderprallenden Degen. Dummköpfe, diese Christen!

Inzwischen hatte Hernando zahlreiche Fahrten mit der Müden Jungfrau zum anderen Guadalquivir-Ufer hinter sich. Er und Juan wurden Freunde, und sie rissen bei ihren nächtlichen Gesprächen immer noch ihre Witze über die exotischen Frauen des Barbareskenbordells auf der anderen Seite der Meerenge.

Diese Freundschaft brachte Hernando inzwischen weit mehr ein als die zwei Blanca-Münzen, die ihm der Maultierhändler bei ihrer ersten Überfahrt gezahlt hatte: Hernando wurde endlich an den Einkünften aus dem Weinschmuggel beteiligt. Allmählich wurde das Potro-Viertel mit seinen Bewohnern – Abenteurer, Gauner und Ganoven – zu seinem zweiten Zuhause. Er arbeitete nach wie vor in der Gerberei, schließlich brauchte er vor dem Richter und dem Pfarrer von San Nicolás eine Arbeitsstelle, aber sein eigentliches Leben spielte sich rund um die Plaza del Potro ab.

Während einige Jungen aus den Pfarrbezirken San Lorenzo oder Santa María für ihn die Häute vom Schlachthof holten, ging Hernando zur Calahorra-Festung. Er hatte dort immer etwas mit Juan und den anderen Händlern zu besprechen. Beim Gedanken daran, wie er sich von dieser leidigen Schlepperei befreit hatte, musste er jedes Mal lächeln. Als er das erste Mal vom Schlachthof entlang der Stadtmauer Richtung Gerberei gegangen war, hatte er gesehen, wie einige Jungen aus den umliegenden Stadtvierteln sich auf dem Patrouillenweg der Wachen Steinschlachten lieferten. Dabei hatte es schon viele Verletzte und sogar Tote gegeben, vor allem wenn jemand unverhofft in den Steinhagel geriet. Der Rat der Stadt hatte deshalb die Steinschlachten verboten, aber die Jungen dachten nicht daran, ihr Vergnügen aufzugeben, und überlisteten die Wachen. Als Hernando zum ersten Mal aus Versehen zwischen die Fronten geraten war, hatte er die von den Kindern geworfenen Steine mit den Tierhäuten abgewehrt. Ein andermal hatte er beobachtet, wie sie sich auf ihre nächste Schlacht vorbereiteten. Er musste dabei an seine Wurfübungen in den Alpujarras denken. Er war besser als sie. Wer sollte ihn schon schlagen können? Eine Blanca-Münze war der Einsatz, ein Holzpfosten das Ziel: Wenn die Burschen verloren, mussten sie seine Häute in die Gerberei tragen, wenn sie hingegen gewannen, konnten sie die Münze behalten. Hernando verlor nur selten, und während die jungen Burschen ihren Teil der Abmachung erfüllten, ging er hinter der Calahorra-Festung zu den Viehhändlern am Campo de la Verdad, wo er umherstreifte und vorgab, den Mist der Maultiere zu holen. Plötzlich zeigte einer der Pferdehändler auf diesen verdreckten, stinkenden Morisken, packte ihn am Schopf und setzte ihn auf einen Gaul, um den Käufer davon zu überzeugen, dass das Pferd zahm war und nicht bockte. Hernando tat so, als wäre ihm angst und bange und als hätte er noch nie auf einem Pferd gesessen. Der Händler sang indessen ein Loblied auf das brave Tier, das selbst völlig unerfahrene Reiter im Sattel behielt. Sobald das Tier verkauft und der Käufer verschwunden war, erhielt Hernando sein Geld.

Ein andermal half er einem Edelmann mitten in der Nacht, über die Mauer des Nonnenklosters Santa Cruz zu klettern. Er sollte auf der anderen Seite warten, um ihm auf dem Rückweg einen Strick zuzuwerfen. Während er in der Dunkelheit wartete, hörte er das Paar zuerst flüstern und später lustvoll stöhnen.

Außerdem arbeitete er für die Betreiber von geheimen Spelunken. Dort lernte er auch Palomero kennen, einen nur etwas älteren Mann, der als Lockvogel Interessenten für Karten- oder Würfelspiele anwarb. Palomero hatte ein untrügliches Gespür dafür, welcher Fremde hinter dem Rücken des Gesetzes sein Geld verwetten wollte, und bald half Hernando ihm dabei. Seine Aufgabe bestand vor allem darin, andere Lockvögel in der Gegend um die Plaza del Potro von jedem potenziellen Spieler fernzuhalten, den Palomero entdeckt hatte. Hernando stellte den konkurrierenden Kundenwerbern ein Bein, schubste sie oder ließ sich andere Finten einfallen. Wie nicht anders zu erwarten, geriet Hernando dabei in so manchen Streit, manchmal kam es auch zu Schlägereien, aber all das festigte nur seine Freundschaft mit Palomero, und er bekam von ihm sogar meist mehr Geld als vereinbart. Sie schwatzten miteinander, sie lachten zusammen, teilten ihr Essen, und Hernando ließ sich stets aufs Neue von Palomero verblüffen.

Einmal behauptete er, endlich den Trick durchschaut zu haben, mit dem Mariscal – einer der Spelunkenbetreiber – nicht nur unbedarfte Spieler, sondern auch die erfahrensten Falschspieler und Zinker ausnahm.

»Er wackelt nur mit dem rechten Ohrläppchen«, berichtete er voller Bewunderung. »Sein Gesicht ist vollkommen regungslos, nicht einmal die Ohrmuschel bewegt sich, nur das Ohrläppchen! Es ist ein abgekartetes Spiel: Sobald er das Zeichen gibt, weiß einer seiner Komplizen, welche Karten Mariscal hat, und wettet – und gewinnt. Sieh her, ist es so richtig?«

Hernando prustete vor Lachen angesichts der wilden Grimassen seines Freundes – dessen Ohrläppchen sich aber kein bisschen bewegte.

»Nein, tut mir leid.«

Hernando hatte Glück. Die Geschäfte liefen gut, und er verhandelte bereits mit Juan über die erste Rate für ein Maultier. Der Viehhändler machte ihm einen guten Preis. Hernando wollte das Maultier bei Ibrahim gegen Fatima eintauschen. Sosehr er seinen Stiefsohn auch hasste, dieses Angebot würde er ihm nicht ausschlagen können, außerdem hatte Ibrahims Interesse an seiner zweiten Frau in letzter Zeit deutlich nachgelassen. Fatima fastete eisern, blieb hager und dürr, was bei Ibrahim – der zudem von der Feldarbeit völlig erschöpft nach Hause kam – keine Begierde weckte. Aischa wiederum tat das Ihre, um ihn von der jungen Frau abzulenken. Ihr war nicht entgangen, dass Fatimas tiefschwarze Augen seit Kurzem wieder zu leuchten begonnen hatten und dass ihre Lebenslust langsam zurückzukehren schien.

Hernando hatte versucht, Fatima von seinem Plan zu überzeugen.

»Bestimmt ist er damit einverstanden!«, ermutigte er sie. »Du siehst doch, wie schlecht gelaunt er im Morgengrauen aufsteht und wie erschöpft er abends vom Feld nach Hause kommt. Er hasst diese Arbeit. Ibrahim braucht das Reisen, die Weite. Glaub mir.«

Tatsächlich konnte nichts die düstere Stimmung des Maultiertreibers aufhellen, die nun zu seinem ohnehin schon übellaunigen und aufbrausenden Temperament hinzukam.

»Aber er hasst dich – abgrundtief«, entgegnete Fatima. Außerdem war ihr in den letzten Tagen aufgefallen, dass Ibrahim sie wieder zusehends lüstern anzustarren begann. Doch sie verheimlichte ihre Befürchtungen vor dem zuversichtlichen Hernando.

»Ich denke, er ist sich immer noch selbst der Nächste«, entgegnete er. »Als meine Mutter mit mir schwanger war, nahm er mich für ein Maultier in Kauf. Jetzt geht es ihm doch viel schlechter als damals, warum sollte er nicht zustimmen?«

Sie wollten nach einem ihrer gemeinsamen Spaziergänge gerade in die Sackgasse einbiegen, in der sich ihr heruntergekommenes Haus befand, als sie einen jungen Mann an der Straßenecke stehen sahen. Hernando kannte ihn. Er bewohnte mit seiner Familie eines der Zimmer im oberen Stock … Wie hieß er noch? Hernando wollte ihn ansprechen, aber der junge Mann führte nur einen Finger an die Lippen und bedeutete ihm weiterzugehen. Was hatte der Bursche nur?

Als sie am Haus angekommen waren, hörte Hernando leise Stimmen, die ein traditionelles Moriskenlied sangen. Er ging durch das Tor in den Patio und stellte zu seiner Überraschung fest, dass sich alle Hausbewohner dort versammelt hatten. Hernando konnte auch Hamid und einige fremde Männer und Frauen unter den Anwesenden ausmachen. Die einen flüsterten miteinander, die anderen summten das Lied, das Hernando schon auf der Straße vor dem Haus gehört hatte. In einem Winkel des Patios betete ein Mann – vermutlich gen Mekka. Jetzt ging Hernando endlich auf, warum der junge Mann an der Straßenecke Wache hielt: Es war den Morisken verboten, sich zu versammeln, geschweige denn zu beten.

»Wehe, wenn sie euch entdecken …«, setzte Hernando an.

»Ibn Hamid, komm zu uns!«, unterbrach ihn der Alfaquí, der sofort auf ihn zutrat.

Hernando war sprachlos. Hamids Tonfalls war sehr schroff gewesen.

»Ich … also … Es tut mir leid. Du hast recht. Ich wollte sagen, wenn sie uns entdecken.« Hamid nickte. »Was machst du hier?«

»Mein Dienstherr hat mir freigegeben.«

Hernando hatte den Überblick sowohl über den christlichen als auch über den muslimischen Kalender längst verloren. War heute ein Feiertag? Und wohin war Fatima plötzlich verschwunden?

»Es tut mir leid, Hamid, aber was wird hier gefeiert?«, fragte er verwirrt und ließ seinen Blick über die vielen Menschen wandern. Da sah er Fatima am anderen Ende des Patios. An ihrem Hals schimmerte der goldene Anhänger – die verbotene Fatimahand. Als Hernando ihr zulächelte, erwiderte sie sein Lächeln zunächst, blickte dann aber traurig zu Boden. Was war hier los? Er hielt besorgt nach Ibrahim Ausschau und entdeckte ihn etwas abseits – er sah müde und erschöpft aus. »Was … was feiern wir denn nun?«, fragte er den Alfaquí noch einmal, diesmal mit belegter Stimme.

»Wir haben unseren ersten Glaubensbruder aus der Sklaverei befreit«, antwortete Hamid feierlich und zeigte auf einen Mann mit Brandzeichen im Gesicht. Hernando sah zu dem Morisken, der gemeinsam mit seiner Frau die Glückwünsche der Anwesenden entgegennahm.

»Das ist seine Ehefrau«, erklärte Hamid. »Sie erfuhr, dass er als Sklave im Haus eines Händlers in Córdoba lebte und …« Hamid legte eine Pause ein.

»Und?«, fragte Hernando abwesend. Was war nur mit Fatima los? Er versuchte, sie auf sich aufmerksam zu machen, doch sie sah nicht mehr zu ihm herüber.

»Er gehört wieder zur Gemeinschaft.«

»Das ist schön.«

»Zu seinen Brüdern.«

»Aha.«

»Alle haben sich an seinem Freikauf beteiligt. Alle Morisken von Córdoba! Alle. Selbst ich habe ein wenig …« Hernando sah Hamid fragend an. »Fatima war besonders großzügig.«

Hernando spürte einen Stich im Herzen und schüttelte langsam den Kopf, als wollte er die soeben gehörten Worte vertreiben. Nein! Er musste sich mit einer Hand an der Mauer festhalten.

»Das Geld!«, flüsterte er. »Mit dem Geld wollten wir ihre Freiheit kaufen und …«

»Und deine eigene?«, vermutete Hamid.

»Ja«, erwiderte Hernando ernst und richtete sich wieder auf. »Unsere Freiheit!«

Er sah erneut zu Fatima hinüber. Sie stand mit erhobenem Haupt da und hielt seinem verzweifelten Blick stand. Fatima hatte dem Alfaquí alles erzählt und alles gegeben. Hernando wusste nicht, was er davon halten sollte.

Warum? Hernandos Lippen formten die vorwurfsvolle Frage, Fatima lächelte.

Hamid antwortete an ihrer Stelle.

»Weil du dich von deinem Volk entfernt hast, Ibn Hamid.« Jeder Muskel in Hernandos Körper spannte sich an. »Wir alle versuchen, uns heimlich zu versammeln, zu beten, unseren Glauben am Leben zu halten oder unseren Glaubensbrüdern in Not zu helfen, nur du ziehst als kleiner Gauner durch die Straßen von Córdoba.« Hamid hielt inne. Hernando entgegnete nichts, Fatimas schwarze Mandelaugen hielten ihn in ihrem Bann. »Es schmerzt mich, dich – meinen Sohn – so ehrlos zu sehen.«

Hernando begann am ganzen Leib zu zittern.

»Musste Fatima deshalb auf ihre Freiheit verzichten?«

»Sie vertraut auf Gottes Barmherzigkeit. Und du solltest das Gleiche tun. Komm zu uns, komm zu deinem Volk. Eure heutigen Fesseln sind unsere ewigen Gesetze, und nur Gott ist dazu berufen, sie uns aufzuerlegen und uns davon zu befreien. Als mir Fatima das Geld gab und mir alles erklärte, bat ich sie, auf Gott zu vertrauen und die Hoffnung nicht aufzugeben. Dann sagte sie, dass ein einziger Satz genügen würde, damit du ihre Entscheidung verstehst.«

Hernando löste seinen Blick von Fatima und schaute in die sorgenvollen Augen des Mannes, der ihm alles beigebracht hatte, was er wusste. Erst jetzt verstand Hernando den Satz wirklich. Der Alfaquí schloss die Augen und flüsterte: »Tod verheißt ewige Hoffnung.«

Die Pfeiler des Glaubens
titlepage.xhtml
978-3-641-04909-6.xhtml
978-3-641-04909-6-1.xhtml
978-3-641-04909-6-2.xhtml
978-3-641-04909-6-3.xhtml
978-3-641-04909-6-4.xhtml
978-3-641-04909-6-5.xhtml
978-3-641-04909-6-6.xhtml
978-3-641-04909-6-7.xhtml
978-3-641-04909-6-8.xhtml
978-3-641-04909-6-9.xhtml
978-3-641-04909-6-10.xhtml
978-3-641-04909-6-11.xhtml
978-3-641-04909-6-12.xhtml
978-3-641-04909-6-13.xhtml
978-3-641-04909-6-14.xhtml
978-3-641-04909-6-15.xhtml
978-3-641-04909-6-16.xhtml
978-3-641-04909-6-17.xhtml
978-3-641-04909-6-18.xhtml
978-3-641-04909-6-19.xhtml
978-3-641-04909-6-20.xhtml
978-3-641-04909-6-21.xhtml
978-3-641-04909-6-22.xhtml
978-3-641-04909-6-23.xhtml
978-3-641-04909-6-24.xhtml
978-3-641-04909-6-25.xhtml
978-3-641-04909-6-26.xhtml
978-3-641-04909-6-27.xhtml
978-3-641-04909-6-28.xhtml
978-3-641-04909-6-29.xhtml
978-3-641-04909-6-30.xhtml
978-3-641-04909-6-31.xhtml
978-3-641-04909-6-32.xhtml
978-3-641-04909-6-33.xhtml
978-3-641-04909-6-34.xhtml
978-3-641-04909-6-35.xhtml
978-3-641-04909-6-36.xhtml
978-3-641-04909-6-37.xhtml
978-3-641-04909-6-38.xhtml
978-3-641-04909-6-39.xhtml
978-3-641-04909-6-40.xhtml
978-3-641-04909-6-41.xhtml
978-3-641-04909-6-42.xhtml
978-3-641-04909-6-43.xhtml
978-3-641-04909-6-44.xhtml
978-3-641-04909-6-45.xhtml
978-3-641-04909-6-46.xhtml
978-3-641-04909-6-47.xhtml
978-3-641-04909-6-48.xhtml
978-3-641-04909-6-49.xhtml
978-3-641-04909-6-50.xhtml
978-3-641-04909-6-51.xhtml
978-3-641-04909-6-52.xhtml
978-3-641-04909-6-53.xhtml
978-3-641-04909-6-54.xhtml
978-3-641-04909-6-55.xhtml
978-3-641-04909-6-56.xhtml
978-3-641-04909-6-57.xhtml
978-3-641-04909-6-58.xhtml
978-3-641-04909-6-59.xhtml
978-3-641-04909-6-60.xhtml
978-3-641-04909-6-61.xhtml
978-3-641-04909-6-62.xhtml
978-3-641-04909-6-63.xhtml
978-3-641-04909-6-64.xhtml
978-3-641-04909-6-65.xhtml
978-3-641-04909-6-66.xhtml
978-3-641-04909-6-67.xhtml
978-3-641-04909-6-68.xhtml
978-3-641-04909-6-69.xhtml
978-3-641-04909-6-70.xhtml
978-3-641-04909-6-71.xhtml
978-3-641-04909-6-72.xhtml
978-3-641-04909-6-73.xhtml
978-3-641-04909-6-74.xhtml
978-3-641-04909-6-75.xhtml
978-3-641-04909-6-76.xhtml
978-3-641-04909-6-77.xhtml
978-3-641-04909-6-78.xhtml
978-3-641-04909-6-79.xhtml
978-3-641-04909-6-80.xhtml
978-3-641-04909-6-81.xhtml