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Mai 1570
Barmherzigkeit, mein Herr. Möge uns Eure Hoheit im Namen Seiner Majestät Barmherzigkeit gewähren und Gnade walten lassen für unsere Vergehen. Wir wissen, sie waren schwer.« Mit diesen Worten erklärte El Habaquí die Kapitulation, während er vor Don Juan de Austria kniete. »Im Namen von Aben Aboo und allen Aufständischen, die mich mit Vollmachten ausgestattet haben, überreiche ich diese Waffen und dieses Banner Seiner Majestät«, beendete er seine Ansprache. Im selben Moment warf Don Juan das Banner des Moriskenkönigs auf den Boden.
Bevor El Habaquí in das Zelt des christlichen Oberbefehlshabers gekommen war, hatte er Aben Aboos rote Standarte mit dem Leitspruch »Mehr konnte ich mir nicht wünschen, aber mit weniger konnte ich mich nicht zufriedengeben« den Kompanien der Infanterie und der Kavallerie übergeben, die sich anlässlich der Kapitulation in Stellung gebracht hatten. Der laute Donnerhall der Arkebusensalve begleitete die begeisterten Rufe der Soldaten, ehe die Geistlichen zum Gebet riefen.
El Habaquí hatte erreicht, dass der spanische König auch bei den Türken und Barbaresken Gnade walten ließ. Sie behielten ihre Freiheit, um in ihre Heimatländer zurückzukehren. Philipp II. gab nach, um den Konflikt möglichst rasch zu beenden, da er die Vormacht in der Heiligen Liga von Pius V. übernehmen sollte – zudem befürchtete er, dass sich die Morisken im Frühjahr wieder mit Nahrungsmitteln versorgen und einen weiteren Aufstand anzetteln könnten.
Don Juan ernannte Kommissare und schickte sie in die abgelegenen Weiler der Alpujarras, um die Kapitulation aller Morisken im Königreich Granada sicherzustellen, und El Habaquí bereitete alles für die Ausschiffung der Türken und Barbaresken vor. Hierfür hatte der Oberbefehlshaber bestimmte Häfen festgelegt, und Philipp II. stellte seinerseits ausreichend Schiffe zur Verfügung. Als Tag des endgültigen Friedens wurde der Johannistag 1570 festgelegt, dann mussten alle Türken und Barbaresken das Königreich Granada verlassen haben.
Bis zum 15. Juni 1570 hatten sich dreißigtausend Morisken ergeben. El Habaquí gelang es, fast alle Türken und Korsaren zur Abreise nach Algier zu bewegen. Die meisten Barbaresken wollten den Kampf jedoch fortsetzen, woraufhin Aben Aboo seine Meinung änderte und die Kapitulation widerrief: Er ließ El Habaquí umbringen und übernahm den Befehl über dreitausend kampfbereite Männer in den Bergen.
Heute sind die Letzten losgezogen, und zwar unter dem größten Mitleid der Leute. Denn bei ihrem Aufbruch gab es so viel Regen, Wind und Schnee, dass sie sich beschwerten, die Tochter bei ihrer Mutter, der Mann bei seiner Frau, das Kind bei der Witwe und so weiter. Man kann nicht bestreiten, dass die Entvölkerung eines Reiches das größte Leid darstellt, das man sich vorstellen kann. Aber, mein Herr, es ist vollbracht.
Schreiben von Don Juan de
Austria an Rui Gómez de Silva,
einen Vertrauten von Philipp II., 5. November 1570
Philipp II. befahl im November 1570 die Umsiedlung aller Morisken aus dem Königreich Granada in andere Reiche der spanischen Krone. Die Morisken, die sich ergeben hatten und in die Vega von Granada gekommen waren, unterstanden Don Francisco de Zapata de Cisneros, dem Corregidor von Córdoba. Der Adlige sollte sie zunächst nach Córdoba überführen, um sie später in Kastilien und in Galicien anzusiedeln.
Die Vega von Granada war eine fruchtbare Tiefebene im Westen der Stadt mit zahlreichen Gehöften. In den Häusern der Morisken, die früher dort gelebt hatten, wohnten nun christliche Familien, und die Morisken aus den Alpujarras verbrachten die ersten sieben Monate ihrer Vertreibung mehr oder weniger unter freiem Himmel. Sie hausten zu Hunderten auf kleinen weniger fruchtbaren Parzellen, die nicht bestellt wurden, und warteten auf die Deportation. Ihre Kleider hingen ihnen bald in Fetzen vom Leib, und das wenige, das ihnen geblieben war, teilten sie untereinander auf.
Unter den entwurzelten Morisken befanden sich auch Hernando und Fatima, die den Anweisungen von Don Juan bald nach ihrer Ankunft in Padul Folge leisten und heiraten sollten. Am Vortag der Hochzeit unterzogen Andrés und die beiden Geistlichen, die sie bei ihrer Ankunft bedrängt hatten, die Brautleute einer strengen Prüfung zur christlichen Lehre.
Hernando meisterte alle Fragen mühelos.
»Nun zu dir«, wandte sich einer der Priester an Fatima. »Sprich das Vaterunser.«
Die junge Frau reagierte nicht. Die beiden Geistlichen und der Sakristan wurden ungeduldig.
Fatima schien wie betäubt. Noch in der Nacht ihrer Ankunft hatte sich Ibrahim vor den Augen von Hernando, Aischa und den übrigen Morisken in der Massenunterkunft über sie hergemacht. Er wollte allen beweisen, dass sie nach wie vor sein Eigentum war, und Hernando hatte bei dem Luststöhnen seines Stiefvaters wutentbrannt das Weite gesucht.
»Das Vaterunser, los!«, fuhr Andrés sie an.
Hernando berührte Fatima sanft am Unterarm. Endlich begann sie mit dem Gebet. Auch das Ave-Maria konnte sie aufsagen, aber das Glaubensbekenntnis, das Salve-Regina und die Zehn Gebote brachte sie nicht mehr zusammen.
Einer der beiden Priester trug ihr auf, drei Jahre lang jeden Freitag zum Katechismusunterricht in die Pfarrei zu kommen, und vermerkte dies auch in ihren Dokumenten. Danach zwangen die Geistlichen sie zur Beichte.
»Soll das etwa alles sein?«, zischte der Priester im Beichtstuhl, nachdem Fatima fertig war. »Don Juan de Austria mag eure Eheschließung angeordnet haben, aber ich kann euch beide trotzdem nicht trauen, wenn du nicht beichtest. Was ist mit Ehebruch? Und mit dem Aufstand? Und den Gotteslästerungen? Und den Morden, die du begangen hast?«
Fatima zitterte.
»Ich kann leider weder Reue noch Bußfertigkeit erkennen.«
Fatima konnte das hämische Grinsen des Priesters nicht sehen, doch Hernando nahm sehr wohl den spöttischen Gesichtsausdruck des anderen Geistlichen wahr. Was hatte dieses bösartige Lächeln zu bedeuten? Er blickte Hilfe suchend zu Andrés – doch der schüttelte nur leicht den Kopf. Wenn sie nicht Mann und Frau … Die Inquisition! Sie lebten in Sünde. Gegen die Tribunale des Inquisitionsrates konnte selbst ein Don Juan de Austria nichts ausrichten.
»Ich bekenne!«, sagte Hernando laut und kniete nieder. »Ich bekenne, dass ich in Sünde gelebt habe, und ich bereue meine Tat. Ich bekenne …«
Fatima wiederholte Hernandos Worte mechanisch. Gemeinsam bekannten sie sich zu tausend Sünden, bereuten ihre Vergehen und gelobten, sich fortan an die christlichen Tugenden zu halten. Solange die Geistlichen nur zufrieden waren. Die Nacht mussten sie in der Kirche verbringen: Hernando betete laut, damit nicht auffiel, dass Fatima schwieg.
Am nächsten Morgen traten sie vor den Altar, im Beisein eines übel gelaunten Ibrahim und einiger Altchristen als Trauzeugen. Als sie das Abendmahl empfingen, ließ Hernando zu, dass sich die Hostie allmählich in seinem Mund auflöste. Fatima würde bald seine Frau sein. Er blickte zu Ibrahim, der immer unruhiger wurde. Alles, was nach der Zeremonie geschehen würde, war unwichtig. Dann war es so weit, der Pfarrer erklärte sie zu Mann und Frau, und Hernando bat insgeheim auch Allah um sein Geleit.
Die Heirat hatte sie das Maultier gekostet. Hernando hatte sich zunächst gegen den hohen Preis gewehrt. Immerhin betrug der übliche Preis für Eheschließungen zwei Reales für den Pfarrer, einen halben Real für den Sakristan sowie eine milde Gabe. Aber er hatte kein Geld, sein einziger Besitz war dieses Tier. Bevor sie das Gotteshaus verließen, erhielten die frisch vermählten Eheleute noch die Auflage, in den nächsten vierzig Tagen keinen Beischlaf zu halten.
Sobald sie die Kirche verlassen hatten, beanspruchte Ibrahim Fatima wieder für sich und wachte die ganze Zeit darüber, dass Hernando niemals mit ihr allein war. Falls es dennoch aus irgendeinem Grund dazu kam, wich Fatima ihrem christlich angetrauten Mann aus.
»Lass sie«, riet ihm eines Tages seine Mutter. »Sie macht es wegen Humam … und wegen mir. Ibrahim hat damit gedroht, den Kleinen umzubringen, wenn sie mit dir spricht. Es tut mir so leid.«
Doch Hernando spürte noch immer die Verbindung, die er mit Fatima in der Kirche von Padul erlebt hatte. In diesem Moment war er ihr Ehemann geworden. Ja, ausgerechnet in einem christlichen Gotteshaus.
Die Morisken in der Vega warteten. Wohin würde man sie verbannen? Wovon sollten sie leben? Allein die Vorstellung an ein Leben fernab ihrer Heimat und noch dazu unter der Herrschaft der hasserfüllten Christen war eine andauernde Qual. Einige schöpften zwar noch Hoffnung aus der wiederentfachten Rebellion von Aben Aboo, aber was sie darüber hörten, klang nicht sonderlich ermutigend: Der Großkomtur von Kastilien und der Herzog von Arcos kämpften offensichtlich sehr erfolgreich gegen die versprengten Truppen des Königs von al-Andalus.
Am 1. November befahl Don Juan die endgültige Verbannung, und dreitausendfünfhundert Morisken verließen Granada unter strenger Bewachung in Richtung Córdoba, darunter auch die Familie Ruiz aus Juviles. Nur mehr in Lumpen gekleidet, ausgehungert und krank legten sie die Strecke in sieben Tagen zurück.
Der erste Tag führte sie nach Pinos. Während Don Francisco de Zapata dort für sich und seine Leute eine geeignete Unterkunft fand, mussten die Morisken die eisige, regnerische Nacht im Freien verbringen. Am frühen Morgen zogen sie weiter nach Moclín, wo eine eindrucksvolle Festung seit Jahrhunderten den Zugang zur Vega und zur Stadt Granada bewachte. Die Strecke war steil und anstrengend, zudem setzte sich die Kälte aus den Bergen in ihren durchnässten Kleidern und in ihren Knochen fest. Da kein einziger Moriske unterwegs verloren gehen durfte, wurden die kräftigen Männer gezwungen, die Schwachen und Toten zum nächsten Nachtlager zu tragen. Karren oder Maultiere standen ihnen dafür nicht zur Verfügung. Auch Hernando trug einen alten, kranken Mann die Anhöhe hoch, während Ibrahim mit Aischa, Fatima und den Jungen weit voranging. Der Kranke konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten, sein Husten wurde immer heftiger und dröhnte Hernando in den Ohren. Am Ende war er einer der siebzig Morisken, die diese Nacht nicht überlebten. Der einzige Trost für die Vertriebenen war, dass sie die Leichname ihrer Glaubensbrüder aus Mangel an Särgen der Tradition entsprechend in jungfräulicher Erde bestatten konnten.
Einige Morisken versuchten in ihrer Verzweiflung zu fliehen. Aber Don Juan hatte verfügt, dass jeder Soldat, der einen Entflohenen aufgriff, ihn als Leibeigenen behalten durfte. Wenn ein Moriske fehlte, machten sich die Soldaten sofort begierig auf die Suche nach dem Vermissten, und sobald sie ihn gefasst hatten, verpassten sie ihrem neuen Sklaven ein Brandzeichen auf die Stirn oder die Wange. Die Schmerzensschreie erschütterten die gesamte Kolonne der Vertriebenen.
Von Moclín aus führte sie ihr Weg über die Berge nach Alcalá la Real, wo auf den Fundamenten der dortigen Moschee gerade eine monumentale Abteikirche gebaut wurde. Diesmal musste Hernando mithilfe eines anderen jungen Mannes eine alte Frau tragen. In der Nacht zuvor war ihm aufgefallen, dass Fatima große Angst um Humam hatte. Der Kleine hatte fürchterlich gehustet.
In Alcalá la Real kam Aischa auf Hernando zu und erzählte ihm unter Tränen von Humams Tod: Wie bei dem alten Mann war aus dem trockenen Husten ein pfeifender Atem geworden, und der Kleine hatte ununterbrochen gezittert. Fatima hatte die Christen auf Knien angefleht, eine Pause machen zu dürfen, um dem Kleinen etwas Heißes zubereiten zu können, aber das Flehen der erschöpften Mutter traf nur auf taube Ohren und Verachtung. Insgeheim hatten die Soldaten wohl darauf gehofft, dass diese junge, selbst im Leid noch wunderschöne Frau mit ihrem Sohn fliehen würde. Auf dem Markt von Córdoba hätte sich bestimmt ein guter Preis für sie erzielen lassen.
»Kein einziger Christ hat uns geholfen«, schluchzte Aischa und berichtete von den mitfühlenden Blicken der anderen Morisken.
Etwa eine Meile vor Alcalá la Real hatte Humam plötzlich aufgehört zu zittern, und Aischa musste der verzweifelten Fatima den leblosen Körper des Kleinen aus den starren Armen reißen.
Da Hernando bei den Christen als Ehemann der jungen Mutter galt, musste er zu den Amtsschreibern gehen, die den Todesfall vermerkten und das Ableben des kleinen Humam bestätigten. Fatima sagte kein Wort. In der Dämmerung versammelten sich Hernando, Ibrahim, Aischa und Fatima wie so viele andere Moriskenfamilien etwas abseits des Lagers und bestatteten den Kleinen – unter dem strengen Blick der Soldaten des Corregidors. Aischa wusch die Leiche des Kindes mit dem eiskalten Wasser aus einem der Bewässerungskanäle und entdeckte zwischen Humams Kleidung die Fatimahand, das Amulett seiner Mutter. Aischa summte weiter die alten Wiegenlieder und nahm das Schmuckstück heimlich an sich. Dann hob Ibrahim ein Loch aus, und sie beerdigten Humam – ohne einen Alfaquí, ohne Gebete und ohne Leichentuch. Fatima stand blass und wie versteinert da. Sie hatte keine Tränen mehr.
Nach Alcalá la Real wurden die Tagesstrecken länger. Sie stiegen bis in die Felder vor Jaén hinab. Jeglicher Überlebenswille schien seit der letzten Nacht aus Fatima gewichen zu sein. Sie sprach mit niemandem, fiel immer mehr zurück und musste von Ibrahim schließlich zum Weitergehen gezwungen werden. Sie war gebrochen. Hernando fühlte Verzweiflung in sich aufsteigen, wenn er ihren wehrlosen Körper dicht neben dem seines Stiefvaters sah.
Nach drei weiteren gnadenlosen Etappen erreichten sie schließlich Córdoba. In zerrissenen Kleidern, ohne Schuhe und mit vollkommen erschöpften Kindern oder Kranken auf dem Rücken betraten sie die Stadt in Fünferreihen – von Hellebardenkompanien eskortiert.
Von den dreitausendfünfhundert Morisken, die die Vega von Granada verlassen hatten, waren nur dreitausend in Córdoba angekommen. Fünfhundert Glaubensbrüder hatten sie unterwegs verloren.
Es war der 12. November 1570.