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Doch obwohl sich der Verfasser dieser Geschichte mit Wissbegier und Eifer auf die Suche nach den Begebnissen von Don Quijotes dritter Fahrt machte, fand er kein einziges Zeugnis darüber, zumindest nicht aus zuverlässiger Quelle. Im Gedächtnis der Mancha ist nur überliefert, dass Don Quijote sich bei seiner dritten Fahrt nach Saragossa wandte, wo er an dem berühmten Lanzenstechen teilnahm, das in jener Stadt abgehalten wird, wobei ihm Dinge begegneten, die seiner Tapferkeit und Geistesgröße Ehre machten. Nichts weiter erfuhr er dort über Hinfahrt und Ende des Ritters, noch hätte er jemals etwas darüber erfahren, hätte ihm das Glück nicht einen alten Arzt über den Weg geführt, in dessen Besitz sich eine Bleischatulle befand, die, wie er sagte, beim Wiederaufbau einer alten zerstörten Wallfahrtskapelle in den Fundamenten zum Vorschein gekommen war. Die Schatulle enthielt einige Pergamentrollen in gotischer Schrift, jedoch mit spanischen Versen, die viele seiner Heldentaten priesen, Zeugnis ablegten von der Schönheit der Dulcinea von Toboso, von Rocinantes Knochengestell, von Sancho Panzas Treue und sogar von Don Quijotes Begräbnis, einschließlich verschiedener Grabschriften und Lobreden auf sein Leben und Streben.

Miguel de Cervantes Saavedra,

Don Quijote von der Mancha, Erster Teil, 52. Kapitel

Ein Patio-Haus im Pfarrbezirk Santa María in der Nähe der Kathedrale, ein kleiner Bauernhof mit einigem bewässerten Ackerland in der Nähe des Ortes Palma del Río, der jährlich etwa vierhundert Dukaten einbrachte, sowie fünfhundert Granatapfelbäume und die gleiche Anzahl Walnussbäume, außerdem von den Pächtern jeden Winter drei Zentner Oliven sowie jede Woche eine je nach Jahreszeit festgelegte Menge Obst und Gemüse. Das war das Erbe, das Don Alfonso de Córdoba dem Mann zugedacht hatte, dem er sein Leben verdankte. Zudem gab es andere Vermächtnisse wie die Mitgift für mittellose Mädchen im heiratsfähigen Alter oder Geld für den Freikauf von christlichen Gefangenen. Melchor Parra und die Testamentsvollstrecker des Herzogs überschrieben Hernando das Erbe ohne weitere Zwischenfälle, und der Notar übermittelte ihm zudem mit einem gewissen Sarkasmus die neidischen Worte und Beleidigungen, die er im Palast gehört hatte. Die Schmähungen kamen allesamt aus den Mündern der Höflinge, die nicht einmal eine Blanca-Münze erbten – und das waren alle.

»Anscheinend bist du keinem dort sonderlich sympathisch«, meinte der Notar und verhehlte seine Befriedigung nicht, während der Erbe die Besitztitel unterzeichnete.

Hernando schwieg. Nach den geleisteten Unterschriften stellte er sich vor den alten Mann und suchte nach dem Schuldschein. Dann händigte er diesen im Beisein der Testamentsvollstrecker dem Notar aus.

»Das beruht auf Gegenseitigkeit, Don Melchor.«

Nachdem er mit Pablo abgerechnet hatte, der zudem den Degen und den Siegelring des jungen Adligen an sich nahm, dem Notar die Schuld erlassen und die Rückzahlung der einhundert Dukaten an Don Pedro de Granada Venegas angewiesen hatte, besaß Hernando immer noch genug für sein Auskommen, bis er in sein neues Haus ziehen und die Erträge erhalten würde.

Da nahm sein Leben eine unerwartete Wende.

»Das Haus ist noch vermietet, Señor«, klagte Miguel. Die beiden standen vor dem Patio-Haus in der Calle Espaldas de Santa Clara, nachdem Hernando den Jungen angewiesen hatte, alles vorzubereiten, damit er mit seiner Mutter und Volador das neue Haus beziehen konnte. »Ihr müsst warten, bis der Mietvertrag abläuft.«

»Nein«, entgegnete ihm Hernando. »Gefällt es dir?« Miguel pfiff beim Anblick des ansehnlichen Gebäudes anerkennend durch seine schadhaften Zähne. »Also, wir machen Folgendes: Ich begebe mich wieder in die Posada, und du gehst hinein und fragst nach der Herrin des Hauses. Nach der Señora, Miguel, hast du mich verstanden?«

»Sie werden mich nicht zu ihr vorlassen. Sie werden glauben, dass ich nur ein Bettler bin.«

»Versuch es. Sag ihnen, dass du der Diener des neuen Hausbesitzers bist.« Bei diesen Worten verlor Miguel mit seinen Krücken fast das Gleichgewicht und drehte sich abrupt zu Hernando um. »So ist es. Ich denke, weder meine Mutter noch mein Pferd könnten je einen besseren Diener als dich bekommen. Versuch es. Ich bin überzeugt, dass du es schaffst.«

»Und wenn es mir gelingt?«

»Dann sagst du der Hausherrin, dass sie von nun an die Miete an den neuen Hausbesitzer zahlen muss: an den Neuchristen Hernando Ruiz aus Juviles. Sie muss unbedingt erfahren, dass ich Moriske bin und ein Vertriebener aus den Alpujarras, einer von den Männern, die bei dem Aufstand zu den Waffen gegriffen haben. Sie muss begreifen, dass ich trotz allem ihr neuer Hausbesitzer bin. Wenn nötig, erzählst du ihr die ganze Geschichte noch einmal von vorn.«

Die Mieter, eine wohlhabende Seidenhändlerfamilie, brauchten keine Woche, um das Haus zu räumen, sobald der herzogliche Sekretär bestätigt hatte, dass die Miete tatsächlich ab sofort an Hernando abzuführen sei. Welcher rechtschaffene, reinblütige Altchrist konnte es zulassen, dass er im Haus eines Morisken wohnte?

Strahlendes Sonnenlicht durchflutete den Innenhof. Der Duft der Blumen und das unaufhörlich plätschernde Wasser im Brunnen schienen Aischa gutzutun. Einige Tage nach ihrem Einzug – als Miguel der Kranken gerade wieder eine seiner Geschichten erzählte und ihr Blüten in den Schoß legte – beobachtete Hernando, wie seine Mutter eine Hand leicht bewegte. Auf einmal hatte er Fatimas Worte im Ohr, als er die Kinder eines Tages bei ihrem Unterricht mit dem Alfaquí in ihrem Patio angetroffen hatte.

»Hamid sagt, dass das Wasser die Quelle allen Lebens ist.«

Die Quelle allen Lebens! Sollte seine Mutter hier womöglich wieder gesunden können? Hernando näherte sich hoffnungsvoll dem sonderbaren Paar. Miguel schilderte gerade fröhlich die Geschichte von einem verhexten Haus.

»Die Wände schwankten wie das Schilf im Wind …«

Hernando lächelte ihm zu und betrachtete dann seine Mutter, die auf einem Stuhl neben dem Brunnen kauerte.

»Sie geht von Euch, Señor«, hörte er den Jungen sagen.

Hernando hielt inne.

»Wie bitte? Aber sie sieht doch schon viel besser aus!«

»Sie geht, Señor. Ich weiß es.«

Sie sahen sich einige Augenblicke lang schweigend an, dann schloss Miguel die Augen, als bestätigte er damit seine Vorahnung. Ganz sacht schüttelte er den Kopf, als würde er Hernandos Kummer teilen, dann fuhr er mit seiner Geschichte fort.

»Señora María, die Wand vom Schlafzimmer, in dem das Mädchen schlief, verschwand wie von Zauberhand. Könnt Ihr Euch das vorstellen? Eine riesige Lücke tat sich …«

Hernando hörte nicht weiter hin, er hockte vor seiner Mutter und streichelte ihr Knie. Sollte Miguel tatsächlich ihren Tod vorhersagen können? Aischa schien auf die Berührung ihres Sohnes zu reagieren und bewegte wieder eine Hand.

»Mutter«, flüsterte Hernando. »Miguel, lass uns einen Moment allein.«

Der Junge humpelte zum Stall, und Hernando legte Aischas kraftlose Finger zwischen seine Hände.

»Hörst du mich, Mutter? Kannst du mich verstehen?«, schluchzte er und drückte ihre schlaffe Hand. »Es tut mir so leid. Es ist meine Schuld. Hätte ich dir doch nur alles erzählt! Dann wäre es nie so weit gekommen. Mutter, ich habe niemals aufgehört, für unseren Glauben zu kämpfen.«

Dann schilderte er ihr, was er bislang erreicht hatte und mit welchem Auftrag er derzeit beschäftigt war. Er berichtete ihr von all den Plänen für die Gemeinschaft! Doch Aischa regte sich nicht. Hernando verbarg sein Gesicht in ihrem Schoß und weinte hemmungslos.

Es vergingen noch weitere vier Tage, bis sich die Vorahnung des Jungen erfüllte.

In diesen vier langen Tagen wich Hernando nicht von der Seite seiner Mutter und erzählte ihr ein ums andere Mal von seinen Taten, während neben ihm Aischas Leben langsam zu Ende ging und sie eines Morgens schließlich friedlich mit dem Atmen aufhörte.

Hernando wollte weder für das christliche Begräbnis noch für den Trauergottesdienst bezahlen. Miguel verzog das Gesicht, als er seinen Herrn mit dem Pfarrer von Santa María sprechen hörte, den dieser absichtlich erst nach Aischas Ableben benachrichtigt hatte, damit er ihr die Letzte Ölung geben und sie aus dem Verzeichnis der Morisken in der Pfarrei streichen konnte.

»Pater, sie war zwar meine Mutter, aber sie war verhext«, versuchte Hernando sich vor dem Geistlichen zu rechtfertigen, dem er dennoch das Geld für die Dienste gab, die dieser nicht zu leisten brauchte. »So lautete das Urteil der Inquisition.«

»Ich weiß«, erwiderte der Priester.

»Ich kann es dir nicht erklären«, entschuldigte er sich später bei Miguel, der den Worten entsetzt gelauscht hatte.

»›Verhext‹ sagt Ihr, Señor?«, kreischte der Junge und wäre beinahe umgefallen. »Aber selbst in ihrem Schweigen litt Eure Mutter mehr als ich damals, wenn man mich zum Betteln benutzte. Sie hat ein ordentliches Begräbnis …«

»Miguel, ich weiß sehr wohl, was meine Mutter verdient hat«, wies ihn Hernando zurecht.

Wenn er dafür bezahlt hätte, Aischa auf dem Friedhof des Sprengels zu begraben, hätte er es nicht geschafft. Doch mit ihrer Bestattung in einem Armengrab am Campo de la Merced, wo sonst kaum jemand unterwegs war, könnte es ihm gelingen. Wer hielt schon Wache bei den Leichen, deren Angehörige nicht bereit waren, für ein ordentliches christliches Begräbnis zu sorgen?

»Geh nach Hause«, befahl er Miguel, nachdem die Totengräber die Leiche ohne jeden Respekt in die Grube gestoßen hatten.

»Und was werdet Ihr nun tun, Señor?«

»Ich befehle dir, dass du jetzt nach Hause gehst.«

Hernando machte sich auf die Suche nach Abbas und fragte im Marstall nach ihm. Man ließ ihn ein, und kurz darauf betrat er die Schmiede. Seit ihrer letzten Begegnung – damals, als die Gemeinschaft sich geweigert hatte, sein Almosen anzunehmen – ging es Abbas offensichtlich schlechter. Dem Schmied wiederum entging nicht, dass auch der Nazarener sichtlich gealtert war.

»Ich glaube kaum, dass dir jemand helfen will«, versicherte ihm Abbas abweisend, nachdem ihm Hernando sein Anliegen geschildert hatte.

»Wenn du sie darum bittest, werden sie es tun. Ich werde gut dafür bezahlen.«

»Schon wieder das Geld! Das ist das Einzige, was dich interessiert.« Abbas warf ihm einen abschätzigen Blick zu.

»Du irrst dich gewaltig, aber ich habe nicht die Absicht, mich mit dir zu streiten. Meine Mutter war eine gute Muslimin, das weißt du sehr wohl. Tu es für sie. Wenn du es nicht machst, muss ich mir auf der Plaza del Potro ein paar betrunkene Christen suchen, und dann riskieren wir alle, dass man erfährt, wie wir unsere Toten bestatten, und dass die Inquisition nachforscht. Dir ist klar, dass die Priester imstande sind, den gesamten Friedhof umzugraben, oder?«

Noch in der Nacht begleiteten ihn zwei kräftige junge Männer und eine ältere Frau. Niemand wollte Hernandos Geld, und sie sprachen auch kein Wort mit ihm. Durch eine unscheinbare Öffnung in der Stadtmauer gelangten sie zum Campo de la Merced. Im Mondschein gruben die beiden jungen Morisken auf dem menschenleeren Friedhof Aischas Leichnam an der Stelle aus, die ihnen Hernando wies, und übergaben ihn der alten Frau. Dann begannen sie, in der jungfräulichen Erde eine lange, schmale Grube in halber Mannstiefe auszuheben.

Die alte Frau war auf ihre Aufgabe vorbereitet: Sie entkleidete die Leiche und wusch sie. Dann rieb sie sie mit feuchten Weinblättern ab.

»Herr! Verzeih ihr und nimm dich ihrer an!«, betete sie immer wieder.

»Amen«, sprach Hernando. Er stand mit dem Rücken zu ihr, seine Tränen ließen den Blick auf die Stadt Córdoba verschwimmen. Ihre Religion erlaubte es nur denjenigen, die die Leiche wuschen, diese zu betrachten, und Hernando hätte nicht gewagt, dagegen zu verstoßen.

»Herr, verzeih mir!«, flehte die alte Frau, weil sie die Leiche berührt hatte. »Junge, hast du das Leinen dabei?«

Ohne sich umzudrehen, übergab er ihr die weißen Tücher, in die sie den schmächtigen toten Körper hüllte. Die jungen Männer wollten Aischas Leichnam einfach so begraben, als das Erdloch tief genug war, aber Hernando hinderte sie daran.

»Was ist mit dem Totengebet?«, forderte er sie auf.

»Was für ein Gebet?«, fragte einer der beiden.

Die Männer mochten etwa zwanzig Jahre alt sein. Sie waren bereits in Córdoba auf die Welt gekommen. Sie hatten keinen Unterricht von einem Alfaquí erhalten, sie wussten nichts über das offenbarte Wort oder die Gebete. Stattdessen füllten sie ihre Seelen mit dem blinden Hass gegen die Christen. Vermutlich kannten sie nur das Glaubensbekenntnis.

»Lasst den Leichnam neben dem Grab liegen, und wenn ihr wollt, könnt ihr gehen.«

Dann hob Hernando im Mondlicht seine Arme zum Himmel und begann das lange Totengebet.

»Gott ist groß. Lob sei Gott, der Leben und Tod schenkt. Lob sei Gott, der die Toten auferstehen lässt. Sein ist die Herrlichkeit, sein ist der Ruhm, sein ist die Herrschaft …«

Die jungen Männer und die alte Frau blieben ruhig hinter ihm stehen, während er das Gebet sprach.

»Ist das der Mann, den alle nur den ›Nazarener‹ nennen?«, flüsterte einer der jungen Männer dem anderen zu.

Hernando beendete das Gebet. Sie betteten Aischa so in die Grube, dass sie zur Qibla ausgerichtet lag. Bevor sie sie mit Steinen bedeckten, über die sie wiederum Erde schichteten, damit diese Stelle nicht weiter auffiel, legte er den Totenbrief zwischen die Leinentücher. Er hatte ihn am Abend mit Safrantinte geschrieben, in inniger Verbindung mit Allah waren ihm Buchstaben von höchster Vollendung gelungen.

»Was machst du da?«

»Frag deinen Alfaquí«, erwiderte Hernando schroff. »Ihr könnt gehen. Danke.«

Die beiden jungen Männer und die alte Frau brummten einen Abschiedsgruß, Hernando blieb allein am Fuß des Grabes stehen. Das Leben seiner Mutter war hart gewesen. In seinem Gedächtnis zogen einzelne Begebenheiten vorüber, aber nicht so wahllos und unvermittelt wie sonst, sondern in einer langsamen Abfolge. So stand er eine geraume Weile, mal brach er in Tränen aus, mal musste er wehmütig lächeln. Nun hat sie endlich ihren Frieden gefunden, beruhigte er sich, ehe er in die Stadt zurückkehrte.

Auf seinem Rückweg, schon hinter der Stadtmauer, hörte er einen dumpfen, ihm wohlbekannten Ton. Hernando blieb mitten auf der Straße stehen.

»Du brauchst dich nicht zu verstecken«, sagte er in die dunkle Nacht hinein. »Komm zu mir, Miguel.«

Der Junge folgte seiner Aufforderung nicht.

»Ich habe dich gehört«, versicherte Hernando. »Los, mach schon.«

»Señor.« Hernando versuchte, die Stimme zu orten. Sie klang traurig. »Als ich Euer Diener wurde, habt Ihr gesagt, dass Ihr mich für Eure Mutter und für Euer Pferd braucht. Señora María Ruiz ist gestorben, und das Pferd … Ich kann Volador doch nicht einmal aufzäumen.«

Hernando spürte, wie ihm heiß und kalt wurde.

»Glaubst du wirklich, ich könnte dich vor die Tür setzen, nur weil meine Mutter tot ist?«

Eine Weile herrschte absolute Stille, bis sie vom Klappern der Krücken durchbrochen wurde. Miguel hüpfte durch die Dunkelheit zu ihm.

»Nein, Señor, das glaube ich nicht.«

»Mein Pferd mag dich, das weiß ich, und das sehe ich. Und was meine Mutter angeht …«

Hernando versagte die Stimme.

»Ihr habt sie sehr gemocht, nicht wahr?«

»Ja, sehr«, seufzte Hernando. »Aber sie hat mich nicht …«

»Sie starb im Trost, Señor«, versicherte ihm Miguel. »Sie starb in Frieden. Sie hat Eure Worte gehört, seid deswegen unbesorgt.«

Hernando versuchte im Dunkeln Miguels Gesichtsausdruck zu erkennen. Was sagte der Junge da?

»Was meinst du damit?«, wollte er wissen.

»Sie hat Eure Worte sehr wohl verstanden, und sie hat gewusst, dass Ihr Euer Volk nicht verraten habt.« Miguel senkte beim Sprechen den Blick zu Boden, er wagte nicht aufzusehen.

»Woher willst du das wissen?«

»Ihr müsst mir verzeihen.« Nun richtete der Junge seine ernsten Augen auf Hernando. »Ich bin nur ein kleiner Bettler. In unserem Leben geht es immer nur darum, dass wir etwas hören, dass wir etwas mitbekommen, in den Gassen, hinter den Straßenecken …«

Hernando schüttelte den Kopf.

»Aber ich bin treu«, beteuerte Miguel sogleich. »Ich würde Euch nie verraten, das würde ich bei einem Menschen wie Euch wirklich niemals tun! Ich schwöre es, und wenn man mir auch noch die Arme bräche!«

Hernando war sprachlos. Woher wollte der Junge denn wissen, dass Aischa in Frieden starb?

»Ich habe mir oft gewünscht, dass ich sterbe«, sagte Miguel, als erriete er Hernandos Gedanken. »Ich war oft einsam und krank und habe an den Türen der Menschen gebettelt. Meistens sind mir die Leute voller Verachtung aus dem Weg gegangen. Ich habe auch in so einem Zustand wie Señora María gelebt und dabei viele Seelen kennengelernt, die ebenfalls vor der Tür des Todes standen. Die einen haben Glück und gehen hindurch, die anderen müssen noch warten und leiden. Sie wusste es. Sie hörte Euch. Das versichere ich Euch. Ich habe es gefühlt.«

Hernando fehlten immer noch die Worte. Irgendetwas an diesem Jungen weckte sein Vertrauen – er glaubte ihm. Oder war es nur sein eigener Wunsch, dass seine Mutter in Frieden verstorben war? Hernando seufzte.

»Komm, wir gehen jetzt nach Hause, Miguel.«

»Ich habe das überprüft.« Ephraim hob die Stimme, um deutlich zu werden. Er hatte Fatima gleich nach seiner Rückkehr in Tetuan Aischas Botschaft ausgerichtet, und die Palastherrin seufzte nur ungläubig. Der alte Jude, der seinem Sohn zur Seite stand, packte den jungen Mann am Arm, damit er sich beruhigte. »Ich habe das überprüft«, sagte Ephraim noch einmal, diesmal etwas ruhiger. Fatima war aufgebracht und ging im kostbar ausgestatteten Saal, der zum Patio führte, auf und ab. »Nach dem Gespräch mit Aischa suchte mich der Schmied aus dem Marstall auf …«

»Abbas?«, entfuhr es Fatima.

»Ein gewisser Jerónimo. Er hatte mir zuvor gesagt, wo die alte Frau wohnt. Anscheinend war er mir gefolgt und hatte abgewartet, bis mein Besuch bei ihr zu Ende war, um mich dann auf dem Weg mit Fragen zu bestürmen …«

»Hast du ihm von mir erzählt?«, unterbrach ihn Fatima.

»Nein. Ich habe ihm nur das gesagt, was ich mir für den Fall ausgedacht hatte, dass die Sache schiefgeht: Dass ich als Zahlung für eine Ladung Öl ein prächtiges, reinrassiges Araberpferd erhalten habe und dass ich Hernando damit beauftragen wolle, es zu zähmen.«

»Und dann?«

»Er hat mir nicht geglaubt. Er wollte unbedingt von mir wissen, was das für ein Brief war, den Aischa zerrissen und in den Guadalquivir geworfen hatte. Aber ich habe nichts verraten. Das versichere ich Euch.«

»Was hat Abbas gesagt?«, fragte Fatima und blieb angespannt vor dem jungen Juden stehen. Ephraim hatte Aischas Zustand genau beschrieben. Er hatte von ihrer Hinfälligkeit berichtet und davon, wie sie sich altersschwach durch die Straßen schleppte. Vielleicht … vielleicht war Aischa inzwischen verrückt geworden. Aber Abbas konnte nicht gelogen haben! Er war Hernandos Freund! Die beiden Männer hatten Seite an Seite gearbeitet, gemeinsam hatten sie für die Gemeinschaft ihr Leben riskiert. Nein, Abbas nicht. Abbas konnte nicht gelogen haben.

Ephraim zögerte.

»Dieser Jerónimo – oder Abbas, wie Ihr ihn nennt – hat alles bestätigt, was mir die Mutter berichtete. An dem Abend lud mich der Schmied in das Haus eines Freundes ein – ein gewisser Cosme. Die Morisken von Córdoba achten diesen Mann. Die beiden wiederholten, was Aischa mir bereits gesagt hatte. Nach Eurem Tod, denn sie halten Euch und Eure Kinder für tot …« Fatima seufzte und nickte. »Also, nicht einmal ein Jahr nach dem Vorfall zog Euer Gemahl in den Palast des Herzogs von Monterreal. Die beiden Männer schäumten vor Wut über den Nazarener.«

Der alte Jude wurde unruhig, als er seinen Sohn diesen Spottnamen sagen hörte, doch Fatima zuckte nicht mit der Wimper. Ihr Gesichtsausdruck blieb versteinert.

»Alle Morisken hassen ihn wegen seiner Taten und wegen seines Verrats. Selbst die Nachbarn dieses Cosme haben es mir bestätigt. Es tut mir leid!«, sagte der jungen Mann dann nach einer Pause.

Während der langen Zeit, in der der Jude von Tetuan nach Córdoba und wieder zurück gereist war, waren Fatima Tausende Gedanken durch den Kopf gegangen: Hernando, der ein neues Leben angefangen hatte und sich weigerte, die ehemalige Hauptstadt der Kalifen zu verlassen. Sie hätte es verstanden! Dann stellte sie sich vor, dass er gestorben sein könnte. Die Nachrichten von der grausamen Pestepidemie, die vor sechs Jahren große Teile der Bevölkerung von Córdoba dahingerafft hatte, waren bis nach Tetuan gedrungen. Vielleicht wollte er auch einfach seine Arbeit als Bereiter im königlichen Marstall nicht aufgeben, die ihm so viel Befriedigung verschaffte. Oder vielleicht benötigten ihn die Glaubensbrüder vor Ort, im Gebiet der Christen, und er musste weiter Abschriften des Korans, der Mondkalender und der Weissagungen anfertigen … Das hätte sie alles verstanden! Aber sie wäre niemals auf die Idee gekommen, dass Hernando seine Leute und ihre Religion verraten könnte. Sie selbst hatte doch damals auf ihre eigene Freiheit verzichtet, damit der Moriskensklave mit Hernandos Geld freigekauft werden konnte!

»Und du bist dir sicher?« Fatima zögerte. Sie hatten doch so lange zusammengelebt, Hernando hätte sein Tun doch unmöglich all die Jahre vor ihr geheim halten können! Ja, Hernando hatte ihr von seiner Flucht aus Barrax’ Zelt im Feldlager zusammen mit dem christlichen Adligen berichtet. Aber wie hatte er – nach den Opfern, die sie selbst gebracht hatte, um mit ihm die Ehe einzugehen – die ganze Wahrheit verschweigen können? »Du sagst, dass er in den Alpujarras vielen Christen das Leben gerettet hat?«

»Ja. Zwei Fälle sind bekannt. Er half dem Herzog, der ihn später in seinem Palast in Córdoba aufnahm, und dann gibt es noch die Gattin eines Richters vom Obergericht in Granada. Aber die Leute reden von viel mehr geretteten Christen.«

Da konnte Fatima ihre Wut und ihre Enttäuschung nicht mehr unterdrücken. Plötzlich waren nur mehr ihre Schreie und Flüche zu hören. Außer sich vor Zorn rannte sie in den Patio, dort streckte sie die Arme zum Himmel und gab vor Kummer und Wut einen gellenden Schrei von sich. Der alte Jude machte seinem Sohn ein Zeichen und verließ mit ihm den Palast.

Einige Tage später rief Fatima Shamir und ihren Sohn Abdul zu sich. Sie berichtete ihnen, was sie über Hernando erfahren hatte.

»So ein Mistkerl!«, brummte Abdul nur, als seine Mutter fertig war.

Dann zogen sich die beiden jungen Männer zurück. Ihre Gesichter waren ernst, und sie traten entschieden auf, die Metallplättchen ihrer Krummsäbel klirrten bei jedem Schritt. Ja, sie waren richtige Korsaren, dachte Fatima, sie waren Grausamkeiten gewohnt.

Von dem Tag an kümmerte sich Fatima persönlich und mit eiserner Hand um den Handel und die Mehrung des Vermögens der Familie. Shamir und Abdul gingen weiterhin auf Kaperfahrten. Fatima ließ sich durch nichts und niemanden von ihrer Aufgabe ablenken –
nur nachts, wenn sie allein war, dachte sie mit einer Mischung aus Zorn und Gram an Ibn Hamid. Mithilfe einer stattlichen Mitgift verheiratete sie ihre Tochter mit einem Sprössling der Familie Naqsis, die Tetuan inzwischen beherrschte. Auch für Abdul und Shamir suchte sie geeignete Frauen aus. Das Bündnis, das sie nach Ibrahims Tod mit der Familie Naqsis eingegangen war, erwies sich als äußerst ertragreich, und ihre Situation als Frau hinderte sie keineswegs daran, unter den Geschäftsleuten in der Piratenhochburg eine herausragende Stellung einzunehmen. Sie war nicht die erste Frau, die in Tetuan etwas zu sagen hatte: Nicht umsonst war die erste Gouverneurin der Stadt nach der Eroberung durch die Muslime eine einäugige Frau gewesen, deren Andenken Achtung und Bewunderung erfuhr. So wie diese Frau wurde Fatima verehrt wie auch gefürchtet, und so wie diese Frau war auch Fatima auf sich allein gestellt.

Die Pfeiler des Glaubens
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