54
Gott der
Allmächtige blies, und die Armada flog nach
allen Winden
Münzinschrift von Elisabeth I. von England
Nach einem zweimonatigen Aufenthalt im Hafen von La Coruña und trotz mannigfacher Friedensgespräche und Verhandlungen brach die große spanische Armada schließlich zur Eroberung von England auf. Wegen des überraschenden Todes des Marquis von Santa Cruz hatte der Herzog von Medina Sidonia kurzfristig den Oberbefehl über die Armada übernommen.
Don Alfonso de Córdoba und sein Erstgeborener stachen in Begleitung von zwanzig Dienern, darunter auch der Kammerherr José Caro, auf einem der Schiffe in See.
Doch die Nachrichten, die Spanien erreichten, entsprachen nicht den Erwartungen an die Barmherzigkeit des Gottes, für den die Flotte in den Krieg zog. Die Schiffe sollten in Dünkirchen die Tercios des Herzogs von Parma an Bord nehmen und zusammen mit ihnen England überfallen. Aber als sie in Calais vor Anker gingen – nicht weit von den Truppen des Herzogs entfernt –, mussten die Spanier feststellen, dass die mit England verbündeten Niederländer die Bucht von Dünkirchen blockierten: Der Herzog konnte mit seinen Soldaten nicht zur Armada gelangen. Lord Howard, der englische Flottenadmiral, nutzte die einmalige Gelegenheit, die ihm die untätig vor Anker liegende Armada bot, und bereitete einen besonderen Angriff vor:
In der Nacht des 7. August 1588 beobachteten die Spanier, wie acht unbemannte englische Schiffe bei Flut und mit Rückenwind auf sie zusteuerten – sie brannten lichterloh. Zwar konnten die Spanier zwei der so gefürchteten und gefährlichen Brander mit langen Stangen ablenken, doch sechs weitere gelangten zwischen die spanischen Schiffe und setzten sie in Brand, bevor sie schließlich selbst Opfer der Flammen wurden. Die spanischen Kapitäne sahen sich gezwungen, die Ankerketten zu kappen und ihre Positionen aufzugeben, um in aller Eile aus dem Feuerinferno zu fliehen. Damit gaben sie ihre halbmondförmige Formation auf und waren den nun folgenden Attacken der Engländer schutzlos ausgeliefert. Es kam zu blutigen Kämpfen, bei denen die Spanier vom stürmischen Wind immer weiter Richtung Norden getrieben wurden. Der Herzog von Medina Sidonia versuchte sein Bestes, um die Armada zurück an die flandrische Küste zu bringen, doch die Wetterbedingungen ließen dies nicht zu. Indessen beobachteten die Engländer die weiteren Manöver des Feindes.
Einige Tage später ließ der spanische Admiral sämtliche Tiere über Bord gehen. Es herrschten mehr als prekäre Bedingungen: Das mitgeführte Trinkwasser war brackig, die Lebensmittel halb verdorben, die Schiffe waren schwer beschädigt, und täglich starben Mitglieder der Besatzung an Typhus oder Skorbut. Unter diesen Bedingungen musste die Armada um Schottland herumsegeln und dann an der irischen Küste entlang Kurs auf Spanien nehmen.
Am 21. September machte das Flaggschiff des Herzogs von Medina Sidonia zusammen mit acht Galeonen endlich im Hafen von Santander fest. Das Schiff wurde nur noch von drei dicken Trossen zusammengehalten, und der Admiral rang in seiner Kajüte mit dem Tod. Von den ursprünglich einhundertdreißig Schiffen der großen Armada trafen nur fünfunddreißig – und das meist als halbe Wracks – in verschiedenen spanischen Häfen ein. Einige wurden bei der Schlacht im Ärmelkanal versenkt, die meisten gingen jedoch vor Irland verloren, wo schwere Stürme wüteten, die die Schiffbrüchigen über die gesamte irische Küste verteilten. Einige Männer blieben für immer verschollen. Wenige Tage später brach ein Kurier mit der Nachricht nach Córdoba auf, dass das Schiff mit Don Alfonso und seinem Sohn an Bord bislang keinen Hafen angelaufen habe.
Nach Erhalt der Nachricht verfügte Doña Lucía, dass alle Palastbewohner – ganz gleich, ob Hidalgo, Diener oder Sklave, und somit auch Hernando – täglich an den drei Messen teilnehmen mussten, die der Hauskaplan in der Palastkapelle abhielt. Den restlichen Tag wurde die allgemeine Stille nur vom leisen Raunen gebrochen, wenn die Hidalgos gemeinsam mit der Herzogin in einem der schwach erleuchteten Säle den Rosenkranz beteten. Es galt ein striktes Fasten, jede Lektüre wurde verboten, Tanz und Musik ohnehin, und niemand wagte es, den Palast zu verlassen, es sei denn für den Kirchgang oder für eine der unzähligen Bittprozessionen, die seit der Kunde über das Unglück der Armada in jedem Winkel von Spanien veranstaltet wurden.
»Maria, mater gratiae, mater misericordiae …«
Alle knieten hinter der Herzogin und wiederholten das Rosenkranzgebet. Auch Hernando flüsterte die endlose Litanei, aber die stolzen, hochmütigen Höflinge ringsum beteten laut und mit voller Inbrunst. Er konnte die Unruhe und Sorge in ihren Gesichtern erkennen: Ihre Zukunft hing von Don Alfonso und seiner Großzügigkeit ab, und wenn der Herzog starb …
»Ich denke, Ihr müsst Euch keine allzu großen Sorgen machen, Cousine«, sagte eines Tages Don Sancho beim Essen. Auf dem Tisch standen nur Schwarzbrot und Fisch. »Wenn Euer Gemahl und sein Erstgeborener an der irischen Küste gefangen genommen wurden, werden ihnen die Häscher bestimmt nichts antun. Die beiden Männer bedeuten für die Engländer schließlich ein besonders hohes Lösegeld. Niemand wird sie belästigen. Habt Vertrauen zu Gott. Man wird sie gut behandeln, bis das Lösegeld eintrifft. Das ist das Gesetz der Ehre, das ist das Kriegsrecht.«
Doch die Hoffnung, die in den Augen der Herzogin nach den Worten des alten Hidalgos kurz aufgeflackert war, verschwand im gleichen Maße, wie immer mehr schlechte Nachrichten die Halbinsel erreichten. Sir William FitzWilliam, dem Vertreter der englischen Krone in Irland, standen nur siebenhundertfünfzig Soldaten zur Verfügung, um die besetzte Insel gegen die Iren zu verteidigen, die immer noch für ihre Freiheit kämpften. Ihm kam die Ankunft so vieler feindlicher Soldaten wahrlich mehr als ungelegen, und sein Befehl war eindeutig: Jeder Spanier, der auf irischem Gebiet angetroffen wurde, sollte – unabhängig seines Standes – festgenommen und hingerichtet werden.
Die Kundschafter Philipps II. und die Soldaten, die mithilfe der Iren über Schottland fliehen konnten, berichteten ausführlich über die Massaker an den schiffbrüchigen Spaniern. Die Engländer brachten – ohne Mitleid und Achtung von geltendem Recht – sogar diejenigen um, die sich ergaben.
Da trat zu Hernandos Sorge um den Mann, den er als wahren Freund ansah, auch die Angst um seine eigene Zukunft. Seine Beziehung zur Herzogin hatte nach seiner Liebschaft mit Isabel ohnehin einen Tiefpunkt erreicht. Wie Don Sancho sprach auch Doña Lucía noch immer kein Wort mit ihm und würdigte ihn keines Blickes. Hernando kam sich im Palast inzwischen nur mehr wie eine Art Ballast des Mannes vor, über dessen Schicksal nichts bekannt war. Unter anderen Umständen hätte er seine eigene Lage vielleicht weniger bedauert, aber nach dem spektakulären Fund in der Torre Turpiana konnte und wollte er weder auf die Gunst des Herzogs und den Zugang zu dessen Bibliothek verzichten noch auf die Möglichkeit, sich dort ganz der Sache der Morisken widmen zu können. So unerfreulich sich sein Leben im herzoglichen Palast inzwischen auch gestaltete, so erfreulich waren die Nachrichten aus Granada. Die Domherren hatten Luna und Castillo tatsächlich mit der Übersetzung des Pergaments beauftragt. Außerdem konnte sich Hernando im Palast immer noch der Kalligraphie widmen. Mittlerweile hatte er eine wahre Meisterschaft darin erreicht, die Schreibrohre mit der perfekten Abschrägung nach rechts zu versehen. Als stünde seine Hand in Gottes Dienst, gelangen ihm auf dem Papier inzwischen so ebenmäßige Buchstaben, wie er es sich nie hätte vorstellen können.
Im September 1588, als ganz Spanien die Niederlage der Unbesiegbaren Armada beweinte, traf ein junger Jude aus Tetuan in Córdoba ein. Der Mann führte gefälschte Dokumente bei sich, die ihn als Ölhändler aus Málaga auswiesen.
Als er die Calahorra-Festung hinter sich gelassen hatte und über die römische Brücke ging, bestaunte der junge Mann den großen – wenn auch noch lange nicht fertiggestellten – Neubau, der sich jenseits des Stadttores vor ihm auftat. Er musste an die Worte seines Vaters denken.
»Du wirst dann die großartige Moschee vor dir haben, in der die Christen ihre Kathedrale errichten«, hatte dieser ihm vor der Abreise erklärt, als er ihm Fatimas Anweisungen mit auf den Weg gab. Der alte Mann hatte Spanisch mit ihm gesprochen, um ihn wieder an die Sprache zu gewöhnen, mit der sie in Tetuan sonst nur ihre Geschäfte mit den Christen abwickelten. Und jetzt war er hier!
Ephraim – der junge Mann trug den gleichen Namen wie sein Vater – verlangsamte seinen Schritt angesichts der gewaltigen Konstruktion, die aus dem niedrigen Dach der Moschee emporragte. Die Bogen für das Gewölbe der Kuppel, die das Gotteshaus krönen sollten, standen bereits.
In Tetuan hatte ihm sein Vater mit zitternder Stimme den Weg vom Glockenturm der Kathedrale zu jener Straße genau beschrieben, in der Hernandos Wohnhaus stehen sollte und die an ihrem oberen Ende Calle de Almanzor hieß.
»Vater, was ist los?«, hatte der junge Ephraim besorgt gefragt, als er den kummervollen Gesichtsausdruck seines Vaters bemerkte.
Der alte Mann räusperte sich, ehe er weitersprach.
»Die Straßen, durch die du gehen musst«, erläuterte er mit fester Stimme, »liegen im ehemaligen Judenviertel von Córdoba. Aus dem Stadtteil haben uns die Christen vor nicht einmal einem Jahrhundert vertrieben.«
Die Stimme des alten Mannes drohte bei seinen letzten Worten zu versagen. Bei Fatimas Beschreibung der Straße mit dem Patio-Haus hatte er den Worten der Witwe geduldig gelauscht und sich daran erinnert, wie oft ihm sein Großvater die Anordnung der Sackgassen in ihrem Viertel in Córdoba beschrieben hatte. Und nun sollte sein Sohn in dieser Stadt einen so wichtigen Auftrag erfüllen.
»Ephraim, dort liegen deine Wurzeln. Wenn du da bist, atme die Luft tief ein, und bring mir etwas davon mit!«
Die Frau, die dem jungen Juden nun im Patio-Haus öffnete, gab ihm keine Auskunft über Hernando Ruiz, den Neuchristen aus Juviles, dem er den unter seinem Hemd verborgenen Brief aushändigen sollte. Nein, sie setzte ihn geradewegs wieder vor die Tür, als der junge Mann darauf bestand, dass in dem Wohnhaus früher eine Moriskenfamilie gelebt haben musste.
»Kein Ketzer hat dieses Haus je betreten!«, keifte ihn die Frau an und knallte ihm die Tür vor der Nase zu.
»Wenn du ihn aus irgendeinem Grund nicht persönlich antreffen solltest«, hatte ihn sein Vater in Tetuan angewiesen, »dann begibst du dich zum königlichen Marstall. Die Auftraggeberin sagt, dass man dir dort bestimmt Auskunft geben wird.«
Also erkundigte sich Ephraim nach dem Weg und gelangte über den Alcázar zu den Stallungen des Königs.
»Ich habe keine Ahnung, von wem du sprichst«, antwortete ihm der erstbeste Stallbursche, den er antraf, »aber wenn dieser Hernando ein Neuchrist ist, fragst du am besten in der Schmiede nach. Jerónimo weiß bestimmt etwas. Der Schmied arbeitet schon seit Jahren hier.«
Ephraim ließ den Vorraum und die eigentlichen Stallungen hinter sich und stand bald vor der zentralen Reithalle, wo die Bereiter gerade mit den jungen Pferden arbeiteten. Die Tiere sahen hier so anders aus als die kleinen Araberpferde zu Hause. Doch der Stallbursche forderte ihn auf weiterzugehen. Warum sollte dieser Jerónimo etwas über den Verbleib eines Neuchristen wissen? Die Antwort fand er in den arabischen Gesichtszügen des dunkelhäutigen Schmiedes, der ihn mit einem freundlichen Lächeln empfing, das sogleich erlosch, als er den Grund des Besuchs erfuhr.
»Was willst du von Hernando?«, knurrte der Schmied.
Ephraim zögerte kurz.
»Kennst du ihn?«, fragte er dann mit entschiedener Stimme.
Diesmal ließ sich der Schmied mit seiner Antwort Zeit.
»Ja«, gab er schließlich zu.
»Weißt du, wo ich ihn finden kann?«
Jerónimo näherte sich dem jungen Mann.
»Warum?«
»Das ist meine Sache. Ich frage dich nur, wo ich diesen Hernando antreffe. Wenn du es mir nicht sagen kannst, will ich dich nicht weiter belästigen und suche woanders weiter.«
»Ich weiß nichts über diesen Mann.«
»Danke«, verabschiedete sich Ephraim mit dem untrüglichen Gefühl, dass der Schmied ihn anlog. Aber warum?
Abbas wollte keineswegs Hinweise auf Hernando geben, trotzdem musste er selbst unbedingt die Absichten des Besuchers erfahren.
»Ich weiß, wo du seine Mutter finden kannst«, stellte er ihm in Aussicht.
Ephraim blieb stehen.
»Fatima, meine Auftraggeberin, wünscht, dass der Brief Hernando persönlich übergeben wird, oder seiner Mutter. Sie heißt Aischa. Niemand sonst darf diesen Brief in die Hände bekommen«, hatte ihm sein Vater in Tetuan noch mit auf den Weg gegeben.
Ephraim fragte sich, was dieser Familie nur zugestoßen war, als er in einer schmalen Gasse im Santiago-Viertel am anderen Ende der Stadt vor Aischas Haustür stand. Der Jude erkundigte sich bei den Frauen, die mit Pflanzen und Blumentöpfen im Patio hantierten, nach Aischa, erntete jedoch nur abschätzige Blicke. Ephraim war kräftig, vermutlich nicht so stark wie der Schmied im Marstall, aber gewiss stärker als der Nachbar, der auf die Rufe der Frauen hin in den Innenhof eilte. Ephraim war erschöpft. Er war in Ceuta an Bord eines portugiesischen Schiffes gegangen, das ihn nach Sevilla gebracht hatte, er hatte die lange Strecke vom Hafen von Sevilla bis nach Córdoba zurückgelegt, und nun lief er in dieser Stadt von einem Ort zum anderen, um Hernando Ruiz oder dessen Mutter zu finden. Dabei riskierte er, dass irgendein Streit zu seiner Verhaftung führte, bei der er nicht nur als Jude entlarvt würde, sondern zudem seine Dokumente als Fälschungen entdeckt würden.
»Warum suchst du Aischa?«, fragte ihn der junge Moriske verächtlich.
Jetzt reichte es! Ephraim vergaß jedwede Vorsichtsmaßnahme und führte seine Hand zum Dolch an seinem Gürtel. Mit den Augen verfolgte der junge Mann die Handbewegung des Fremden.
»Das geht dich nichts an!«, entgegnete ihm Ephraim statt einer Antwort. »Lebt sie hier?« Sein Widersacher zögerte. »Lebt sie hier oder nicht!«
Ja, sie lebte hier. Genau dort, hinter Ephraim schlief sie im Vorraum zwischen Haustür und Patio. Der junge Jude blickte zu der Decke, auf die der Hausbewohner deutete. Da sich Aischa zu dieser Tageszeit noch in der Werkstatt des Webers befand, wartete Ephraim in der Sackgasse, in der das Haus lag, bis ihm irgendwann eine innere Stimme sagt, dass die gebeugte Frau, die langsam und in viel zu weiten Kleidern auf ihn zukam und den Blick starr auf den Boden gerichtet hielt, die Person war, nach der er suchte.
»Aischa?«, fragte er, als sie an ihm vorbeischlurfte. Sie nickte, und er konnte ihre traurigen Augen in den tief verschatteten Augenhöhlen sehen. »Friede sei mit dir, Aischa.«
Die Höflichkeit des Fremden schien sie zu überraschen. Auf den jungen Juden wirkte sie wie ein wehrloses, verwundetes Tier. Was war diesen Leuten nur zugestoßen?
»Ich heiße Ephraim und komme aus Tetuan«, flüsterte er ihr zu.
Aischa reagierte sofort mit einer nicht geahnten Energie.
»Pst. Sei still!«, warnte sie ihn und deutete auf den Patio in ihrem Wohnhaus.
Ephraim sah sich um und stellte fest, dass mehrere Nachbarn sie argwöhnisch beäugten. Aischa sagte kein Wort, sondern ging einfach Richtung Fluss. Ephraim folgte ihr und musste dabei seine Schritte an den schleppenden Gang dieser erschöpften Frau anpassen.
»Ich komme aus …«, setzte er in reichlicher Entfernung vom Wohnhaus noch einmal an, doch Aischa machte nur eine abwehrende Handbewegung.
Sie erreichten den Guadalquivir durch die Puerta de Martos und erblickten auf der anderen Uferseite die Mühle des Calatrava-Ordens.
»Hast du Nachrichten von Fatima?«, fragte Aischa mit belegter Stimme.
»Ja, ich habe …«
»Weißt du auch etwas über meinen Sohn Shamir?«, unterbrach sie Ephraim und nötigte ihn stehen zu bleiben.
Ephraim meinte, ein leichtes Funkeln in den eben noch so ausdruckslosen Augen gesehen zu haben.
»Ja.« Vor seiner Abreise hatte ihn sein Vater über die Verhältnisse in der Familie aufgeklärt. »Ich weiß allerdings nicht viel. Hier habe ich einen Brief von Fatima für dich. Er ist eigentlich an deinen Sohn Hernando gerichtet. Aber er ist auch für dich.«
Ephraim griff in seine Kleider.
»Ich kann nicht lesen«, entschuldigte sich Aischa.
Der junge Mann behielt den Brief in der Hand.
»Dann gib ihn deinem Sohn, damit er ihn dir vorliest«, schlug der Jude vor und wollte ihr den Brief aushändigen.
Aischa lächelte traurig. Sie konnte ihrem Sohn doch jetzt unmöglich erklären, dass sie ihn einst getäuscht hatte und Fatima, Francisco und Inés noch lebten.
»Liest du ihn mir vor?«
Ephraim war unschlüssig.
»An Hernando persönlich oder an seine Mutter«, waren die Worte seines Vaters gewesen.
Im Hintergrund hörte er das unaufhörliche Getöse der Mühlsteine, die mit dem Wasser des Guadalquivir das Korn mahlten.
»Einverstanden«, gab er schließlich nach und brach das Siegel. »Geliebter Mann. Der Frieden und die Güte des Barmherzigen, der mit Wahrheit urteilt, seien mit dir …«
Die Sonne schickte ihre letzten Strahlen und umfing die beiden Gestalten am Ufer. Ephraim konzentrierte sich vollends auf die Zeilen auf dem Papier, und so entging ihm Aischas Lächeln an der Stelle, an der Fatima berichtete, wie Ibrahim wie ein Schwein verblutet war. Der junge Mann musste sich mehrfach räuspern, während er den Bericht der Ermordung in der ihm wohlbekannten Handschrift seines Vaters vorlas. Weiter hieß es dort:
Dein Sohn ist wohlauf. Durch die Erfahrung der Kaperfahrten gegen die Christen ist aus ihm ein kluger, kräftiger Mann geworden.
Wie geht es deiner Mutter? Ich hoffe, dass die Kraft und der Mut, mit denen sie mich immer unterstützte, auch ihr geholfen haben, alle Proben zu bestehen, vor die Gott uns gestellt hat. Richte ihr bitte aus, dass Shamir nach dem Tod seines verdammten Vaters das Oberhaupt unserer Familie und zudem reich und mächtig ist. Diese beiden stolzen Männer fahren nun im Namen des einzigen Gottes, des Wahrhaften, des Mächtigen und Starken, der das Leben schenkt und das Leben nimmt, über die Meere; sie kämpfen gegen die Christen und fügen diesen Menschen Schaden zu, die uns so viel Leid bereitet haben. Inés ist ein gesundes Mädchen. Geliebter Ehemann, ich weiß nicht, was dir deine Mutter über die Entführung von Francisco, Inés und deine Dienerin, die ich bin, berichtet hat, doch ich gehe davon aus, dass sie dir erzählt hat, dass wir gestorben sind. Denn ich bin davon überzeugt, dass du ansonsten längst zu uns gekommen wärest. Die Jungen haben niemals davon erfahren und noch lange auf deine Ankunft gewartet. Ich wusste nicht, was ich ihnen sagen sollte, also dachte ich, diese Hoffnung könnte ihnen auf diesem ohnehin so schwierigen und grausamen Weg helfen. Inzwischen ist es dafür zu spät. Du selbst kannst es ihnen sagen, und sie werden dir gewiss verzeihen, so wie ich davon ausgehe, dass du deiner Mutter vergibst. Ich habe sie darum gebeten, damit du uns nicht dorthin folgst, wo Ibrahim mit seinen Männern nur darauf wartete, dich umzubringen.
Aischa schluchzte, und Ephraim unterbrach sein Vorlesen. Er vermied es, der Frau ins Gesicht zu sehen, die so vom Kummer überwältigt war.
»Lies weiter«, bat Aischa ihn mit zitternder Stimme.
Hernando, wir müssen so viele Nächte nachholen. Glaub mir, Tetuan ist unser Paradies. Hier können wir glücklich sein. Hier können wir unseren wahren Glauben leben und müssen uns vor nichts und niemandem verstecken. Allerdings weiß ich nicht, ob du inzwischen noch einmal geheiratet hast. Ich mache dir keinen Vorwurf, es wäre nur verständlich. Dann komme einfach mit deiner neuen Gattin und, so du welche hast, mit deinen Kindern hierher. Ich bin davon überzeugt, dass deine Gattin eine gute Muslimin ist, also wird sie Verständnis für diese Situation aufbringen. Bring auch Aischa mit, denn Shamir braucht seine Mutter. Wir alle brauchen euch! Möge Gott den Überbringer dieser Nachricht beschützen und dich bei Gesundheit antreffen, möge er dich in meine und die Arme deiner Kinder zurückführen.
Aischa sagte sehr lange Zeit nichts, ihr Blick verlor sich über dem mittlerweile fast schwarzen Wasser des Guadalquivir.
»Der Brief ist zu Ende«, sagt Ephraim schließlich.
»Erwartet sie eine Antwort?« Aischas Frage klang wie eine Drohung.
»Ja«, stammelte Ephraim angesichts des düsteren Tonfalls. »Ja, so trug man es mir auf.«
»Ich kann nicht schreiben …«
»Aber dein Sohn …«
»Mein Sohn …«, erwiderte Aischa vorwurfsvoll. »Merke dir gut, was ich dir jetzt sage, und übermittle es Fatima genau so: Den Mann, den sie geliebt hat, gibt es nicht mehr. Hernando hat sich vom wahren Glauben losgesagt und sein Volk verraten. Niemand von uns spricht mehr mit ihm. Niemand hat noch Achtung vor ihm. Sein christliches Blut hat gesiegt. Er hat in den Alpujarras den Christen geholfen und mehreren von ihnen das Leben gerettet. Jetzt wohnt er in Córdoba im Palast eines Herzogs und führt das Leben eines faulen Christen. Außerdem arbeitet er für den Bischof von Granada und preist die christlichen Märtyrer der Alpujarras. Er schreibt Loblieder auf genau die Menschen, die uns bestohlen haben, für die wir nur Abschaum waren und … die uns geschändet haben.«
Aischa schwieg. Ephraim entgingen ihr Zorn und ihre Trauer nicht, und auch nicht die Tränen, die sich hinter ihren Augenlidern sammelten.
»Hernando ist nicht mehr mein Sohn, und er verdient weder deine noch die Wertschätzung seiner Kinder«, flüsterte sie. »Das sagt dir Aischa, die Frau, die ihn nach der Schändung empfing, die ihn unter ihrem Herzen trug und ihn unter Schmerzen gebar … unter vielen Schmerzen. Fatima, meine geliebte Fatima, der Friede sei mit dir und den Deinen.« Aischa griff nach dem Schreiben, das der junge Mann noch immer in Händen hielt, und zerriss es in viele Stücke. Dann ging sie ans Ufer und ließ die Papierfetzen ins Wasser fallen.
»Hast du mich verstanden?«, fragte sie den Juden, ohne sich umzudrehen.
»Ja.« Ephraim schluckte. »Und du, was machst du jetzt? Hier steht …«
»Ich habe keine Kraft mehr. Es kann nicht Gottes Absicht sein, dass ich mich auf einen so langen Weg mache. Kehre in dein Land zurück, und berichte Fatima, was ich dir gesagt habe. Möge Gott dich behüten.«
Dann machte sie kehrt und ging mit schleppenden Schritten davon. Es war derselbe Weg, den sie einst mit Hernando zurückgelegt hatte, und er führte sie an dem Fluss entlang, der Hamid verschlungen hatte.
Einige Tage vor dem 18. Oktober, dem Tag des Evangelisten Lukas, hatten die Büttel überall in Córdoba die Aufrufe zur großen Bittprozession für die Armada angeschlagen. Es gab keine neuen Nachrichten, und es fehlten immer noch siebzig Schiffe! Zugleich waren öffentliche Ausrufer durch die Straßen gezogen und hatten an besonders belebten Plätzen die wichtige Bekanntmachung verlesen: Die gesamte Bevölkerung war dazu aufgerufen, nach der Beichte und dem Abendmahl an der Prozession teilzunehmen, und zwar ausgestattet mit einem Kreuz oder einem Bußinstrument. Der Zug sollte eine Stunde nach Mittag an den Toren der Kathedrale beginnen.
Im Palast des Herzogs von Monterreal stand Doña Lucía mit ihren Töchtern und ihrem Sohn schon bereit: Sie trugen schwarze Kleidung und hielten eine Kerze in der Hand. Die Hidalgos und Hernando – selbstverständlich ebenfalls in Schwarz – sollten die Prozession mit Fackeln begleiten. Man hatte sich im bevorzugten Saal von Doña Lucía eingefunden, um dort das Läuten der Kirchenglocken in der ganzen Stadt abzuwarten. Der Bischof hatte sogar das Läuten der Glocken der Konvente in den nahe gelegenen Dörfern und der Klausen in den Bergen angeordnet. Die verhärmte Doña Lucía saß – umringt von ihren Kindern – da, betete leise vor sich hin und ließ die Perlen des Rosenkranzes durch ihre Finger gleiten. Die übrigen Anwesenden warteten angespannt. Da erschien Don Esteban: Er ging barfuß, trug außer Hosen keine Bekleidung und schulterte ein mächtiges Holzkreuz. In diesem Aufzug näherte er sich der Herzogin und begrüßte sie mit einer leichten Verbeugung. Der alte Feldwebel hatte einen überraschend muskulösen Oberkörper, über den viele Narben verliefen. Doña Lucía begrüßte den Kriegsversehrten mit zusammengepressten Lippen, ihre Augen wurden plötzlich feucht. Sofort machte sich ein anderer Hidalgo auf, um sich ein mindestens ebenso imposantes Kreuz zu besorgen. Die übrigen Männer sahen einander an und folgten ihm dann einer nach dem anderen.
»Jetzt hast du Gelegenheit, dich Gott zu empfehlen und Don Alfonso noch einmal zu retten.« Das waren seit langer Zeit die ersten Worte, die Don Sancho an Hernando richtete. »Oder ist dir sein Tod gleichgültig?«
Wünschte er den Tod des Herzogs herbei? Nein. Hernando dachte an die Tage in Barrax’ Zelt und an ihre Flucht durch die Schlucht. Ja, der Herzog war ein Christ, aber er war auch ein Freund. Vielleicht war dieser Aristokrat sogar der einzige Mensch in ganz Córdoba, auf den er sich verlassen konnte. Hernando entschied, es dem Hidalgo nachzutun und für Don Alfonso Buße zu leisten. Es war doch alles gleichgültig. Seine Glaubensbrüder hielten ihn ohnehin schon für einen Verräter.
»Aber wo bekommen wir denn jetzt noch ein Holzkreuz her?«, hörte er einen der Hidalgos die Diener fragen. »Wir haben keine Zeit, um …«
»Wir können uns doch Schwerter oder Eisenstangen oder Holzbalken an den Rücken und die Arme binden. Dann ist unser Körper das Kreuz«, schlug der Hidalgo neben Hernando vor.
»Wir könnten auch eine Peitsche nehmen«, warf ein anderer ein, »oder eine Geißel.«
Im Palast des Herzogs herrschte wahrlich kein Mangel an Schwertern. Doch Hernando fiel sofort das große alte Holzkreuz ein, das in einer Ecke der Stallungen hing. Ein Reitknecht hatte ihm einmal erklärt, wie das Kreuz dorthin gelangt war: Der Herzog hatte das einfache Holzkreuz mit der großartigen Christusfigur aus Bronze, das in der Palastkapelle über dem Altar hing, durch ein reich verziertes Kreuz aus edlem kubanischem Mahagoni ersetzen lassen. Das alte Kreuz wurde dann – ohne Christusfigur – in den Stall gestellt.
Es war ein sonniger, aber kalter Tag. Zum Klang der Glocken aller Kirchen der Stadt und der Umgebung begann die große Prozession an der Puerta de Santa Catalina der Mezquita von Córdoba. Sie zog zunächst Richtung Fluss und dann unter der Brücke zwischen der Mezquita und dem Bischofspalast hindurch. Der Bischof spendete den Gläubigen vom Balkon aus seinen Segen. Der Corregidor der Stadt und der Großmeister der Kathedrale führten den Zug der Gläubigen an, gefolgt von den Veinticuatros und Jurados mit ihren Bannern. Hinter den Domherren und den übrigen Geistlichen und Pfründenbesitzern wurde die Christusskulptur aus der Capilla del Santo Cristo del Punto der Kathedrale auf einem Holzgestell getragen. Mönche führten die Heiligenfiguren aus ihren Klöstern auf ganz ähnlichen Holzkonstruktionen, viele von ihnen mit Baldachinen, mit sich. Dahinter warteten mehr als zweitausend Menschen mit brennenden Kerzen oder Fackeln, angeführt von Doña Lucía und ihren Kindern, die von Adligen getröstet wurden, die die Nähe der herzoglichen Familie suchten.
Dahinter wiederum hatten sich weitere eintausend Büßer eingefunden. Hernando trug das schwere Holzkreuz auf dem Rücken und beobachtete die Menschenmenge, ehe sie losmarschierte. Fast alle liefen barfuß wie er und trugen nur Beinkleider. Einige Büßer führten Geißeln an Beinen und Hüften mit sich, mehrere Männer hatten ihre nackten Oberkörper mit Dorngestrüpp oder Brennnesseln bedeckt, einige trugen Stricke um den Hals und wurden von anderen Büßern gezogen. Hernando hörte das Raunen der Betenden, aber innerlich fühlte er eine beunruhigende Leere. Was würden seine Glaubensbrüder denken, wenn sie ihn so sähen? Vermutlich würden sie ihn in diesem Gedränge gar nicht erst erkennen. Aber, so sagte er sich immer wieder, ihre Meinung war inzwischen ohnehin bedeutungslos.
Die Bittprozession zog sich langsam durch die Stadt und kam dabei an möglichst vielen Kirchen und Klöstern vorbei. Die Zuschauer am Straßenrand fielen bei ihrem Anblick auf die Knie. Wenn eines der Gotteshäuser am Weg groß genug war, schritt der Zug unter den Gesängen des jeweiligen Kirchenchores durch das Gebäude. Es hatten sich inzwischen so viele Teilnehmer eingefunden, dass der Anfang mit den Obrigkeiten dem Ende mit den Büßern einige Stunden voraus war. Bei weniger geräumigen Kirchen säumten die Bewohner des Pfarrbezirks mit Heiligenbildern den Platz vor ihrer Kirche und stimmten das Miserere an.
Inzwischen hatte der Umzug, der laut Bekanntmachung bis in den Abend dauern sollte, bereits eine beachtliche Strecke zurückgelegt. Hernando hielt das Gewicht des wuchtigen Kreuzes allmählich nicht mehr aus. Warum hatte er sich nicht auf ein Kreuz aus zwei Schwertern oder zwei Balken beschränkt? Warum, zum Teufel noch mal, lief er sich hier die Füße wund, tappte durch Schlammpfützen und sang christliche Fürbitten?
»Ave Maria, gratia plena, Dominus tecum …«, murmelte Hernando im Einklang mit den Menschen ringsum. Das Ave-Maria, das Vaterunser und das Glaubensbekenntnis, das Salve-Regina oder das Miserere … Die Gebete und Gesänge nahmen kein Ende. Was hatte er hier zu suchen? Abertausende Kerzen und Fackeln, Weihrauch, Segnungen, Bilder und Heiligenfiguren, Männer und Frauen, die in mystischer Verzückung auf Knien den Himmel anriefen, Flagellanten mit blutigen Rücken. Hernando fühlte sich fehl am Platz … Er war schließlich Muslim!
Die frommen Christen von Córdoba hatte man durch die öffentlichen Bekanntmachungen und Ausrufe zur Teilnahme an der Bittprozession aufgefordert, den Morisken hingegen kam eine andere Aufgabe zu: Sie mussten der Prozession zusehen. Schon Tage vor dem Ereignis hatten Pfarrer, Sakristane und Vikare, Jurados und Büttel die Verzeichnisse der registrierten Neuchristen an sich genommen und waren von Haus zu Haus gegangen, und wie sonst nur sonntags fanden sie sich am Lukastag schon frühmorgens an den Kirchentüren ein und überprüften anhand ihrer Register, dass auch keiner der Neuchristen bei der Beichte und dem Abendmahl fehlte. Niemand durfte zu Hause bleiben, alle mussten sich bei der Prozession einfinden und für die Schiffe der Unbesiegbaren Armada beten. Ganz Spanien flehte mit einer einzigen Stimme um ihre Heimkehr!
»Worauf wartest du, Alte?« Der Bäcker schüttelte Aischa, die im Vorraum ruhte, ihren Nachbarn aber keines Blickes würdigte. Was gingen sie diese verdammten Schiffe an! »Es ist eine Prozession der Nazarener«, schrie er, als er bemerkte, dass Aischa sich auf dem blanken Boden unter ihrer Decke verkroch. »Deinesgleichen! Die Richter überprüfen, ob wir hingehen. Willst du etwa, dass Unglück über das ganze Haus kommt? Steh endlich auf!«
Zwei der Morisken, die schon auf der Straße warteten, kehrten bei den lauten Worten wieder ins Haus zurück.
»Was ist los?«, fragte einer von ihnen.
»Sie will einfach nicht aufstehen.«
»Wenn sie nicht zur Beichte geht, kontrollieren die Richter das Haus und verdächtigen auch die übrigen Bewohner. Dann kommen sie jeden Tag – nicht nur alle zwei Wochen.«
»Das sage ich doch«, stellte der Bäcker fest.
»Verdammte Nazarenerin«, drohte ihr der dritte Mann und kniete neben Aischa, »entweder kommst du jetzt freiwillig mit oder …«
Schließlich schleiften sie Aischa zur Kirche des heiligen Jakobus. Der Sakristan strich ihren Namen in seiner Liste durch und trat angeekelt zur Seite.
»Sie ist krank«, behaupteten die Männer.
Es gelang ihnen nicht, Aischa zur Beichte zu bewegen, und sie wagten erst recht nicht, sie zum Altar zu führen, damit sie den verhassten Kuchen äße. Doch der Zulauf der Gläubigen war so gewaltig und die Schlangen vor den Beichtstühlen so lang, dass niemandem Aischas stiller Widerstand auffiel. Dem Richter genügte, dass sie in der Kirche war. Dann mussten sich alle Morisken aus dem Santiago-Pfarrbezirk zwischen der Kirche und dem nahe gelegenen Kloster Santa Clara an der Calle del Sol entlang aufstellen. Aischa stand zwar bei ihren Nachbarn, war aber gänzlich in sich versunken. Nun galt es, die vielen Stunden abzuwarten, bis die Bittprozession auf ihrem Rückweg zur Kathedrale auch durch das Santiago-Viertel kam.
Aischa sprach mit niemandem. Seit Tagen verhielt sie sich so, selbst in der Werkstatt ließ sie stillschweigend die Rügen des Meisters Juan Marco über sich ergehen, wenn sie die Seidenfäden falsch aufgespult oder die Farben oder Garnlängen verwechselt hatte. Bei der Arbeit dachte sie ohne Unterlass an Fatima und Shamir. Fatima hatte es geschafft! Sie hatte Ibrahims Erniedrigungen all die Jahre standgehalten. Fatimas Willensstärke und Beharrlichkeit hatten ihr eine Rache ermöglicht, auf die Aischa nicht einmal im Traum gekommen wäre. Fatima sprach in ihrem Brief von einem Paradies. Fatima lebte in einem Paradies. Was war im Vergleich dazu aus ihrem eigenen Leben geworden? Sie war alt, krank und allein. Aischa hatte das Gefühl, dass ihre Nachbarn sie am liebsten loswerden würden. Sie aßen ihr das Hirsebrot, den Kuchen und das Mandelgebäck weg, doch keiner von ihnen bot ihr im Gegenzug etwas von ihren Speisen an. Noch dazu hatte sie inzwischen ohnehin Mühe beim Essen. Nicht nur das Haar fiel ihr büschelweise aus, ihr fehlten auch mehrere Zähne, und die harten Brotkanten, die die Nachbarn nach dem Abendessen übrig ließen, musste sie erst zerkleinern. Für welche Sünden bestrafte Gott sie so hart? Der eine Sohn verriet seine muslimischen Brüder, und der andere lebte weit weg in Tetuan. Und ihre anderen Kinder waren ermordet oder versklavt worden. Gott! Warum? Warum nahm er nicht auch sie zu sich? Sie wollte sterben! Sie spürte den Tod jede Nacht neben sich, wenn sie auf dem kalten, harten Boden im Vorraum lag, aber er nahm sie nie mit. Gott wollte sie nicht aus ihrem Elend erlösen.
Als die Christusfigur aus der Kathedrale an ihr vorübergetragen wurde, schmerzten sie die Beine schon seit Stunden. Die Morisken ringsum fielen auf die Knie. Jemand zog sie am Rockzipfel, doch sie gab nicht nach. Sie blieb stumm stehen. Schließlich kamen die Büßer durch die Straße. Sie hatten sich inzwischen mit Peitschen und Geißeln die Oberkörper blutig gerissen – für die gläubigen Christen am Straßenrand der Beweis ihrer inbrünstigen Frömmigkeit. Ergriffen stimmten sie am Straßenrand in die Wehlaute und Schmerzensschreie der Prozessionsteilnehmer ein. Die Nonnen im Kloster Santa Cruz sangen ihr düsteres Miserere und mussten immer lauter werden, um den zunehmenden Lärm auf der Straße zu übertönen.
»Miserere mei Deus secundum magnam misericordiam tuam«, klang es durch die Calle del Sol, und Abertausende schlossen sich dem Bußgesang an.
Aischa zeigte keinerlei Interesse am Zug dieser Elendigen. Da erkannte sie in der Menge der Büßer plötzlich einen jungen Mann mit einem gewaltigen Holzkreuz über der nackten Schulter. Sein Rücken war blutüberströmt und das Gesicht von den Qualen verzerrt. Nein! Es war ihr eigener Sohn! Sein Anblick erinnerte sie an die unzähligen Christusdarstellungen, die allerorts in den Kirchen und an den Straßenaltären der Stadt Córdoba zu sehen waren.
»Nein!«, schrie sie. Der Bäcker drehte sich zu ihr um und blickte in ihre vor Zorn blitzenden Augen. »Nein!«, schrie sie wieder. Ein anderer Moriske wollte sie zum Schweigen bringen. »Allahu akbar, Ibn Hamid!«, kreischte sie wütend und riss sich mit aller Kraft vom inzwischen panischen Glaubensbruder los. Ein Büttel eilte auf Aischa zu.
»Et secundum multitudinem miserationum tuarum, dele iniquitatem meam«, klagten die Nonnen vom Kloster Santa Cruz.
»Hernando, hör mich an! Fatima lebt! Und die Kinder! Komm zurück! Es gibt keinen anderen Gott außer Gott, und Mohammed ist der Ges…«
Sie konnte das muslimische Glaubensbekenntnis nicht zu Ende sprechen. Der Büttel stürzte sich auf sie und brachte sie mit einem schweren Fausthieb zum Schweigen, bei dem sie weitere Zähne einbüßte.
Hernando war halb wahnsinnig vor Schmerz, und zwischen Wehlauten und gequälten Schreien wiederholte er die düstere Litanei, die ihn nun schon den ganzen Tag umgab.
»Amplius lava me ab iniquitate mea …«
Er war nur mehr mit der Pein seiner schweren Last beschäftigt. Den Streit am Straßenrand bemerkte er nicht. Er sah nicht, wie sich die Menschen um seine Mutter drängten.