39

Cristóbal Escandalet war vor ein paar Jahren gemeinsam mit seiner Frau und seinen drei Kindern aus Mérida nach Córdoba gekommen. Der Bäcker bot in den Straßen der Stadt das traditionelle frittierte Gebäck der Morisken an: gefüllt oder in Honig getaucht, länglich oder rund. Hamid fand heraus, dass der Mann auf engstem Raum mit vier weiteren Familien in einem Haus im Pfarrbezirk San Lorenzo im äußersten Westen der Stadt lebte.

Er verfolgte ihn nun schon seit einigen Tagen. Hamid beobachtete, wie er mit den Leuten sprach und wie er sie behandelte. Er sah, wie es ihm gelang, mit seiner übertriebenen Fröhlichkeit und einer gewissen Gerissenheit Kunden für sich zu gewinnen, Altchristen ebenso wie Neuchristen. Er war etwa dreißig Jahre alt, nicht besonders groß und immer in Bewegung. Die Dinge, die er zum Frittieren brauchte, trug er immer bei sich. Hamid stellte fest, dass die Pfanne hell glänzte und auch die Spritztüte, aus der der Teig kam, neu war.

»Der Lohn für den Verrat an Karim!«, flüsterte er zornig und beobachtete aus der Ferne, wie Cristóbal am Markttag beim Cruz del Rastro, in der Nähe des Guadalquivir-Ufers, seine Backwaren anpries. Eine Frau, die gerade an Hamid vorbeiging, drehte sich erstaunt nach dem wütenden Alten um. Hamid hielt ihrem Blick stand, und die Frau setzte ihren Weg schnell fort. Dann konzentrierte sich der Alfaquí wieder auf Cristóbal. Man musste ihm die Kehle durchschneiden! Als Alfaquí wäre das durchaus seine Aufgabe! So wurde ein Muslim bestraft, der von seinen Gesetzen abgefallen war: Immerhin hatte Cristóbal seine Glaubensbrüder verraten. Aber wie sollte ein lahmer, altersschwacher Mann ohne Waffen das Todesurteil an diesem Verräter vollstrecken?

Karims Festnahme und sein Aufenthalt im Inquisitionsgefängnis im Alcázar erschütterte die gesamte Gemeinschaft der Morisken in Córdoba. Tagelang gab es für sie kein anderes Gesprächsthema, und einige versuchten herauszufinden, wer unter ihnen der Verräter war. Viele wussten von Karims Aktivitäten: die Wachen, die um das Haus postiert wurden, wenn der Rat zusammentrat, die Gläubigen, die bei ihm den Koran, Mondkalender und Abschriften der Weissagungen sowie anderer Texte kauften, die Morisken, die ihre Arbeit auf den Feldern vor der Stadt dazu nutzten, die Bücher aus Córdoba herauszuschaffen, damit sie in den übrigen Moriskengemeinden des Königreichs verbreitet werden konnten. Schnell machte sich Misstrauen unter den Morisken breit, und viele mussten ihre Unschuld gegen argwöhnische Blicke oder direkte Beschuldigungen verteidigen. Um unter den Gläubigen nicht noch mehr Unruhe zu stiften, entschied der Rat der Gemeinde, nicht bekanntzugeben, dass der Verräter tatsächlich ein Moriske gewesen war. Aber der Rat kam bei seinen Ermittlungen nicht voran: Karim saß unerreichbar im Gefängnis der Inquisition, und seine alte, durch die Geschehnisse tief erschütterte Frau wusste von nichts. Das hatte sie Abbas unter Tränen gesagt, als der Schmied sie besuchte, nachdem die Gehilfen der Inquisition das wenige Hab und Gut von Karim beschlagnahmt hatten.

Verrat war das schändlichste und größte Verbrechen, das ein Moriske begehen konnte. Seit der Regierungszeit Kaiser Karls V. hatte die spanische Inquisition immer wieder Gnadenerlasse verfasst. Sowohl dem Monarchen als auch den Kirchenfürsten waren die Schwierigkeiten bewusst, die die Zwangsbekehrung mit sich brachte – noch dazu eines ganzen Volkes. Der Mangel an Geistlichen, die nicht nur geeignet, sondern auch bereit dazu waren, diese Aufgabe zu übernehmen, war offensichtlich. Die Kirche wusste auch, dass die Anzahl der Rückfälligen, die zwangsläufig auf dem Scheiterhaufen landeten, inzwischen so hoch war, dass diese Strafe ihre abschreckende Wirkung auf die Morisken verlor. Deshalb wollten sie vor allem jene Morisken für sich gewinnen, die ihre Sünden bekannten und sich mit der Kirche aussöhnten, selbst wenn sie dies nur heimlich taten – ohne das Wissen ihrer Glaubensbrüder. Diese Gnade würde laut Erlass sogar mehrfach Rückfälligen zuteil, unterlag dann aber einer Bedingung: Sie mussten ihre Glaubensbrüder verraten, die ketzerisch tätig waren. Doch keiner der Gnadenerlasse hatte bisher gefruchtet: Die Morisken verrieten einander nicht.

Hernandos Vermutungen waren richtig, Fatima und Hamid hatten weder den Koran noch die übrigen Schriftstücke dem Feuer übergeben: Sie hatten sie einfach im Patio vergraben.

»Dummköpfe!«, schimpfte er, als er ihnen endlich die Wahrheit entlocken konnte. »Die Inquisition hätte sie dort sofort gefunden.«

Nach einer schlaflosen Nacht, in der er immer wieder glaubte, die Schritte der Inquisitionsknechte vor seinem Haus zu hören, verbrannte er noch vor dem Morgengrauen alle verbotenen Schriften außer dem Koran. Das edle Buch versteckte er in seiner zusammengefalteten Marlota, die er über seinem rechten Arm trug, und nahm es mit zur Kathedrale, wo er sich, wie von Don Julián vorgeschlagen, noch vor dem ersten Gebet einfand.

Er ging die Calle de los Barberos und die Calle de Deanes entlang, bis er an der Puerta del Perdón vor der Mezquita stand. Es war kalt, aber er hielt den in der Marlota versteckten Koran fest an den Körper gepresst. Er zitterte. Vor Kälte? Erst als er durch den großen Torbogen trat, begriff er, dass nicht die Kälte seinen Körper zum Beben brachte. Was tat er da eigentlich? Er hatte nicht einmal darüber nachgedacht: So als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, hatte er nach dem Buch gegriffen, um es Don Julián zu geben. Inmitten all der Geistlichen, die über den Innenhof zum frühmorgendlichen Gebet strebten, hielt er einen Koran unter dem Arm. Außer dem Bischof, der die Kathedrale stets über die alte Brücke betrat, die die Mezquita mit seinem Palast verband, strömten alle anderen durch die Puerta del Perdón in den Innenhof: die Domherren in ihren prächtigen Gewändern und mehr als hundert Kanoniker und Kapläne, dazu die Organisten und die übrigen Musiker, die Chorknaben, die Sakristane, die Wächter … Hernando sah sich auf einmal von Geistlichen und den anderen Mitarbeitern der Kathedrale umringt. Einige plauderten, die meisten gingen wortlos vorbei, sie wirkten unausgeschlafen und mürrisch. Hernando stockte der Atem. Er befand sich in einem der bedeutendsten christlichen Gotteshäuser ganz Andalusiens und hielt einen Koran in seinen Händen! Er blieb stehen, und die drei Chorknaben hinter ihm mussten ausweichen. Er drückte die Marlota, die das verbotene Buch verbarg, noch fester an seinen Körper und versuchte gelassen zu wirken. Bedeckte die Marlota das Buch auch vollständig? Er sah, wie einige Männer in schwarzen Gewändern und mit Biretten auf dem Kopf vor ihm stehen blieben. Nein, er musste umkehren, sofort, er würde den Koran schon irgendwoanders …

»He, du!« Hernando hörte den Ruf hinter sich, vertraute aber darauf, nicht gemeint zu sein. »Ja, du! Halt!« Eiskalter Schweiß lief ihm über den Rücken. Die Puerta del Perdón war doch nur noch wenige … »Halt, stehen bleiben!«

Zwei Pförtner versperrten Hernando den Weg.

»Hast du nicht gehört, dass dich der Inquisitor ruft?« Hernando stammelte eine Entschuldigung und blickte durch das Tor hindurch auf die Straße. Er könnte loslaufen und flüchten. Tausend Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Fliehen? Bestimmt hatten sie ihn erkannt, und noch ehe er bei Fatima und den Kinder angekommen … »Ja, bist du taub? Hinter dir!«, rief einer der Pförtner.

Hernando drehte sich um. Ein hagerer, hochgewachsener Mann stand da und wartete auf ihn. Hernando wusste, dass im Domkapitel immer ein Sitz für einen Vertreter der Inquisition reserviert war. Er zögerte. Er hörte den Atem der Pförtner im Rücken, aber der Inquisitor war allein.

Hernando atmete tief durch und ging mit gesenktem Blick auf den Mann zu.

»Vater«, sagte er zum Gruß. »Verzeiht mir, niemals durfte ich davon ausgehen, dass Euer Hochwürden mit meiner Wenigkeit sprechen möchte, einem einfachen …«

Der Inquisitor unterbrach ihn mit einer Handbewegung und hielt ihm seine schlaffen, dürren Finger entgegen, damit er den angemessenen Kniefall vollzog. Ohne zu zögern, griff Hernando nach der Hand des Geistlichen und fing mit der linken Hand gerade noch rechtzeitig die Marlota samt Koran auf. Er presste beides an seine Brust, während er den eingeforderten Kniefall vollzog und gleichzeitig überprüfte, ob auch ja nichts vom Buch zu sehen war. Der Inquisitor forderte ihn auf, sich wieder zu erheben, und musterte ihn von Kopf bis Fuß. Hernando presste den Koran immer noch mit der linken Hand an seine Brust – die göttliche Offenbarung! Natürlich! Hier beim Mihrab der Mezquita musste dieses Buch aufbewahrt werden, als Rettung gegen all die christlichen Geistlichen, die sich mit ihren Gesängen und Bildern des Bauwerks bemächtigten! Hitze wallte in seinem Herzen auf, direkt neben dem Buch, und ergriff seinen ganzen Körper. Er richtete sich wieder auf und fühlte sich stark: Er vertraute in Gott und sein Wort.

»Gestern«, sagte der Inquisitor mit schneidend kalter Stimme, »haben wir einen Ketzer verhaftet, der Abschriften von Texten anfertigte, die die Doktrin unserer Heiligen Mutter Kirche diffamieren. Er band sie zu Büchern und verkaufte sie. Für sein sofortiges Geständnis darf er nicht auf Gnade hoffen. Wegen der Schwere des Verbrechens und wegen der gebotenen Eile, um seine Komplizen noch vor ihrer Flucht festzunehmen, werden wir gleich heute mit den Verhören beginnen. Die Bücher, die wir bei ihm konfisziert haben, sind in einem Arabisch verfasst, das unserem Übersetzer nicht geläufig ist. Das Domkapitel hält viel von deinem Können. Deshalb findest du dich heute um neun Uhr beim Tribunal ein und übersetzt alle Schriftstücke.«

Hernandos eben entfachter Mut war wie weggeblasen. Seine Entschlossenheit war in dem Moment dahin, als er an Karim dachte und daran, wie er beim Verhör und vielleicht sogar bei seiner Folter … die Texte übersetzen musste, die er selbst verfasst hatte!

»Ich …«, setzte er zu einer Ausrede an. »Ich … ich muss im königlichen Marstall arbeiten.«

»Der Verfolgung der Ketzerei und der Verteidigung der Christenheit ist jedwede andere Tätigkeit unterzuordnen!«, antwortete der Inquisitor in scharfem Tonfall.

Der Geistliche drehte sich um und ging fast lautlos durch das kleine Tor in Richtung Kathedrale.

»Um neun Uhr«, waren seine letzten Worte.

Hernando eilte sofort nach Hause, sein Kopf war leer, und er wollte auch nicht nachdenken, er flüsterte nur einige Suren vor sich hin und drückte den Koran an die Brust.

Der Alcázar, der Sitz des Inquisitionsgerichts, war die von König Alfonso XI. in den Anlagen des ehemaligen Kalifenpalastes errichtete Festung von Córdoba. Da die Gelder, die das Tribunal für den Unterhalt des Gebäudes erhielt, zum größten Teil in die Taschen der Inquisitoren floss, war das einst so stolze Anwesen inzwischen fast vollkommen heruntergewirtschaftet. An die ehemals kostbar ausgestatteten Prunksäle, Schreibstuben und Archive schlossen sich jetzt schmutzige Taubenschläge, Hühnerleitern und Ställe an. Es gab sogar eine Wäscherei, und die Bediensteten handelten ohne jegliche Scham mit Eiern, Tieren und gereinigten Stoffen. Wegen der unhygienischen Zustände im Alcázar, der modrigen Gefängniszellen und der beiden Teiche mit ihrem fauligen Wasser hieß es bei den Bewohnern Córdobas bald, dass jeder, der in die Festung kam, sofort krank würde und innerhalb kürzester Zeit starb.

Hernando fand sich zur vereinbarten Zeit am massiven Torre del León – dem Löwentor – ein.

»Du musst den Eingang auf der anderen Seite nehmen«, rief ihm einer der übel gelaunten Stoffverkäufer zu. »Geh über den Friedhof zur Puerta del Palo, drüben beim Wachturm am Fluss.«

Durch die Puerta del Palo gelangte Hernando in einen mit Pappeln und Orangenbäumen bepflanzten Patio. Die beiden Pförtner behandelten ihn, als wäre er der Angeklagte, und fragten ihn so lange aus, bis einer von ihnen genug hatte und auf eine kleine Tür in der Mauer wies. Kaum hatte er den sonnigen Patio verlassen, spürte Hernando, wie sein Körper von einer ungesunden Feuchtigkeit umhüllt wurde. Er ging den klammen, düsteren Gang zum Gerichtssaal entlang. Auf der linken Seite lagen in unregelmäßigen Abständen die Zellen. Er wusste, dass hier die Gefangenen einsaßen, doch zu seiner Verwunderung herrschte eine bedrückende Stille, und das einzige Geräusch, das er ausmachen konnte, war das seiner eigenen Schritte.

Er betrat den Gerichtssaal, in dem bereits die Inquisitoren an Tischen saßen – darunter auch der hagere Mann, der Hernando in der Kathedrale angesprochen hatte, der Ankläger sowie der Notar. Hernando musste einen Eid ablegen und versprechen, dass er über alle Vorgänge in der Sala del Secreto – im Saal der Geheimnisse – Stillschweigen bewahren würde. Dann nahm er neben dem Notar an einem Tisch Platz, der etwas niedriger war als die anderen. Vor ihm lagen drei unsauber verarbeitete Koranexemplare sowie einige lose Schriftstücke, die Karim noch nicht zu Büchern gebunden hatte. Während die Inquisitoren mit der Verhandlung begannen, starrte Hernando vor sich auf den Tisch: Er erkannte jedes einzelne Exemplar des göttlichen Buches wieder. Ein Blick genügte, und er konnte sich genau daran erinnern, wann er es angefertigt hatte. Ihm fielen all die Schwierigkeiten ein, die bei jedem der Exemplare aufgetreten waren: seine Schreibfehler, das Kürzen des Schreibrohrs, die Tinte, die ihnen plötzlich ausgegangen war. Er erinnerte sich auch an Don Juliáns Bemerkungen und Kommentare und an ihre Ängste, wenn plötzlich ungewohnte Geräusche zu ihnen drangen, und an ihre Scherze, wenn sich die Situation als ungefährlich erwiesen hatte. Vor allem aber dachte er an die Sehnsüchte und Hoffnungen eines ganzen Volkes, die in jedem einzelnen Buchstaben steckten, verewigt auf diesem minderwertigen Papier, das trotz so vieler Hindernisse und Gefahren aus Xátiva zu ihnen gelangt war.

Hernando zuckte zusammen, als Karim in den Gerichtssaal geführt wurde. Er wirkte schwach, und seine Kleider waren nur mehr Lumpen. Was ging dem alten Mann wohl gerade durch den Kopf? Hielt er ihn für den Verräter? Hernando hielt den Atem an. Doch ein einziger, kurzer Blickkontakt mit Karim reichte aus, und Hernando wusste, dass der alte Mann es besser wusste.

»Ich vergebe dir!«, rief Karim, sobald er in der Mitte des Saales angelangt war. Er sprach niemanden direkt an und unterbrach mit seinem Ausruf die Verlesung der Anklageschrift.

Die Inquisitoren waren verwirrt.

»Du hast hier nichts zu vergeben, Ketzer!«, herrschte ihn einer der Inquisitoren an.

Hernando nahm die Beschimpfungen und Flüche der anderen Männer nicht mehr wahr. Diese Worte galten ihm. Ich vergebe dir! Karim hatte dabei niemanden angesehen und doch nur einem vergeben. Ich vergebe dir! Noch an diesem Morgen hatte er sich mit dem Koran an seiner Brust so gefestigt gefühlt, und dann so verzweifelt, als er erfuhr, dass er bei Karims Prozess anwesend sein musste. Fatima, Aischa und ein niedergeschlagener Hamid hatten ihn zu Hause mit Fragen bestürmt, von denen er keine einzige beantworten konnte. Er hatte den Koran verbrennen wollen! Und nun verzieh ihm Karim und übernahm allein die Verantwortung für all ihre Taten.

Den ganzen Morgen zeigte sich Karim beim Verhör unerschütterlich.

»Die gesamte Christenheit!«, war seine Antwort auf die Frage, ob er Feinde habe. »Die Christen, die sich nicht an den Friedensvertrag halten, den Eure Könige unterzeichneten. Die Christen, die uns beleidigen, die uns schlagen – und die uns hassen. Die Christen, die uns unsere Schutzbriefe abnehmen, um uns zu verhaften. Die Christen, die uns daran hindern, unsere Gesetze zu befolgen.«

Danach übersetzte Hernando mit zitternder Stimme Passagen aus dem Koran. Der alte Mann legte ein umfassendes Geständnis ab: Er selbst habe Papier und Tinte beschafft und die Schriften verfasst. Er allein trage für alles die Verantwortung!

»Verurteilt mich, bringt mich auf den Scheiterhaufen«, sagte er herausfordernd und deutete mit dem Zeigefinger auf alle Anwesenden. »Ich werde mich mit eurer Kirche niemals aussöhnen.«

Hernando konnte seine Tränen zwar zurückhalten, nicht aber sein Zittern unterdrücken.

»Vermaledeiter Ketzer!«, schrie einer der Inquisitoren. »Hältst du uns für Dummköpfe? Wir wissen, dass du das unmöglich allein machen konntest. Wir wollen wissen, wer dir geholfen hat und wer die anderen Bücher hat.«

»Ich habe euch gesagt, dass es sonst niemanden gibt«, versicherte Karim.

Hernando sah den alten Mann an: Karim stand aufrecht, mitten in diesem großen Saal, dem Tribunal ausgeliefert. Ein großartiger Geist in einem kleinen Körper. Es war die Wahrheit, es gab sonst niemanden. Aber um den Propheten und den einzigen Gott zu verteidigen, genügte dieser eine.

»Natürlich gibt es Hintermänner«, stellte der Domherr nüchtern fest. »Und du wirst uns alle Namen sagen.« Diese abschließenden Worte hingen noch in der Luft, als der Inquisitor die Fortsetzung der Verhandlung für den nächsten Tag festlegte.

Hernando ging an diesem Nachmittag nicht zum Marstall. Nachdem die Gefängniswärter Karim abgeführt und die Inquisitoren sich erhoben hatten, wollte Hernando sich für die Sitzung am nächsten Tag entschuldigen. Er habe einen Teil der Schriftstücke bereits übersetzt, und die Koranexemplare enthielten zwischen den Zeilen mit dem arabischen Text zusätzlich den mit arabischen Schriftzeichen geschriebenen spanischen Text.

»Genau deshalb kommst du morgen wieder«, widersprach ihm der hagere Inquisitor. »Wir wissen schließlich nicht, ob diese Texte korrekt übersetzt wurden oder Teil einer Verwirrungsstrategie sind.«

Und dann entließ er Hernando mit einer abfälligen Handbewegung.

Hernando sperrte sich zu Hause in sein Zimmer ein und verbrachte den Rest des Tages damit, in Richtung der Qibla zu beten, bis er erschöpft einschlief.

Niemand störte ihn.

Am nächsten Tag wurde die Verhandlung nicht im Gerichtssaal fortgesetzt. Hernando wurde einige Treppen hinabgeführt, bis er in die fensterlosen Gewölbe unter dem Alcázar gelangte, in denen sich die Inquisitoren bereits eingefunden hatten. Sie flüsterten miteinander und standen zu Hernandos Entsetzen um eine massive Folterbank herum, daneben die grausamen Werkzeuge aus Eisen, mit denen man die Angeklagten fesseln, ihre Haut abziehen und verstümmeln konnte.

Die schwüle Luft in dem Raum war unerträglich klebrig, und Hernando musste angesichts der grauenhaften Folterwerkzeuge einen Brechreiz unterdrücken.

»Setz dich und warte ab«, forderte ihn der hagere Inquisitor auf und deutete zu einem Tisch, auf dem die Koranexemplare und die Akten des Notars lagen, der wiederum mit den Inquisitoren, dem Arzt und dem Scharfrichter in ein Gespräch vertieft war.

»Er ist alt«, hörte er einen Inquisitor sagen. »Wir müssen vorsichtig sein.«

»Keine Sorge«, versicherte der Scharfrichter, ein muskulöser Kahlkopf. »Ich weiß, was ich tue.«

Hernando musste seinen Blick von den Männern abwenden. Auf dem Tisch lagen die Akten des Notars. »Mateo Hernández, maurischer Neuchrist«, hatte der Notar der Inquisition mit sauberer Handschrift auf die erste Seite geschrieben, darunter Datum, Ort und die Anklagepunkte des Verfahrens sowie die Namen der anwesenden Inquisitoren. Am Ende dieser ersten Seite stand:

Zu Córdoba, den dreiundzwanzigsten Januar des Jahres eintausendfünfhundertachtzig des Herrn, erschien vor dem Lizentiaten Juan de la Portilla, dem Inquisitor des Tribunals von Córdoba, im Saal der Heiligen Inquisition, um ketzerische Taten anzuzeigen, das Subjekt, das seinen Namen mit …

Damit endete die letzte Zeile der Seite. Hernando beobachtete die Inquisitoren: Sie warteten auf den Angeklagten und plauderten. Am 23. Januar war der Verräter beim Inquisitor erschienen. Wer war dieses Subjekt? Das konnte doch nur … Plötzlich wurde es ruhig, und zwei Gefängniswärter brachten Karim in die Folterkammer. Genau in dem Moment, in dem die Aufmerksamkeit aller Inquisitoren auf den Angeklagten gerichtet war, blätterte Hernando um. Ein kurzer Blick genügte: Cristóbal Escandalet. Mit geballten Fäusten wartete Hernando, dass der Notar sich zu ihm setzte.

»Cristóbal Escandalet«, flüsterte Hernando immer wieder vor sich hin, als wollte er sich den Namen ins Gedächtnis einbrennen. Das war also der Verräter!

Karim beharrte auf seiner Aussage, dass ihm niemand geholfen habe. Seine feste Stimme, die Hernando zum Zuhören zwang, stand in krassem Gegensatz zu seinem erschöpften Aussehen, vor allem, als sie ihm das Hemd vom Leib rissen und sein unbehaarter, schlaffer Rücken zum Vorschein kam.

»Beginnt mit dem Verhör«, ordnete Don Juan de la Portilla an, der neben den anderen Inquisitoren stand, und der Notar zog seine ersten Federstriche über das Papier.

Sie legten den Angeklagten mit dem Bauch nach unten auf die Folterbank und fesselten ihm die Hände auf dem Rücken. Dann banden sie seine Daumen an einem dünnen Seil fest, das über eine Winde an der Decke lief. Karim weigerte sich, die Fragen des Inquisitors zu beantworten, und der Scharfrichter begann, die Winde zu drehen.

Karim presste sein Gesicht gegen die Folterbank. Er schrie nicht, sondern gab nur ein unterdrücktes Grunzen von sich, das Hernando den Verstand raubte.

»Wer hat dir geholfen?«, rief der hagere Inquisitor immer wieder und geriet langsam in Rage. Karim schwieg.

Als der Scharfrichter den Kopf schüttelte und die Inquisitoren ihr Vorhaben aufgaben, wurde der alte Mann endlich losgebunden. Seine Daumen waren aus den Gelenken gerissen und hinter die Handrücken gedreht. Sein Gesicht war zu einer Grimasse des Schmerzes verzerrt, seine Atmung ein einziges Röcheln, sein Blick matt und wässrig, Blut rann ihm über die Unterlippe: Ohne den eisernen Griff des Scharfrichters hätte er nicht mehr aufrecht stehen können. Der Arzt untersuchte Karims ausgerenkte Daumen lustlos und unkonzentriert. Hernando konnte in den Augen seines Freundes das ganze Leid erkennen, das der alte Mann bislang verborgen hielt.

»Es geht ihm gut«, stellte der Arzt fest. Doch dann ging er zum Lizentiaten Portilla und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Der Notar notierte: »Dem Angeklagten geht es gut.«

»Die Befragung wird morgen fortgesetzt«, entschied der Inquisitor.

»Du musst etwas essen«, flüsterte Fatima sanft, als sie den Raum betrat, in dem Hernando ununterbrochen betete, seit er nach Hause gekommen war. Mitternacht war verstrichen.

»Karim isst auch nichts«, war seine einzige Antwort.

Fatima ging zu ihrem Mann, der mit nacktem Oberkörper am Boden kniete. Arme und Brust waren mit Kratzern und Schürfwunden übersät. Er hatte sich mit einer solchen Kraft gesäubert und abgerieben, als wollte er sich die Haut vom Leibe reißen, um den Kerkergestank loswerden, der sich in jeder Pore seines Körper festgesetzt hatte.

»Es ist kalt, du musst etwas anziehen.«

»Lass mich!« Fatima stellte die Schale mit Essen und das Glas Wasser in eine Ecke. »Sag Hamid, dass er kommen soll«, fügte er hinzu, ohne sie anzusehen.

Der Alfaquí war kurz darauf bei ihm.

»Salam …« Hamid sprach seinen Gruß nicht zu Ende, als er Hernando vor sich sah, der sich nicht einmal zu ihm umdrehte. »Du darfst dich nicht selbst bestrafen«, flüsterte der alte Mann.

»Der Verräter heißt Cristóbal Escandalet«, teilte ihm Hernando mit. »Sag es Abbas. Er wird wissen, was zu tun ist.«

Am liebsten hätte er ihn eigenhändig umgebracht, ihn langsam erwürgt oder ihm die gleichen Schmerzen zugefügt, die Karim ertragen musste. Und während seines Todeskampfes würde er ihm in die Augen blicken. Aber er musste dem Tribunal weiter zur Verfügung stehen, also entschied er, dass Abbas sich um den Verräter kümmern solle. Je früher, desto besser.

»Die Strafe für jemanden, der unser Volk verrät, steht fest. Abbas weiß bestimmt, was zu tun ist. Aber meine größte Sorge ist …« Hamid sprach nicht weiter. Er wartete Hernandos Reaktion ab, der sich aber schon wieder seinem Gebet widmete. »Aber meine große Sorge ist, dass du nicht weißt, was du zu tun hast.«

»Wie meinst du das?«, fragte Hernando.

»Karim opfert sich für …«

»Er schützt mich«, fuhr Hernando dazwischen. Er hatte dem Gelehrten immer noch den Rücken zugewandt.

»Sei nicht so hochmütig, Ibn Hamid. Er beschützt uns alle. Du … Du bist einer von vielen. Er beschützt deine Frau, und er beschützt die Mütter, die Fatima die Offenbarung lehrt. Er beschützt diese Mütter, die ihr Wissen an ihre Kinder weitergeben. Er beschützt die Kleinen, die heimlich lernen und immer darauf achten müssen, ihr Wissen nur innerhalb ihrer Familien einzusetzen. Er beschützt uns alle.«

Hamid sah, dass Hernando am ganzen Körper zitterte.

»Mein Leben liegt in seiner Hand«, sagte er endlich und drehte sich zu Hamid um. Der Alfaquí befürchtete, sein Schüler könnte jeden Moment zusammenbrechen. Also ging er zu ihm und kniete sich schwerfällig neben ihn. »Vielleicht hast du recht. Er beschützt uns alle … Aber du kannst dir nicht vorstellen, wie es ist, wenn ich diesen alten, müden und von den Folterqualen zermürbten Körper bei den Verhören sehe. Wie viel kann ein Mann aushalten? Ich habe Angst, Hamid. Ich habe große Angst. Ich zittere unentwegt. Ich kann weder meine Knie noch meine Hände beherrschen. Ich habe Angst, dass ich mich noch selbst verrate.«

Der Alfaquí lächelte traurig.

»Unsere Kraft liegt nicht in unserem Körper, Ibn Hamid. Unsere Kraft liegt in unserem Geist. Du musst Vertrauen haben. Karim wird dich nicht verraten. Denn damit würde er sein ganzes Volk verraten.«

Die beiden sahen sich an.

»Hast du schon gebetet?«, fragte der Alfaquí nach einer Weile. Hernando meinte, das Echo seiner Worte in der alten Hütte in Juviles zu hören. Er biss sich auf die Unterlippen und wartete auf den nächsten Satz: »Das Nachtgebet ist das einzige Gebet, das wir in Sicherheit verrichten können, weil die Christen dann schlafen.« Hernando schnürte es bei diesen ihm so vertrauten Worten die Kehle zu, und er kämpfte mit einer Antwort. Doch Hamid kam ihm zuvor. »Wie viele Kämpfe haben wir seither gemeinsam ausgefochten, mein Sohn?«

Doch Hamid gab die Nachricht nicht an Abbas weiter. Der Schmied war noch jung und kräftig und durfte keineswegs sein Leben riskieren. Auch Don Julián musste immer im Verborgenen handeln, er konnte sich kaum unter den Morisken blicken lassen. Karims Ende war nahe, entweder würde er bald unter den Folterqualen sterben, oder er würde als Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden. Jalil war so alt wie Karim. Und er selbst … Er hatte das Gefühl, dass auch sein eigenes Leben bald zu Ende ging. Aber wie sollte er den Verräter töten? Der alte Mann beobachtete den Morisken, der am Cruz del Rastro sorglos sein Gebäck feilbot.

Nach zwei Tagen unaufhörlicher Qualen hatten sie Karim auf der Folterbank schließlich auch die Arme ausgerenkt, aber der alte Mann schwieg. So eisern, wie Hernando auf sein Fasten und Beten beharrte. Fatima und Aischa waren tief beunruhigt, und selbst die Kinder spürten, dass etwas Schreckliches bevorstand.

»Trinkt er das Wasser, das du ihm bringst?«, fragte Hamid Fatima.

»Ja.«

»Dann wird er es durchstehen.«

Hamid sah Cristóbal mit seinem Verkaufsstand zu einer besonders belebten Stelle des Marktes ziehen. Er folgte ihm mit seinem Blick, bis der Bäcker in der Nähe eines Messerschmiedes stehen blieb.

Cristóbal pries mit fröhlicher Stimme seine Ware an. Er ließ den Teig in die Pfanne gleiten, sodass das Öl zischte, schnitt die fertigen Teigkringel auseinander und verkaufte sie an die Passanten. Die Messer! Aber selbst wenn er dem Schmied eines entreißen und dem Bäcker einen Messerstich versetzen könnte, der Abstand zwischen Cristóbal und dem Stand des Messerschmiedes war zu groß. Bestimmt würde er durch die Schreie des Schmiedes auf ihn aufmerksam. Außerdem musste er ihn köpfen.

»Allahu akbar!«, flüsterte er leise.

Cristóbal sah den alten Mann mit der finsteren Miene auf sich zukommen. Er runzelte besorgt die Stirn. Doch als der Alfaquí bei ihm angekommen war, musste er lächeln.

»He, Alterchen, möchtest du auch etwas haben?« Hamid machte eine abwehrende Handbewegung. »Was willst du dann von mir?«

In dem Moment griff Hamid mit beiden Händen nach der Pfanne. Die umstehenden Leute hörten das Zischen, als seine Finger die glühende Pfanne berührten. Der Alfaquí zuckte nicht einmal mit der Wimper. Einige Passanten konnten gerade noch zur Seite springen, als Hamid dem überraschten Cristóbal das siedende Öl ins Gesicht schüttete. Der Bäcker heulte auf und führte seine Hände zum Gesicht, ehe er auf die Erde fiel und sich vor Schmerzen krümmte. Der Geruch nach versengter Haut hing in der Luft. Mit der Pfanne in den Händen ging der Alfaquí zum Stand des Messerschmiedes. Die Leute machten ihm Platz, und auch der Schmied trat zur Seite, als er den verrückten Alten direkt auf sich zukommen sah, der ihm womöglich das restliche heiße Öl ins Gesicht schleudern wollte. Da warf Hamid die Pfanne auf den Boden, nahm sich ein großes Messer und ging damit zurück zum jammernden Bäcker.

Die Schaulustigen hielten den Atem an.

Hamid kniete sich neben Cristóbal, der mit dem Rücken auf der Erde lag und sein Gesicht hinter den Händen verbarg. Er heulte und schrie. Hamid durchtrennte ihm zunächst mit festen Hieben die Unterarme, und der Bäcker brüllte so entsetzt auf, dass es den Leuten durch Mark und Bein ging. Dann fuhr der Alfaquí mit dem Messer in den Hals des Verräters. Der Schnitt ging tief, er war mit sicherer Hand und der geballten Kraft eines betrogenen Volkes ausgeführt. Hamid stand auf – blutüberströmt. Er hielt immer noch das große Messer in der Hand, als plötzlich ein Büttel mit gezücktem Schwert vor ihm stand.

»Verdammte Ungläubige!«, schrie Hamid, und all die Verbitterung, die er im Laufe seines Lebens unterdrückt hatte, brach aus ihm heraus.

Der Büttel stieß Hamid seine Waffe in den Bauch.

Die Alpujarras, die schneebedeckten Gipfel der Sierra Nevada, die klaren Flüsse und die felsigen Schluchten, die kleinen fruchtbaren Terrassenfelder in den Bergen, die Arbeit auf dem eigenen Stück Land, die nächtlichen Gebete … Hamid sah alles ganz deutlich vor sich … Er fühlte keinen Schmerz … Hernando, sein Sohn! … Aischa, Fatima, die Kinder … Er fühlte noch immer keinen Schmerz, als der Büttel die Waffe wieder aus seinem Körper zog. Das Blut pulsierte aus seinen Eingeweiden, und Hamid blickte an sich herunter. Es war das Blut, das Tausende Muslime vergossen hatten und vergießen würden, um ihre Gesetze zu verteidigen.

Der Büttel blieb vor ihm stehen, er ging fest davon aus, dass dieser Alte auf der Stelle zusammenbrechen würde. Die Leute beobachteten die Szene gebannt.

»Es gibt keinen Gott außer Gott, und Mohammed ist der Gesandte Gottes«, sprach Hamid erhaben.

Sie durften ihn nicht festnehmen. Sie durften nicht erfahren, wer er war. Er durfte seine Familie keinesfalls gefährden. Er hielt das Messer in die Luft und hinkte langsam zum Fluss hinter dem Cruz del Rastro. Die Leute machten ihm den Weg frei, und der Büttel ging langsam hinter ihm her. Der Alte musste doch zusammenbrechen! Hamid hinterließ eine rote Blutspur. Alle blieben vom Anblick des Alten überwältigt stehen, der feierlich zum Ufer schritt.

»Nein!«, schrie der Büttel, als er Hamids Absicht endlich erkannte. Aber in dem Moment ließ sich der Alfaquí auch schon in den Guadalquivir fallen und verschwand in seinem Wasser.

Hernando konnte keinen weiteren Kummer verkraften. Er kam gerade vom Alcázar nach Hause, wo die Folter nur eine einzige sinnlose Qual gewesen war: Der alte Mann hatte die Namen seiner Mittäter für sich behalten, und selbst der Scharfrichter wagte es schließlich, die Inquisitoren auf die Sinnlosigkeit ihres Unterfangens hinzuweisen.

»Mach weiter!«, rief ihm der Lizentiat Portilla dennoch zu.

Sie zwangen Hernando, dem Gräuel beizuwohnen. Als er die Folterkammer betreten hatte, in der die Inquisitoren Karim unaufhörlich quälten, um die Namen seiner Komplizen aus ihm herauszupressen, hatte ihn wieder die schiere Panik ergriffen. Es war schließlich sein Name, den der alte Mann hartnäckig für sich behielt! Er roch sein Blut und seinen Urin, er sah die vor Schmerz verkrampften Muskeln zucken, er hörte sein mattes Röcheln, das noch grausamer klang als jeder Schmerzensschrei, und er vernahm sein Schluchzen und Stöhnen in den kurzen Unterbrechungen seiner Qualen. Doch Karims Sieg über die Inquisitoren machte ihn zugleich auch stolz und stark. Der alte Mann verteidigte trotz aller Brutalität noch immer ihr Volk und ihre Gesetze! Doch sofort beschlich ihn wieder ein unerträgliches Schuldgefühl. Und zuweilen schauderte ihn beim Gedanken daran, dass Karim nachgeben und mit dem Finger auf ihn zeigen könnte: Er! Er ist derjenige, den ihr sucht! Er selbst könnte der Nächste sein. Und niemand, wirklich niemand konnte dem alten Mann einen Vorwurf machen, wenn er diesen andauernden Qualen nicht mehr trotzen könnte und das preisgäbe, was sie von ihm forderten. Es war ein quälendes Wechselbad der Gefühle: Stolz, Schuld, Angst zerrten an ihm, als wäre er eine Marionette. Dann eine weitere Frage, ein erneuter Zug am Seil, ein Schrei …

Kaum zu Hause angekommen, berichtete ihm ein junger Mann, den Jalil geschickt hatte, von Hamid. Fatima und Aischa saßen am Boden und weinten, die Kinder fest in die Arme geschlossen.

Er konnte einfach keinen weiteren Schmerz mehr ertragen!

»Sag, dieser Bäcker«, brachte Hernando mit belegter Stimme heraus, »hieß er Cristóbal Escandalet?«

»Ja.«

Hernando schüttelte langsam den Kopf. Hatte Hamid etwa gar nicht mit Abbas geredet?

»Dieser Mann war ein Spitzel und Verräter«, bestätigte er dem jungen Mann. »Er war es, der Karim bei der Inquisition angezeigt hat. Alle Glaubensbrüder sollen wissen, warum unser weiser Alfaquí so gehandelt hat! Er hat ihn gerichtet, er hat sein Urteil gesprochen, und er hat es selbst vollstreckt. Auch die Familie des Bäckers soll das erfahren!«

Hernando zog sich in sein Zimmer zurück und weinte, er wollte beten und fasten. Wer würde nun das Zimmerchen im Erdgeschoss bewohnen? Wer würde sich nun vor den Kerben verbeugen, die die Qibla anzeigten? Hamid hatte sie ihm gezeigt, stolz auf seine Tat. Hamid, der Alfaquí, von dem er alles gelernt hatte und dessen Namen er trug: Hamid ibn Hamid, Sohn des Hamid!

Ein Schleier aus Tränen trübte seinen Blick. Dann erschütterte sein Schrei das gesamte Viertel Santa María.

»Vater!«

Die Büttel schleppten Karim herbei, sein Kopf hing schlaff nach vorne, und seine Füße schleiften über den Boden, als sie ihn den Inquisitoren vorführen wollten.

Sie versuchten, ihn aufrecht vor den Lizentiaten Portilla zu stellen, und der Scharfrichter packte Karims schütteres graues Haar und riss seinen Kopf nach oben, damit man sein Gesicht sah. Der Inquisitor schnaubte wütend. Er gab sich geschlagen.

Hernando betrachtete Karim: Seine violett unterlaufenen Augen waren eingefallen und schienen bereits hinter die Wände dieses Verlieses zu sehen. Vielleicht erblickten sie den nahenden Tod, vielleicht sahen sie das Paradies. Gab es jemanden, der das Paradies mehr verdient hätte als dieser rechtschaffene Gläubige? Da bewegten sich Karims aufgesprungene Lippen.

»Ruhe!«, forderte der Inquisitor.

Karims Stammeln klang wie ein fernes Rauschen, in seinem Delirium sprach er Arabisch.

»Was sagt er?«, brüllte der Inquisitor Hernando an.

Hernando spitzte die Ohren, er wusste, dass ihn der Lizentiat Portilla genau beobachtete.

»Er ruft nach seiner Frau.« Hernando meinte den Namen Amina gehört zu haben. »Ana«, log er schnell, »anscheinend heißt sie Ana.«

Karim flüsterte unaufhörlich vor sich hin.

»Wieso braucht er so viele Worte, um nach seiner Frau zu rufen?«, fragte der Inquisitor misstrauisch.

»Er zitiert Gedichte«, erklärte Hernando dem Notar. Ihm war, als hörte er die alten Gedichte – Verse, die in die Wände der Alhambra von Granada eingemeißelt waren. »Sie gleicht der Gattin in reizender Erhabenheit … sie zeigt sich dem Gatten in verführerischer Schönheit«, zitierte er weiter.

»Frag ihn nach seinen Komplizen. Vielleicht ist jetzt der richtige Zeitpunkt.«

»Wer sind deine Komplizen?«, fragte Hernando, ohne Karim anzusehen.

»Auf Arabisch, Dummkopf!«

»Wer sind …«, begann er die Frage auf Arabisch, doch dann hielt er plötzlich inne. Außer Karim verstand hier niemand ihre Sprache! »Gott hat Gerechtigkeit walten lassen«, berichtete er ihm nun auf Arabisch. »Der Verräter unseres Volkes wurde nach den Vorschriften unseres Rechts bestraft. Hamid aus Juviles hat dies übernommen. Du wirst den heiligen Alfaquí im Paradies wiedersehen.«

Portilla wurde misstrauisch, der Wortschwall des jungen Morisken schien ihm eindeutig zu lang. In dem Moment leuchteten die Augen des alten Mannes kaum wahrnehmbar auf, und seine Lippen verzogen sich zu einer Grimasse, die ein Lächeln werden sollte. Dann atmete er aus, ein letztes Mal.

»Beim nächsten Autodafé wird er in effigie verbrannt«, urteilte der Inquisitor. »Was hast du noch zu ihm gesagt?«, fragte er Hernando.

»Dass er ein guter Christ sein soll«, antwortete er, ohne mit der Wimper zu zucken. »Dass er gestehen soll, was Ihr wissen wollt, und dass er sich mit der Kirche aussöhnen soll, um die Gnade Unseres Herrn und das ewige Seelenheil …«

Der Lizentiat strich sich über die hohe Stirn.

»Schon gut«, war sein einziger Kommentar.

Die Pfeiler des Glaubens
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