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E inige Schaulustige klatschten dem Priester Beifall, während Hernando sich mit schmerzverzerrtem Gesicht wieder aufzurichten versuchte. Eigentlich hatte er sich schon nach seinem Sturz von Azirat kaum mehr bewegen können, aber jetzt, nach der Rangelei mit José und seinen Bewachern und dem gewaltigen Stoß, als sie ihn zu Boden gerissen hatten, sah er sich zu keiner Bewegung mehr fähig.

Ein blond gelockter Mann mit blauen Augen half ihm auf.

»Ruhe«, rief der erste Geistliche. »Wer hier für Aufruhr sorgt, verliert das Recht auf den Schutz der Kirche und wird aus dem Gotteshaus verwiesen.«

Sofort ebbte der Applaus ab, aber die Scherze und Späße über die Männer des königlichen Oberstallmeisters und ihre Machtlosigkeit im Geltungsbereich der Kirche brachen wieder los, sobald der Geistliche außer Hörweite war.

»Ich heiße Pérez«, begrüßte der blonde Mann Hernando und reichte ihm die Hand.

»Aber wir nennen ihn hier nur ›Buceador‹«, stellte ein anderer Mann fest, der zu ihnen gekommen war und trotz der Oktoberkälte mit nacktem Oberkörper herumlief.

»Ich bin Hernando«, stellte sich der Neuzugang vor und fragte sich, wie Buceador – also »Taucher« – zu seinem Namen gekommen war.

»Pedro«, sagte der Mann mit dem nackten Oberkörper.

»Kommt, wir gehen zum Vikar«, forderte Pérez ihn auf.

»Danke, aber du brauchst mich nicht zu begleiten«, erwiderte Hernando.

»Keine Sorge«, beruhigte ihn der Blonde. »Wir haben ohnehin nichts zu tun: Wir dürfen nicht einmal Karten spielen. Und wie du gerade selbst festgestellt hast, dürfen wir auch nicht Beifall spenden.« Hernando versuchte mit seinem Begleiter Schritt zu halten, doch seine Schmerzen waren so heftig, dass er taumelte. Pérez wartete auf ihn, und schließlich betraten sie gemeinsam die Gebetshalle.

»Er hat sich mit dem Vikar gestritten«, erklärte ihm Pérez und deutete auf Pedro, der im Hof geblieben war. »Er hat Probleme wegen eines sehr kostbaren Halsbandes«, fügte er noch hinzu, als sie durch den Säulenwald schritten. »Aber er rückt nicht mit den Einzelheiten raus. Anscheinend wollte er auch dem Vikar die Sache nicht erklären.«

Die Sakristei lag, wie Hernando sich sehr wohl erinnerte, an der Südwand der Kathedrale neben der Schatzkammer, in einer Kapelle zwischen dem Mihrab und der ehemaligen Bibliothek, deren Umbau zur Tabernakelkapelle immer noch nicht abgeschlossen war. Pérez wunderte sich, wie freundlich der Vikar Don Juan den neuen Schützling behandelte, nachdem sie an der Tür um Einlass gebeten hatten.

»Der Graf von Espiel ist ein gefährlicher Feind«, stellte Don Juan fest, als Hernando seine Geschichte beendet hatte. Pérez hörte aufmerksam zu, während der Vikar in seinen Akten Notizen machte. »Ich werde dem Provisor die Fakten zukommen lassen, damit er über deine Situation entscheidet. Ich hoffe, dir in Bälde mehr darüber sagen zu können. Und das mit deiner Familie tut mir sehr leid«, sagte er noch zum Abschied.

»Woher kennt er dich?«, fragte Pérez, sobald sie die Sakristei verlassen hatten. »Ist er ein Freund von dir? Wie …«

»Lass uns zur Bibliothek gehen«, vertröstete Hernando ihn.

Don Julián nahm gerade die letzten Bände aus den Regalen der Tabernakelkapelle. Die neu gebaute Bibliothek neben der Puerta de San Miguel war etwas kleiner, und einige Bücher und Schriftrollen mussten in die Privatbibliothek des Bischofs überführt werden – wo die Abschriften des Korans und der arabischen Prophezeiungen versteckt waren.

»Dürfen wir eintreten?«, fragte Hernando durch das Gitter, das die Gerüste und die Bauarbeiter vom Gebetssaal der ehemaligen Moschee abgrenzte.

»Du kennst den Bibliothekar?«, flüsterte Pérez erstaunt, als Don Julián sie überaus freundlich begrüßte. Sein Lächeln erstarb allerdings, als er von Fatimas Schicksal und dem ihrer Kinder erfuhr.

Sie schritten gemeinsam durch die unzähligen Säulen, Pérez hinterdrein, und Hernando musste Don Julián – wie zuvor Don Juan – seine Geschichte erzählen.

»Der Graf von Espiel! Das ist nicht gut«, seufzte Don Julián. »Aber der Provisor wird auf deiner Seite sein: Die Espiels waren eines jener Adelshäuser, die sich am heftigsten der neuen Kathedrale widersetzten, bevor Kaiser Karl schließlich ihren Bau genehmigte. Und in dem Neubau hatten die Espiels keine eigene Kapelle mehr. Später verärgerten sie das Domkapitel, als sie den Bau einer anderen Kirche finanzierten, für den sie den Hochaltar stifteten. Seither sind die Beziehungen zwischen dem Grafen und dem Bischof mehr als angespannt.«

»Ist das gut, wenn der Provisor auf meiner Seite ist?«

»Natürlich. Als Kirchenrichter entscheidet er darüber, ob dein Fall dem Kirchenrecht und den Beschlüssen des Konzils entspricht. Zunächst: Du bist kein Mörder und auch kein Wegelagerer. Nach allem, was du bislang erzählt hast, kannst du wegen deines Vergehens um den Schutz der Kirche bitten. Aber es gibt einen noch wichtigeren Umstand: Der kirchliche Schutz vor der Justiz ist befristet, ansonsten würden unsere Gotteshäuser zu Verwahrstätten für Verbrecher. Hier in Córdoba gilt eine Frist von dreißig Tagen. Man geht davon aus, dass der Schutzsuchende in diesem Zeitraum die Konsequenzen seines Vergehens klären kann. Aber so, wie ich den Grafen von Espiel einschätze, wirst du das in dieser Zeit nicht schaffen.« Hernando nickte betrübt. »Der Graf wird keinen Deut nachgeben. Es wird mindestens zu einer körperlichen Züchtigung kommen. Denn meistens endet die Zuflucht in den Bereich der Kirche so: Die Kirche verlangt von der weltlichen Justiz, dass sie den Verbrecher wohlwollend behandelt, und wenn so ein Pakt vereinbart wird, liefert sie ihn aus. Und hier kommt der Einfluss des Provisors ins Spiel, denn wenn diese Vereinbarung nicht getroffen wird, kann der Aufenthalt unendlich verlängert werden.«

»Aber was hat der Graf davon, wenn er sich nicht mit der Kirche einigt? Er kann mich doch nicht aus der Kathedrale schleifen, und außerdem erhält er keine Wiedergutmachung für mein Vergehen …«

»Die meisten Christen«, erwiderte Don Julián, »wagen es nicht, gegen die Schutzsuchenden in der Kirche vorzugehen. Da gebe ich dir recht. Die Drohung, diejenigen sofort zu exkommunizieren, die die Kirche als Zufluchtsort nicht achten, schüchtert sie in ihren frommen Überzeugungen ausreichend ein.« Hernando fasste sich an den schmerzenden Rücken und dachte daran, wie schnell ihn José Velasco und die anderen bei dem Wort »Exkommunikation« auf den Boden hatten fallen lassen. »Aber der Graf von Espiel kann, wie viele bedeutende Familien, andere Leute in seinem Namen handeln lassen, damit er selbst nicht exkommuniziert wird. Merk dir eines: Du darfst niemandem vertrauen. Sobald der Graf mitbekommt, dass du hier Zuflucht gefunden hast, wird er alles daransetzen, dir das Leben schwerzumachen. Er wird seine Leute an den Kirchenportalen postieren, damit dir kein Essen gebracht wird und damit dich niemand besucht. Du darfst keinem vertrauen, der dich im Innenhof anspricht, und nicht einmal hier drin kannst du sicher sein. Sie könnten dich entführen und in einem Verlies auf den Ländereien des Grafen verschwinden lassen. Für immer.«

»Soll ich etwa den Rest meines Lebens hier verbringen«, flüsterte Hernando, »wenn sie mich nicht entführen?«

Don Julián blieb stehen, er drehte sich zu Pérez um und bedeutete ihm mit einer Geste, sich etwas zu entfernen.

»Das heißt«, flüsterte Don Julián, nachdem er überprüft hatte, dass Pérez tatsächlich zwei Säulen entfernt stehen geblieben war, »dass nun vielleicht der Zeitpunkt gekommen ist, an dem du zu den Barbaresken fliehen musst.«

»Aber was wird dann aus meiner Mutter?«

»Sie kann mit dir fliehen.« Die beiden Männer sahen sich in die Augen. »Ich werde deine Reise vorbereiten«, stellte Don Julián fest, als Hernando auch nach einigen Augenblicken nicht widersprochen hatte.

»Wenn du meine Flucht vorbereitest, denk bitte daran, dass ich noch in die Alpujarras muss, zum Kastell von Lanjarón.«

»Wegen der Waffe?«

»Ja«, sagte Hernando und ließ seinen Blick über den scheinbar endlosen Säulenwald schweifen. »Dort liegt der Krummsäbel von Mohammed vergraben.«

»Das ist zwar gewagt, aber ich denke, es wird möglich sein«, sagte der Geistliche. »Trotz des Verbotes und trotz der neuerlichen Deportationen im Königreich Granada kehren viele Morisken dorthin zurück.« Don Julián lächelte. »Ach, dieses unvergleichliche Abendrot in Granada! Also, von dort aus könnt ihr an die Küste von Málaga oder Almería reisen und dann ein Schiff nach Vélez, Tetuan, El Araish oder Salé nehmen.«

Kurz nach Einbruch der Dunkelheit verließ Hernando die Gebetshalle und begab sich in den Innenhof. Don Julián hatte ihm versprochen, ihre Flucht vorzubereiten und sich beim Provisor für ihn einzusetzen. Im Hof erwartete ihn Aischa, die Don Julián hatte benachrichtigen lassen.

»Wir fliehen zu den Barbaresken«, flüsterte Hernando seiner Mutter zu, nachdem er ihr alles erzählt hatte. In der Dunkelheit konnte er nicht erkennen, dass Aischa erstarrte.

»Ich bin zu alt für solche Abenteuer«, gab sie vor.

»Mutter, ich bin jetzt sechsundzwanzig Jahre alt. Bei meiner Geburt warst du ein Mädchen von vierzehn Jahren. Du bist nicht zu alt! Zuerst fliehen wir nach Granada, und von dort aus wird es uns schon gelingen, mit einer Fuste nach Tetuan überzusetzen.«

»Aber …«

»Wir haben keine andere Wahl! Oder willst du, dass ich dem Grafen in die Hände falle? Wir müssen ohnehin erst noch abwarten, dass die Männer des Grafen nachlässig werden und mich nicht mehr so scharf bewachen. Dann musst du bereit sein.«

Trotz der Aufregung über die Nachricht hatte Aischa in der Eile etwas zu essen mitgebracht: Brot, ein Stück Lammfleisch und Obst. Wasser spendeten die Brunnen im Innenhof genug. Als Aischa sich schließlich von ihrem Sohn verabschiedete, ging gerade das Abendgebet zu Ende. Sie war sehr bedrückt durch das große Tor geschlichen, und Hernando wunderte sich, warum sie der Fluchtplan alles andere als aufzuheitern schien. Die Pförtner verschlossen die Zugänge zur Gebetshalle, und alle Leute, die in der Kirche Asyl gefunden hatten oder auch nur herumstreiften, ließen sich in dem weitläufigen Innenhof nieder. Mit Ausnahme der Bereiche um die Puerta del Perdón, den Glockenturm und dem Gebäudeabschnitt, der dem Konsistorium des Erzdiakons vorbehalten war, durften sich die Schützlinge der Kirche in den offenen Bogengängen zum Hof aufhalten und dort Unterschlupf vor den kalten Nächten suchen.

»War das deine Mutter?«

Hernando drehte sich um. Vor ihm stand Pérez. Angesichts der überraschenden Kontakte des Neuankömmlings zu führenden Kirchenmännern hatte er entschieden, ihn in seine Bande aufzunehmen – womöglich könnte er ihnen nützlich sein.

»Ja.«

»Komm zu uns. Wir haben noch ein wenig Wein.«

Hernando nickte und folgte Pérez über den Hof.

»Weshalb nennen dich alle Buceador?« Hernando hatte schon den ganzen Tag über den Spitznamen nachgedacht.

»Weil ich ein Taucher bin«, antwortete der blonde Mann und grinste. »Genau. Ich arbeite – nein«, verbesserte er sich, »ich habe für einen baskischen Kapitän gearbeitet, der vom König die Genehmigung hat, versunkene Schiffe und ihre Schätze vor der spanischen Küste zu bergen. Aber wir hatten Streit wegen ein paar Goldmünzen, die ich weit weg von einem Wrack vor Cádiz gefunden habe«, sagte er und schnalzte mit der Zunge. »Ich bin abgehauen und habe es gerade noch hierhergeschafft, bevor mich seine Leute erwischt haben.«

Nun erklärte ihm Pérez mit vielen Worten und nicht weniger Gesten, wie dieser seltsame Bronzeapparat funktionierte, mit dem die Taucher auf den Meeresboden gelangten, um die Schätze zu heben. Doch Hernando hatte das Prinzip noch immer nicht begriffen, als sie bei dem Säulengang angekommen waren.

»Mach dir nichts draus«, beruhigte ihn ein Fremder. Er hatte eine gebrochene Nase inmitten der sonst geraden Gesichtszüge und trug ein rotes Tuch um den Kopf gebunden. »Bis jetzt hat keiner von uns verstanden, was es mit diesem Bronzeding auf sich hat. Wahrscheinlich ist alles nur ein Lügenmärchen. Ich bin übrigens Luis.«

Pérez trat mit dem Fuß nach ihm, aber Luis wich ihm geschickt aus.

Im matten Licht der Fackeln an den Wänden der Säulengänge saßen weitere sechs Männer am Boden. Sie ließen eine Lederflasche mit Wein kreisen und teilten die Speisen untereinander auf, die ihnen ihre Angehörigen und Freunde gebracht hatten.

»Herzlich willkommen im Gang der Kinder. Ich bin Juan«, begrüßte ihn ein blonder Mann mit glattem Haar und machte neben sich Platz.

In dem Säulengang saßen noch weitere Männer in Grüppchen zusammen.

»Gang der Kinder?«, fragte Hernando erstaunt und setzte sich.

»Weißt du«, setzte Juan zu einer Erklärung an. Er war eigentlich Chirurg, hatte aber versucht, sein Einkommen als Arzt durch ein paar undurchsichtige Geschäfte aufzubessern, und musste schließlich vor der Justiz flüchten, nachdem ihn einige Witwen angeklagt hatten. »Früher wurden hier am Tor die Findelkinder abgelegt. Und genau hier«, er deutete auf den Säulengang, »schliefen sie in ihren Wiegen, bis eines Nachts eine Schweineherde eindrang und einige Säuglinge auffraß. Da ließ der fromme Dekan der Kathedrale ein Findelhaus bauen und überließ diesen Säulengang den Menschen, die in der Kirche Schutz suchen. Deshalb heißt dieser Gang hier nach den Kindern.«

Unwillkürlich musste Hernando an Francisco und Inés denken. Ein eisiger Schmerz durchzuckte ihn. Wie sehr hatte sich sein Leben doch verändert! Nun noch seine Verhaftung … Er spürte auf einmal, dass ihn alle Männer anstarrten.

»Hernando, komm, trink einen Schluck«, forderte ihn Pedro auf, der trotz der kühlen Nacht seinen Oberkörper immer noch nicht bedeckt hatte.

Hernando wies die Flasche zurück. Die Büßerhemden an den Wänden schienen im flackernden Licht der Fackeln zu tanzen. Die Hunderte weißer Hemden boten ein makabres Schauspiel.

»Dann gib mir den Wein!« Mesa, der Mann neben ihm, ein dunkler, eher orientalischer Typ, nahm ihm die Lederflasche aus der Hand und hielt sie gierig an seinen Mund. Niemand hinderte ihn daran, die Flasche fast ganz auszutrinken.

»Es geht das Gerücht um, dass sie ihn ausweisen und der weltlichen Justiz übergeben«, entschuldigte ein anderer Mann Mesas Verhalten, den alle nur den »Franzosen« nannten. »Wir wissen nicht warum, aber die Pfaffen hassen ihn. Dabei hat er nur eine Aufenthaltserlaubnis geklaut, um arbeiten zu können … Vermutlich ist er der Nächste, den sie rauswerfen.«

»Eines Tages müssen wir alle gehen. Also erfreuen wir uns unserer Tage, die wir hier zusammen verbringen«, sagte ein Waffenhändler, der erst kürzlich aus der Neuen Welt nach Spanien zurückgekehrt war und nun Probleme hatte, weil eine Ladung Arkebusen unter seiner Aufsicht verschwunden war.

»Nein …«, wollte Pérez gerade widersprechen.

Plötzlich rief jemand quer über den gesamten Hof nach Hernando.

Im Fackellicht konnte man neben der Puerta de Santa Catalina die Umrisse eines Mannes erkennen, der die Hände in die Hüften gestemmt hielt.

»Ruhig! Bleib sitzen!«, befahl der Chirurg, als Hernando aufstehen wollte.

»Wo ist der Mistkerl Hernando?«, rief der Mann am Tor noch einmal.

»Was soll das?«, rief Pérez zurück und stand auf. Alle kannten den Buceador. »Wenn du weiter so rumschreist, kommen noch die Pfaffen angerannt. Was soll mit diesem Hernando sein?«

»In den Straßen ringsum stehen die Männer des Grafen von Espiel. Sie suchen den Mann. Sie haben damit gedroht, uns alle festzunehmen und vor den Richter zu zerren, sobald wir hinausgehen … Es sei denn, wir übergeben ihnen diesen Morisken.«

Auch wenn sie damit ihr Kirchenasyl aufs Spiel setzten, wagten die meisten Hofbewohner Ausflüge in das nächtliche Córdoba. Die Plaza del Potro und die Spelunken mit den Karten- und Würfelspielen und den verbotenen Wetten waren nicht weit. Dort lockten Wein, Weib und Kampf. Die Büttel und Richter konnten nachts keine ständige Wache um die Kathedrale aufstellen, außerdem wurden die Verbrecher nach Absprachen zwischen der Kirche und der Justiz ohnehin nach und nach ausgeliefert. Warum sollten sie also wegen eines Haufens Raufbolde auf ihren Schlaf verzichten? Aber wenn nun der Graf diese Wachen bezahlte und damit verhinderte, dass die Schützlinge das Nachtleben genießen konnten, war das ein Problem. Einige Hofbewohner aus den übrigen Säulengängen scharten sich um den Mann bei der Puerta de Santa Catalina.

»Anscheinend bist du noch übler dran als ich«, stellte Mesa fest und verzog das Gesicht nach dem nächsten Schluck Wein. »Dabei bist du ja noch nicht mal einen Tag bei uns.«

Hernando wusste nicht, wie er reagieren sollte.

»Halt erst mal still!«, mahnte ihn Pérez.

»Wo ist dieser Hernando?«, rief ein Mann. »Wir müssen ihn den Soldaten des Grafen übergeben!«

Immer mehr Hofbewohner begaben sich zur Puerta de Santa Catalina.

»Dummköpfe!«, rief Luis zurück. »Was geht es dich an, wo er ist? Seht alle her, ich bin Hernando!«

»Und ich bin Hernando!«, stimmte der Chirurg sofort ein, als er die Absichten seines Gefährten durchschaut hatte.

»Und ich bin auch Hernando!«, behauptete Pérez. »Wenn wir ihnen in die Hände spielen, ist es heute dieser Hernando, und morgen kann es jeden von uns treffen. Dich«, sagte er noch und zeigte auf einen in der Nähe stehenden Mann, »oder dich. Wir alle werden von jemandem gejagt. Vielleicht hat unser Verfolger nicht die Mittel des Grafen. Aber wenn die erst einmal spitzkriegen, dass wir uns gegenseitig ausliefern … Außerdem ist es nach wie vor ein Sakrileg, den Schutz der Kirche zu missachten, ganz gleich, wer es tut. Wenn wir diesen Hernando ausliefern, wirft uns der Bischof morgen allesamt hinaus! Seine Exzellenz wäre mehr als zufrieden, wenn wir alle von hier verschwunden wären.«

»Vielleicht hast du ja Glück …«, meinte Mesa zu Hernando in dem Moment, als alle Anwesenden nachzudenken und zu zweifeln schienen.

»Aber so kommen wir nicht auf die Straße raus«, beschwerte sich jemand. Ein Raunen ging durch die Menge, einige Männer fluchten. »Wir geben den Soldaten des Grafen, was sie wollen! Der Bischof muss es ja nicht mitbekommen.«

»… oder auch nicht«, bemerkte Mesa und griff wieder zur Weinflasche.

»Nein. Wir können ihn nicht ausliefern«, stellte Luis entschieden fest und wandte sich an alle Anwesenden. »Aber wenn ihr unbedingt auf die Straße wollt, dann geht doch einfach in großen Gruppen und gleichzeitig durch verschiedene Ausgänge, um sie zu verwirren. Und zeigt ihnen ruhig eure Messer und Dolche.«

»Jeder von uns nimmt es mit drei von ihnen auf!«, prahlte jemand.

Wieder ging ein Raunen durch die Menge, diesmal war es allgemeine Zustimmung. Eine Gruppe fand sich mit gezückten Waffen an der Puerta de Santa Catalina ein. Einige Männer schauten hinaus und stellten fest, dass die Soldaten des Grafen tatsächlich erschraken, als sie den Haufen Verbrecher aus dem Hof kommen sahen. Sie ließen sie unbehelligt ihrer Wege ziehen, als sie den gesuchten Morisken nicht entdecken konnten. Die Nachricht machte schnell die Runde, und sogleich bildete sich eine neue Gruppe, die zur Puerta de los Deanes hinauseilte.

»Anscheinend hattest du doch Glück«, sagte Mesa und lächelte, als sich die Männer ihrer Runde wieder setzten.

»Ich danke euch …«, begann Hernando.

»Morgen«, unterbrach ihn der Chirurg sofort, »legst du beim Bibliothekar ein gutes Wort für Mesa ein.«

Hernando betrachtete den Dokumentendieb, der ihn aus seinen vom Weingenuss halb geschlossenen Augen fragend ansah.

»Fortuna ist launisch«, spaßte Hernando.

Obwohl die Verbrecher um ihn herum eine gewisse Sicherheit boten, fand Hernando in der Nacht kaum Schlaf. Er zuckte jedes Mal zusammen, wenn jemand zu nahe an ihm vorbeiging. Er war immer noch in Gefahr, und er wusste, dass die meisten Menschen, die hier ein und aus gingen und sich die Zeit mit Raufereien und Späßen vertrieben, trotz des Sakrilegs und der drohenden Exkommunikation gern bereit waren, ihn für ein paar Goldmünzen von diesem heiligen Ort fortzuschleifen.

Nur ein einziger Gedanke konnte seine Ängste lindern, und daran klammerte er sich, um nicht über sein Elend nachdenken zu müssen: die Flucht zu den Barbaresken!

Das Glockenläuten zum Morgenlob weckte die Schlafenden im Hof. Auch Hernando reckte und streckte sich wie die meisten seiner Gefährten, bevor die unzähligen Geistlichen, Musiker und Kantoren mit dem übrigen kirchlichen Personal in die Kathedrale strömten. Er blickte erstaunt zu seinen Kumpanen, die immer noch faul herumlagen.

»Steht ihr nicht auf?«, fragte er den Chirurgen, der neben ihm lagerte.

»Wir beginnen den Tag niemals auf Geheiß der Glöckner. Warte ab, du wirst schon sehen. He, ich wette eine Blanca-Münze!«, rief er den anderen Männern zu.

»Einverstanden!« Mit diesen Worten nahm Pérez die Wette an.

»Ich setze zwei Blancas dagegen!«, lachte Luis.

»Ich bin dabei!«, scherzte Mesa.

»Sieh hin«, sagte der Chirurg. Er zeigte auf einen Mann, der drei oder vier Schritte von ihnen entfernt zwischen den Orangenbäumen stand. Der Kahlkopf kniff die Augen zusammen und unterdrückte ein Lächeln, er presste seine Lippen zusammen, zwischen denen ein Schneidezahn herausragte. Er stand ganz ruhig da und balancierte eine flache Marmorplatte auf dem Kopf.

»Was macht er da?«

»Du meinst Palacio? Warte ab, du wirst schon sehen.«

Zusammen mit der Menschenmenge gelangten auch einige Schweine und Hunde in den Hof. Sie liefen den Geistlichen nach oder leckten den Boden ab, auf dem sich noch Spuren vom Abendessen befanden. Hernando bemerkte, wie einer der Hunde den Schwanz einzog und weglief, sobald er diesen kuriosen Palacio erblickte.

»Warum …?«

»Ruhe!«, unterbrach ihn Pérez. »Es gibt immer einen, der ihn noch nicht kennt.«

Er sah in dem Moment wieder zu dem Alten rüber, als ein bunt gescheckter Jagdhund an den Schuhen und den zerlumpten roten Strümpfen des Mannes schnüffelte. Der Hund lief aufgeregt hin und her, bis er die geeignete Position fand, um ein Hinterbein zu heben und Palacio ans Bein zu pinkeln. Aber der Mann berechnete genau den Abstand zu dem Tier und neigte den Kopf so, dass die Platte dem Hund auf den Rücken knallte. Dieser jaulte laut auf und rannte weg. Palacio sprach kein einziges Wort, er lächelte seinem geneigten Publikum erhaben zu und bleckte seinen einzigen Schneidezahn.

»Bravo!«, riefen Mesa und der Chirurg gleichzeitig und hielten die Handflächen auf.

»Macht er das immer?«, fragte Hernando.

»Ja, jeden Tag! Immer zur gleichen Zeit«, antwortete Pérez. »Einmal musste er vor dem wütenden Besitzer eines Hundes flüchten. Seither wetten wir immer, ob der Hundebesitzer erscheint oder nicht, und dafür setzen wir zehn zu eins«, sagte er lachend.[1]

1 Mit Bewunderung und Dank dem Meister des Ro mans Miguel de Cervantes gewidmet, von dem ich den »Verrückten aus Córdoba« geliehen habe, eine Figur aus der Vorrede zum zweiten Teil des Don Quijote von der Mancha . (Anmerkung des Autors)

Die folgende Nacht verbrachte Hernando nicht im Innenhof.

»Noch gestern Abend, vermutlich kurz nachdem er seine Männer hierhergeschickt hat, hat der Graf um eine Audienz beim Bischof gebeten«, berichtete Don Julián nach dem Morgengebet, als Hernando ihm die Vorfälle der Nacht geschildert hatte. »Der Graf muss völlig außer sich gewesen sein. Ich denke zwar, der Bischof wird ihn nicht empfangen, aber der Graf wird alles in seiner Macht Stehende unternehmen, um dich gefangen zu nehmen – und wenn er seinen gesamten Hofstaat losschicken muss, um dich zu entführen. Da bin ich mir sicher.«

»Don Julián, für ihn war das doch nur irgendein Pferd. Das Tier war nicht einmal für die Weiterzucht geeignet! Warum der ganze Aufruhr?«

»Täusch dich nicht: Es geht hier nicht um irgendein Pferd, es geht um seine Ehre! Ein Moriske hat seinen Namen befleckt und seine Ansprüche missachtet! Denk daran: Für einen Adligen gibt es keinen gröberen Affront.«

Die Ehre! Hernando fiel plötzlich die Begebenheit mit dem Hidalgo ein, der damit geprahlt hatte, vom Römer Varus abzustammen, und dann nur wegen des Verdachts, jemand könnte seinen Stammbaum anzweifeln, sein Leben riskierte … Sogleich erinnerte er sich auch an die Geldstücke, die er von dem Einfaltspinsel erhalten und dann an Fatima weitergegeben hatte. Fatima!

»Du weißt ja«, riss ihn Don Julián aus seinen Gedanken, »dass ich nicht nur Bibliothekar bin, sondern auch der Kaplan der Capilla de San Bernabé. Sie ist eine der drei kleinen Kapellen hinter dem Hauptschiff. Noch heute Abend gebe ich dir die Schlüssel, und wenn die Pförtner die Leute vor die Tür setzen und das Gotteshaus schließen, dann versteckst du dich in dem Schrank, der dort eingebaut ist. Du solltest vorsichtshalber etwas warten, bevor du wieder herauskommst und dir einen bequemeren Schlafplatz suchst. Und vergiss nicht: Nachts sind immer noch Wächter unterwegs, vor allem in der Nähe der Schatzkammer.«

»Das können wir nicht riskieren. Wenn sie mich …«

»Ich bin ein alter Mann, aber du kannst noch viel für uns erreichen – und sei es bei den Barbaresken. Ja, du hast viele Schicksalsschläge hinnehmen müssen – Gott allein weiß, warum –, aber die Hoffnung unseres Volkes ruht auf Menschen wie dir.«

Die Männer, die den Innenhof bewohnten, würden sich wegen seiner nächtlichen Abwesenheit schon keine Sorgen machen, versuchte ihn der Geistliche zu überzeugen. Hernando sprach mit Don Julián noch über Mesa, den Dokumentendieb, und der Bibliothekar versprach, sich für ihn einzusetzen.

Der Graf von Espiel verstärkte unterdessen die Präsenz seiner Soldaten in den Straßen, und seine Schergen nahmen Aischa von nun an regelmäßig das Essen für Hernando weg. Gleichzeitig versuchte Don Julián mit Abbas’ Hilfe – der den Geistlichen bat, Hernando nichts von seiner Beteiligung zu erzählen –, die Flucht in die Barbareskenstaaten vorzubereiten. Aber auch der Graf, der genau wusste, dass dies die einzige Rettung für Hernando darstellte, war hier nicht untätig: Er stattete seine Spitzel mit Geld aus, damit sie all jene Personen bestachen oder bedrohten, die ihm bei der Flucht behilflich sein könnten.

Hernando konnte zwar die Pförtner leicht täuschen, die die Gläubigen nach der Abendmesse aus der Kathedrale trieben, aber niemals vergaß er sein wild pochendes Herz, seine verschwitzten Hände und seinen zitternden Körper, der den Schlüsselbund zum Klimpern brachte. Dieses Klirren kam ihm in der nächtlichen Kathedrale wie ein gewaltiges Getöse vor. Don Julián wiederum hatte das Schloss und die Türscharniere des mächtigen schmiedeeisernen Gitters der Capilla de San Bernabé geölt.

»Ihr müsst das Gotteshaus verlassen!«, hörte er die Pförtner mit lauter Stimme sagen, nachdem er die Gittertür hinter sich abgeschlossen hatte.

Links neben ihm lag hinter einem kostbaren Wandbehang der Schrank versteckt, von dem Don Julián gesprochen hatte.

Hernando war von den Lichtreflexen auf dem weißen Marmor dieser Kapelle beeindruckt, die von den Ölkandelabern an der Decke der Kathedrale und den Tausenden Kerzen herrührten, die in den Kapellen und vor den Altären flackerten. Er war schon oft an dieser Kapelle vorbeigegangen, aber erst jetzt erkannte er ihre Einzigartigkeit. Er strich mit den Fingern über den kalten Marmor des Altars und des Altaraufsatzes, mit dem die gesamte Frontseite dieser dem heiligen Barnabas geweihten Kapelle gestaltet war. Die in weißem Stein verewigten Szenen stammten von einem französischen Meister und schienen in ihrer Zurückgenommenheit einen stillen Kampf mit den verschwenderischen Farben, dem vergoldeten Stuck und den apokalyptischen Gemälden der übrigen Bereiche der Kathedrale auszufechten.

Hernando atmete tief durch. Er versuchte die erhabene Schönheit dieses Ortes in sich aufzunehmen, da hörte er plötzlich die beiden Pförtner kommen. Sie hatten die Eingänge zur Gebetshalle verriegelt und wollten nun noch einmal die Eisengitter der Kapellen kontrollieren. Er hörte sie lachen und schwatzen und konnte gerade noch rechtzeitig in den Schrank hinter dem Wandbehang gleiten, bevor die Pförtner diese Kapelle erreichten.

Die erste Nacht verbrachte er in seinem Versteck. Erschöpft kauerte er am Schrankboden und fiel in einen tiefen Schlaf.

Am nächsten Tag wurde er vom frühmorgendlichen Treiben in der Kathedrale geweckt und konnte unentdeckt aus dem kleinen Schrank schlüpfen: Das Morgengebet wurde im Hauptschiff abgehalten, auf dessen Rückseite sich die Kapelle befand. Er befestigte die Schlüssel mit einem rostigen Draht so an der untersten Eisenstange des Gitters, dass sie für niemanden sichtbar waren.

Auch in den folgenden Nächten verließ er, aus Furcht, entdeckt zu werden, den Schrank nicht. Er schlief in der Hocke oder döste ein wenig im Stehen. Manchmal schlief er gar nicht und trauerte um Fatima und die Kinder, um Hamid und um all die anderen Lieben, die er verloren hatte. Er hatte ja den ganzen Tag Zeit, um wieder zu Kräften zu kommen.

Eines Morgens sah er, wie sie Mesa aus dem Hof brachten. Der Dokumentendieb wurde also doch der Justiz übergeben, deren Büttel ihn bereits auf der Straße vor der Puerta del Perdón erwarteten. Aischa hatte inzwischen einige treue Glaubensbrüder gebeten, Hernando zu versorgen, und so brachte ihm jeden Tag ein anderer Moriske etwas zu essen. Auch Aischa war inzwischen ganz auf die Hilfe der Gemeinschaft angewiesen: Das Domkapitel hatte ihr das schöne Haus mit dem Patio in der Calle de los Barberos gekündigt, weil sie die Miete nicht mehr bezahlen konnte, doch sie fand Unterschlupf bei anderen Morisken.

»Um die ausstehende Miete zu kassieren, haben sie alles behalten, was uns unsere Glaubensbrüder nach der Plünderung gegeben haben«, jammerte sie. »Sogar die Strohsäcke und die Töpfe …«

Hernando hörte nicht weiter hin, er spürte nur, wie das letzte Band zu seinem vorherigen Leben durchtrennt wurde – zu dem Ort, an dem er ein glückliches Leben geführt hatte.

»Was ist mit dem Koran?«, unterbrach er sie plötzlich. Aischa drehte sich erschrocken nach links und rechts um, um sich zu vergewissern, dass ihnen niemand zuhörte.

»Den habe ich Jalil gegeben.« Aischa schwieg einige Augenblicke. »Aber das hier habe ich ihm nicht gegeben.«

Da ließ sie die goldene Fatimahand durch ihre Finger gleiten, den kleinen Anhänger, den seine Frau immer getragen hatte. Hernando strich zärtlich über das Schmuckstück, doch bei der Berührung kam ihm das Metall erschreckend kalt vor.

In dieser Nacht küsste er die Fatimahand unzählige Male und weinte bitterlich. Auf einmal hatte er Fatimas bezaubernden Duft wieder in der Nase, und ihre sanften Worte hallten in seinen Ohren wider. Fatimas Worte, die sie genau hier, in der Gebetsstätte der Gläubigen, gesagt hatte.

»Denke immer an diesen Schwur, und halt dich daran, was auch geschehen mag«, hatte Fatima ihn gebeten.

Er hatte ihr damals geschworen, dass sie eines Tages an dieser heiligen Stätte zu dem einzigen Gott beten würden. Jetzt klammerte er sich an den Goldschmuck in seinen Händen. Was auch geschehen mag! Er küsste die kleine goldene Hand noch einmal und schmeckte die salzigen Tränen, die seine Hände und das Schmuckstück benetzten. Er hatte es geschworen … und nun war Fatima tot. Er musste sein Versprechen erfüllen!

Hernando verließ sein Versteck.

»Was auch geschehen mag!«, flüsterte er immer wieder vor sich hin.

Im Gotteshaus war es still, nur aus der Schatzkammer an der Südmauer, in der außer dem Kirchenschatz auch die Reliquien und Gegenstände für die Gottesdienste aufbewahrt wurden, drangen Stimmen. Rechts daneben lag die Hauptsakristei, daneben die Capilla de la Santa Cena mit dem Tabernakel, und wiederum daneben lag die dem heiligen Petrus geweihte Kapelle vor dem fantastischen Mihrab aus der Zeit von al-Hakim II., der nun entweiht war und als Sakristei diente.

Hernando ging um das Hauptschiff der Kathedrale herum, sein Herz raste, und er lauschte immer wieder nervös zum Eingang der Schatzkammer, aus der nach wie vor die Stimmen der Wächter drangen. Er ging um die Rückseite der Capilla de Villaviciosa herum, bis er nur wenige Säulen vom Mihrab – diesem heiligen Ort – entfernt war. Auf einmal fühlte er sich im Schutz der tausend Säulen, die zu Ehren Allahs errichtet worden waren, erstaunlich ruhig, und statt der beunruhigenden Stimmen der Wächter vernahm er nur noch ein Geräusch: den Nachhall der Gebete aller Gläubigen, die jahrhundertelang mit einer einzigen Stimme an genau diesem Ort gebetet hatten. Er war erschüttert.

Er hatte nichts, womit er sich waschen konnte, weder sauberes Wasser noch Sand. Also zog er die Schuhe aus und befeuchtete die Hände mit seinen Tränen. Dann fuhr er sich über das Gesicht, die Arme, den Kopf und schließlich über die Füße bis zu den Knöcheln.

Gänzlich losgelöst von allem kniete er nieder, zum Gebet.

Von nun an wusch Hernando sich – noch bevor die Tore der Gebetshalle geschlossen wurden und vor den Blicken anderer versteckt – vorschriftsgemäß mit dem Wasser aus den Brunnen im Hof. Nachts versank er im Gotteshaus ins Gebet und versuchte, sich auf diesem Weg Fatima und seinen Kindern zu nähern.

Von seinen Kumpanen der ersten Nacht verschwand einer nach dem anderen, nur Palacio vollzog jeden Morgen das gleiche Ritual. Mal mit mehr, mal mit weniger Glück zielte er mit der Marmorplatte nach den armen Hunden, die an seinen Schuhen und Strümpfen schnupperten.

Und während der Kirchenrichter über sein Gesuch befand und Don Julián ohne Erfolg versuchte, die Hindernisse zu überwinden, die die stetige Überwachung und die zahlreichen Finten des Grafen von Espiel für den Fluchtplan bedeuteten, lebte Hernando nur noch für die Momente, in denen er sich in Richtung der Qibla verbeugte. Er konnte an diesem Ort, den die Christen so brutal entweiht hatten, immer noch den Herzschlag des wahren Glaubens spüren.

Nacht für Nacht bemächtigte er sich auf seine Weise des Gotteshauses. Das hier war seine Mezquita – seine Moschee! Das hier war seine Gebetsstätte und die aller Gläubigen, und niemand würde sie ihm streitig machen.

»He! Platz da!«

Hinter den drei Trägern des Amtsstabes schritten mehr als ein halbes Dutzend bewaffnete Lakaien in roten Goldbrokatlivreen und farbigen Schlitzhosen durch die Puerta del Perdón in den Innenhof. Es war ein fast winterlicher Morgen, man beging Allerheiligen.

Der Bischof von Córdoba – prächtig gekleidet und von den Mitgliedern des Domkapitels umgeben – stand erwartungsvoll vor der Puerta de las Palmas.

»Heute, noch vor dem Hochamt«, hatte Don Julián Hernando angesichts der Menschenansammlung in der Mezquita berichtet, »wird Don Alfonso de Córdoba, der Herzog von Monterreal, die Kathedrale besuchen. Er ist gerade aus Portugal zurückgekehrt und wird seinen Vorfahren die Ehre erweisen.« Hernando zuckte nur mit den Schultern. »Schon gut«, gab der Geistliche zu, »es geht uns nichts an, aber ich rate dir eines: Halte dich während seines Aufenthalts nicht in der Kathedrale auf. Der Herzog ist ein spanischer Grande, er gehört zum Haus der Fernández de Córdoba und ist ein Nachfahre des Gran Capitán der Katholischen Könige. Seinen Lakaien behagt es keinesfalls, wenn das gemeine Volk ihm zu nahe kommt. Es fehlte noch, dass du dich schon wieder mit einem Aristokraten anlegst!«

»Zur Seite!«, rief einer der Lakaien des Herzogs und stieß eine alte Frau brutal zu Boden.

»Mistkerl!«, entfuhr es Hernando. Während er ihr aufhalf, bemerkte er, dass plötzlich alle Leute von ihm abgerückt waren und schwiegen. Noch halb gebeugt drehte sich Hernando um.

»Was hast du da eben gesagt?«, fuhr ihn der Lakai an und baute sich vor ihm auf.

Hernando hielt seinem herausfordernden Blick stand, er stützte immer noch die alte Frau.

»Er war das nicht«, behauptete die Frau. »Ich … Es ist mir so herausgerutscht. Verzeiht!«

Hernando bebte vor Zorn, als er das bösartige Lächeln sah, mit dem der Lakai auf die Entschuldigung der alten Frau reagierte.

»Mistkerl!«, murmelte er, als sich der Lakai zufriedengab und weitergehen wollte. »Ich habe Mistkerl gesagt«, wiederholte er herausfordernd und richtete sich auf.

Der Lakai drehte sich auf der Stelle um und zückte seinen Dolch. Da wandten sich auch die letzten Leute von Hernando ab, und einige der Lakaien kehrten wieder zurück. Inzwischen war das gesamte Gefolge des Herzogs durch die Puerta del Perdón in den Innenhof gelangt.

»Steck deine Waffe wieder ein!«, schalt ein Geistlicher, der die Szene beobachtete, den Lakaien. »Das ist ein heiliger Ort!«

»Was ist hier los?«, erkundigte sich einer der Begleiter des Herzogs. Der Lakai richtete weiterhin seinen Dolch auf Hernando, der inzwischen von zwei anderen Männern festgehalten wurde. Schließlich sah sich sogar der Herzog, der von einem Diener mit erhobenem Stoßdegen begleitet wurde, genötigt, stehen zu bleiben. Umgeben von Hofmeister, Kanzler, Sekretär und Kaplan, war der Aristokrat kaum zu sehen. Hernando konnte nur seine prächtigen Gewänder erkennen. Hinter dem Herzog standen einige Frauen, die ebenfalls festliche Kleider trugen.

»Dieser Mensch hat einen Diener Seiner Hoheit beleidigt«, berichtete ein Büttel aus dem Gefolge des Adligen.

»Steck deinen Dolch ein«, mahnte der herzogliche Kaplan, der sich der Gruppe näherte. Er gestikulierte wild in der Luft herum, um die Zierschnur seines grünen Hutes beiseitezuschieben, die vor seinen Augen tanzte. »Ist das wahr?«, fragte der Geistliche Hernando.

»Ja, und ich bitte um den Schutz der Kirche«, antwortete Hernando überheblich. Auf eine Feindschaft mehr oder weniger kam es nun auch nicht mehr an – und sei es ein weiterer Angehöriger der spanischen Aristokratie.

»Du kannst dich hier nicht auf den Gottesfrieden berufen«, stellte der Kaplan bedächtig fest. »Wenn man an einer heiligen Stätte ein Vergehen begeht, gilt er nicht.«

Hernando taumelte, ihm sackten die Knie weg. Die Lakaien, die ihn festhielten, zogen ihn hoch.

»Bringt ihn zum Bischof«, wies der Büttel sie an, während der Kaplan sich umdrehte, um wieder seinen Platz im Gefolge des Herzogs einzunehmen. »Seine Exzellenz wird über diesen Verbrecher bestimmen.«

Wenn sie ihn jetzt aus der Kathedrale brachten, würde ihn erst der Herzog bestrafen – und dann der Graf von Espiel. Hernando ließ sich fallen, als wäre er ohnmächtig geworden, und in dem Moment, in dem sich die Lakaien bückten, um ihn besser packen zu können, entwischte er ihnen und lief zu dem Mann, den er für den Herzog hielt.

»Erbarmen! Habt Erbarmen!«, flehte er und warf sich ihm vor die Füße, um seine Samtschuhe zu küssen. »Bei Gott und der Heiligen Jungfrau …«

Einige Männer stürzten sich auf Hernando, hoben ihn wieder auf die Beine und schafften ihn aus dem Weg, damit der Herzog seine Schritte nicht verlangsamen musste.

»Bei den Nägeln des Kreuzes Christi!«, schrie er, während er wild um sich schlug und sich zwischen den Lakaien am Boden wälzte. »Bei den Nägeln des Kreuzes Christi!«

Die Überraschung stand dem Herzog bei diesem Ausruf ins Gesicht geschrieben, und zum ersten Mal interessierte er sich für den ungehobelten Menschen, der so viel Unruhe verursachte. Hernando sah hoch, und sein Blick kreuzte sich mit dem des Herzogs.

»Aufhören! Lasst ihn sofort los!«, befahl Don Alfonso seinen Männern. »Ich habe gesagt, dass ihr ihn loslassen sollt!«

Hernando stand verdreckt und in Lumpen vor dem mächtigen Herzog von Monterreal. Sie starrten einander an. Sprachlos. Denn keiner der beiden brauchte ein weiteres Wort: Der Grande und der Moriske erinnerten sich gleichzeitig an den Korsarenanführer Barrax und sein Zelt im Feldlager in der Nähe von Ugíjar, das Aben Aboo nach der vernichtenden Niederlage von Serón aufgeschlagen hatte.

»Was ist aus der Alten geworden?«, fragte Hernando.

Einer der Büttel hielt diese Frage für eine Unverschämtheit und wollte den Unruhestifter gerade ohrfeigen, doch Don Alfonso hinderte ihn mit einer herrischen Geste daran. Er konnte seinen Blick nicht von Hernando abwenden.

»Die Alte. Sie hat ihre Pflicht getan, wie du es versprochen hast.« Der Kanzler und der Sekretär waren entsetzt darüber, wie warmherzig ihr Herr diesen Störenfried behandelte. Die Mitglieder des Gefolges begannen leise miteinander zu flüstern.

»Sie hat mich bis in die Nähe von Juviles getragen. Auf dem Weg dorthin stießen wir auf Soldaten von Don Juan de Austria. Leider weiß ich nicht, was aus dem guten Tier geworden ist. Ich war bewusstlos, kurz vor dem Tod. Man brachte mich zunächst nach Granada und dann nach Sevilla, wo ich schließlich kuriert wurde.«

»Ich wusste, dass auf die Alte Verlass ist«, stellte Hernando fest.

Beide Männer lächelten.

Die Personen im Gefolge redeten aufgeregt durcheinander.

»Hast du deine Frau und deine Mutter wiedergefunden?«, erkundigte sich der Aristokrat. Sein Hofstaat und das allgemeine Entsetzen waren ihm gleichgültig.

»Ja.« Hernandos Antwort glich einem Seufzer. Ja, er hatte Fatima wiedergefunden, und dann für immer verloren …

»Ihr sollt alle wissen«, verkündete der Aristokrat mit feierlicher Stimme, »dass ich mein Leben allein diesem Mann verdanke, den sie den Nazarener nennen. Von heute an wird er sich meiner Gunst, meiner tiefen Freundschaft und meiner ewigen Dankbarkeit sicher sein können.«

Die Pfeiler des Glaubens
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