5
Die Christen in Juviles wurden mit Hamid als Aufseher in der Kirche eingeschlossen. Der Alfaquí sollte dafür sorgen, dass sie von ihrem christlichen Glauben abließen und sich zum Islam bekannten.
Ibrahim brach nun nach Norden in die Berge auf. Partal hatte ihm befohlen, auf seinem Weg durch die Bergdörfer die Bewohner aufzufordern, sich dem Aufstand anzuschließen. Ibrahim wurde dabei von einem bewaffneten Trupp aus sechs Männern begleitet. Einige hatten sich mit den Vorderladern der Arkebusenkompanie aus Cádiar bewaffnet, andere nur mit Stöcken und Schleudern aus Espartogras. Hernando sollte den Trupp begleiten und die Maultierkolonne beaufsichtigen, die die Beute aus Cádiar transportierte.
In der Kirche hatte es niemand gewagt, dem Gelehrten zu widersprechen. Also hatte Ibrahim seinem Pferd die Sporen gegeben, war aus dem Gotteshaus geritten und hatte seinem Stiefsohn zugerufen, er solle ihm folgen. Hernando konnte sich nicht einmal mehr von Hamid oder seiner Mutter verabschieden. Er lächelte ihnen nur kurz zu, als er an ihnen vorbeihastete. Draußen vor der Kirche erwarteten ihn bereits die Männer und die Maultiere.
»Wenn du auch nur ein einziges Tier oder einen Teil der Beute verlierst, reiße ich dir die Augen aus.«
Mit diesen Worten seines Stiefvaters im Ohr machte Hernando sich auf den Weg.
Die Hauptsorge des Jungen galt nun den Lasttieren. Die Mulis aus Juviles waren folgsam, aber die sechs in Cádiar erbeuteten Tiere machten, was sie wollten: Das größte von ihnen versuchte Hernando sogar zu beißen, als er es wieder in die Reihe der anderen Tiere zurückschicken wollte. Hernando sprang gerade noch rechtzeitig zur Seite und konnte dem Biss ausweichen.
»Dich kriege ich noch«, flüsterte er wütend.
Das Tier machte weiter wie bisher, und Hernando blickte sich suchend um. Ich brauche einen Stock, dachte er. Die Maultiere waren nicht bösartig, aber dieses hier hatte eine Lektion bitter nötig. Er konnte es einfach nicht riskieren, dass ihm die Tiere nicht gehorchten, noch dazu wenn sein Stiefvater in der Nähe war. Am Ende war er es, der die Prügel bezog. Schließlich griff er nach einem großen Stein und näherte sich dem Tier von hinten. Sobald es den Jungen bemerkte, wollte es wieder zubeißen, aber Hernando verpasste ihm mit dem Stein einen kräftigen Hieb auf die Nüstern. Das Tier gab einen markerschütternden Schrei von sich. Hernando trieb es nun sachte an, und das Maultier reihte sich gehorsam zwischen die übrigen Lasttiere ein. Als Hernando aufsah, traf sein Blick den seines Stiefvaters. Ibrahim hatte sich auf seinem Pferd umgedreht und ihn aufmerksam beobachtet. Wie immer wartete er nur darauf, dass Hernando einen Fehler machte, um ihn bestrafen zu können.
Sie nahmen den Weg hinauf in Richtung Alcútar. Auf dem schmalen Bergpfad konnten sie nur hintereinander gehen, und sie hatten Juviles gerade hinter sich gelassen, als ein Ruf über den Schluchten und Gipfeln erklang. Hernando blieb stehen. Ein Schauder lief ihm den Rücken hinab. Wie oft hatte ihm der alte Alfaquí davon erzählt! Trotz der Entfernung konnte der Junge Hamids Stimme erkennen. Sie klang klar und stolz, freudig und lebendig, zufrieden – wie an dem Tag, als ihm der Gelehrte den Krummsäbel des Propheten gezeigt hatte.
»Auf zum Gebet!« Das waren Hamids Worte, die er vermutlich von der Höhe des Kirchturms aus in die Landschaft rief.
Der Ruf glitt über die steilen Hänge, brach sich an den Felswänden und erfüllte das gesamte Tal, von der Sierra Nevada bis zur Sierra Contraviesa, bevor die Worte in den Himmel emporstiegen. Seit sechzig Jahren war der Ruf des Muezzins hier nicht mehr erklungen!
Die Männer hielten inne. Hernando machte den Stand der Sonne aus: Es war die richtige Zeit.
»Es gibt keine Kraft und auch keine Macht, außer bei Gott, dem Erhabenen und Großartigen«, flüsterte er im Gebet mit den anderen Männern. Das war die Antwort auf den Ruf, die sie jeden Tag, sei es beim Nachtgebet oder beim Mittagsgebet, unter größter Geheimhaltung in ihren Häusern rezitierten.
»Allah ist groß!«, rief Ibrahim. Er stellte sich in die Steigbügel und schwenkte die Arkebuse über seinem Kopf.
Hernando erschrak angesichts der übermächtigen Gestalt seines Stiefvaters und dessen erbarmungslosen Gesichtsausdrucks.
Doch sein Gebet vermischte sich sofort wieder mit dem der übrigen Männer. Ibrahim bedeutete ihnen mit seiner Arkebuse aufzubrechen. Einer der Männer fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen, bevor er weiterging. Hernando hörte, wie er die Nase hochzog und mehrfach hüstelte. Mit Hamids Ruf in den Ohren trieb er die Maultiere weiter.
In Alcútar wurden sie mit den gleichen Festen, Gesängen und Tänzen empfangen wie in Juviles. Sie erfuhren bald, dass Partal und seine Männer sich zunächst im Dorf bewaffnet hatten und dann ins nah gelegene Narila – Partals Geburtsort – weitergezogen waren, ohne Ibrahims Ankunft abzuwarten.
Wie alle Dörfer der höher gelegenen Alpujarras bestand auch Alcútar aus kleinen weiß getünchten Häusern mit Flachdächern und einem Gewirr enger Gassen, die sich über den steilen Hang erstreckten. Ibrahim steuerte auf die Kirche zu.
Vor dem Portal war eine Gruppe von etwa zwei Duzend Altchristen versammelt, die von Morisken bewacht wurden. Diese waren mit Stöcken bewaffnet und traktierten ihre Gefangenen mit Rufen und Schlägen. Hernandos Blick fiel auf ein junges Mädchen, das mit seinen hellblonden Locken aus der Gruppe der Christen hervorstach und verschüchtert zu Boden sah. Neben der Kirche lag die Leiche des örtlichen Pfründenbesitzers und war dem Spott der Morisken ausgeliefert, die den leblosen Körper anspuckten und mit Füßen traten. Neben der Leiche kniete ein junger Mann, der verzweifelt versuchte, die Blutung an seinem Armstumpf zu stillen, die ihm den sicheren Tod bringen würde. Das warme Blut bahnte sich bereits seinen Weg durch den Schnee am Boden. Einige Schritt weiter spielte ein Hund mit der abgehackten Hand des jungen Mannes und biss vor den Augen einiger Moriskenkinder immer wieder aufgeregt hinein.
»Fangt an, die Beute aufzuladen!«
Ibrahims Befehl kam just in dem Moment, als ein Kind dem Hund das makabre Spielzeug wegnahm und dem Verstümmelten vor die Füße warf. Der Hund lief hinterher, aber noch ehe er den Invaliden erreichte, brach eine Frau in Gelächter aus und spuckte dem jungen Mann ins Gesicht, als dieser flehend seinen Armstumpf hochhielt. Sie trampelte auf der Hand herum und warf sie dem Hund erneut zum Fraß vor.
Hernando schüttelte den Kopf und folgte den Männern in die Kirche. Erst jetzt sah er, dass das Christenmädchen mit dem hellen Haar, das vom Schneeregen völlig durchnässt war, nicht einfach zu Boden blickte, sondern den Leichnam des Pfründenbesitzers keinen Moment aus den Augen ließ.
Wenig später trug der Junge einige goldbestickte Seidengewänder aus der Kirche und legte sie auf den Haufen mit den erbeuteten Sachen vor die Kirchentür. Dann nahm er sich zum Schutz gegen die Kälte einen Mantel aus der Beute, die aus den geplünderten Häusern der Christen stammte. Ibrahim, immer noch hoch zu Ross, verzog das Gesicht.
»Soll ich etwa erfrieren?«, verteidigte sich Hernando. Als die Sonne unterging und sich über den Gipfeln der Alpujarras ein rotes Band am Himmel abzeichnete, waren die Quersäcke der Maultiere voll bepackt. Der leblose Körper des verstümmelten Mannes lag über dem Leichnam des Pfründenbesitzers, daneben die Reste der abgehackten Hand, von denen der Hund irgendwann abgelassen hatte. Die Christen standen noch immer zusammengedrängt vor der Kirche und wurden langsam unruhig. Da ertönte der kraftvolle Ruf des Muezzins. Die Morisken breiteten die Seiden- und Leinengewänder auf dem eisigen Lehmboden aus und knieten nieder.
Das leuchtende Abendrot wich bald einem tiefschwarzen Himmel, und gerade als das Abendgebet beendet war, kehrten Partal und seine Monfíes nach Alcútar zurück. Die Gruppe war etwa dreißig Mann stark. Einige von ihnen waren beritten, andere gingen zu Fuß, aber alle waren mit Schwertern, Armbrüsten oder Arkebusen bewaffnet, trugen warme Kleidung und den allgegenwärtigen Dolch am Gürtel. In Narila hatten sich dem Monfíes-Anführer weitere Männer angeschlossen, die nun die dort gefangenen und nach Alcútar verschleppten Christen bewachten. Den Monfíes schien weder die Kälte noch der Schneeregen etwas auszumachen: Sie plauderten und lachten unbeschwert. Hernando beobachtete, wie hinter den Männern die gefangenen Christen und schließlich die Maultier-kolonne mit der Beute hinterhertrottete.
Die neu hinzugekommenen Christen vergrößerten die bereits stattliche Ansammlung von Gefangenen vor der Kirche. Die Morisken reagierten auf jegliches Gespräch unter ihnen sofort mit Schlägen, und bald herrschte in der Gruppe wieder Schweigen. Die Kinder liefen zwischen den Monfíes hin und her, sie zeigten auf ihre Dolche und auf ihre Pferde, und sie zogen mit stolzgeschwellter Brust von dannen, wenn ihnen ein Monfí das Haar zerzaust hatte. Ibrahim und der Büttel von Alcútar hießen Partal willkommen und stellten sich etwas abseits, um sich mit ihm zu besprechen. Hernando beobachtete, wie sein Stiefvater erst auf ihn und dann auf die beladenen Maultiere deutete und wie Partal daraufhin zustimmend nickte. Danach zeigte Partal auf die Tiere mit der Kriegsbeute aus Narila, und er machte Anstalten, ihren Treiber herbeizurufen, was Ibrahim aber offensichtlich missfiel. Trotz der Entfernung und der Dunkelheit, die durch das Licht einiger weniger Fackeln erhellt wurde, bemerkte Hernando, dass die beiden Männer miteinander stritten. Ibrahim unterstrich seine Worte mit wütenden Handbewegungen und schüttelte energisch den Kopf: Offensichtlich sprachen sie über den anderen Maultiertreiber. Partal schien Ibrahim besänftigen und von seiner Meinung überzeugen zu wollen. Schließlich wurden sie sich doch einig, und der Monfí-Anführer rief den neu angekommenen Maultiertreiber zu sich, um ihm seine Anweisungen zu erteilen. Der Mann aus Narila reichte Ibrahim die Hand, aber dieser schlug sie aus und schaute ihn misstrauisch an.
»Hast du verstanden, was ich dir gesagt habe?«, fragte ihn Ibrahim von oben herab und behielt Partal dabei im Auge. Der Maultiertreiber aus Narila nickte. »Du hast einen schlechten Ruf. Und deshalb will ich dir eines sagen: Es wird hier keine Probleme geben, weder mit dir noch mit deinen Tieren, noch damit, wie du mit ihnen umgehst. Und ich habe keine Lust, dich daran erinnern zu müssen«, fügte er abschließend hinzu.
Der Mann hieß eigentlich Cecilio, aber hier war er für alle Ubaid aus Narila. So stellte er sich auch Hernando mit stolzgeschwellter Brust vor, nachdem er auf Ibrahims Anweisung seine Lasttiere zu Hernandos Tieren geführt hatte.
»Ich heiße Hernando«, sagte der Junge.
Ubaid wartete einen Augenblick.
»Hernando?«, fragte er, als er merkte, dass der Junge dem nichts mehr hinzufügen wollte.
»Ja, nur Hernando«, antwortete dieser mit fester Stimme.
Ubaid, der einige Jahre älter war und bereits Erfahrung als Maultiertreiber hatte, stieß ein höhnisches Lachen aus, drehte dem Jungen den Rücken zu und kümmerte sich um seine Tiere.
Hoffentlich erfuhr er niemals seinen Spitznamen, dachte Hernando und spürte, wie sich sein Magen verkrampfte. Vielleicht sollte er sich auch einen muslimischen Namen zulegen?
In der Nacht wurden das Getreide und die anderen erbeuteten Nahrungsmittel aufgebraucht, um den Sieg gebührend zu feiern. Alle Ortschaften, in denen Morisken lebten, hatten sich dem Aufstand angeschlossen, verkündete Partal überschwänglich. Jetzt fehlte nur noch Granada!
Die Honoratioren des Dorfes bewirteten die Monfíes wie Könige. Die Christen hatte man in die Kirche gesperrt. Wie Hamid in Juviles sollte auch der hiesige Alfaquí sie dazu bringen, sich von ihrem Glauben loszusagen. Hernando und Ubaid blieben bei den Tieren und bewachten die Beute. Doch die Frauen in Alcútar hatten die beiden nicht vergessen und brachten ihnen reichlich zu essen und vor allem zu trinken. Hernando aß sich satt, ebenso Ubaid, aber nachdem dieser seinen Magen zufriedengestellt hatte, wollte er auch seine Triebe befriedigen, und Hernando beobachtete, wie er begann, einige der Frauen zu umwerben. Hernando wandte den Blick ab und setzte sich etwas abseits.
»Was ist denn mit dir los? Hast du vielleicht Angst vor ihnen?«, fragte sein Gefährte. Das üppige Festmahl und die weibliche Gesellschaft hatten seine Laune erheblich verbessert. »Du musst doch keine Angst haben. Sie tun dir schon nichts, oder?«, sagte er spöttisch und ging langsam auf eine der Frauen zu.
Die Frau lachte, als Hernando bei Ubaids Worten rot wurde. Der Maultiertreiber aus Narila sah ihn arglistig an.
»Oder hast du etwa Angst vor dem, was dein Stiefvater sagen könnte?«, legte er nach. »Sieht nicht so aus, als würdet ihr euch besonders gut …«
Hernando ging nicht darauf ein.
»Ja, mich überrascht das nicht«, sagte Ubaid noch. Er setzte ein verschwörerisches Lächeln auf, das sein ohnehin derbes Gesicht noch unansehnlicher machte. »Nur keine Angst, Kleiner, im Moment macht er sich bei den anderen wichtig. Dabei geht es hier bei uns beiden gerade um die wirklich wichtigen Dinge im Leben. Oder?«
In dem Moment forderte die Frau, die Ubaid die ganze Zeit umgarnt hatte, seine volle Aufmerksamkeit. Sie warf Hernando einen vielsagenden Blick zu, den der Junge aber nicht zu deuten wusste, und versenkte Ubaids Kopf zwischen ihren Brüsten.
Spät in der Nacht verschwand Ubaid mit der Frau. Als Hernando allein war, erinnerte er sich an die Kommentare des jungen Sakristans aus Juviles. Andrés hatte sich bei ihren vielen Sitzungen zum Katechismusunterricht in der Sakristei über das Liebesleben der Neuchristinnen ausgelassen.
»Die Moriskinnen ergötzen sich an den Liebesspielen mit ihren Ehemännern. Sie kennen keinerlei Maß, und sie treiben es auch mit anderen Männern! Denn eine muslimische Ehe ist eigentlich gar keine: Sie ist nur ein einfacher Vertrag, so wie der Kauf einer Kuh.« Der Sakristan sprach zu Hernando, als wäre er ein Altchrist, als wäre er ein Nachfahre frommer Christen und nicht der Sohn einer wollüstigen Moriskin. »Männer wie Frauen geben sich hemmungslos der Fleischeslust hin, und das missfällt unserem Herrn Jesus. Deshalb sind sie alle so fett und so dunkelhäutig, denn ihr einziger Lebensinhalt besteht darin, ihren Männern Lust zu bereiten. Sie treiben es mit ihnen, als wären sie läufige Hündinnen, und wenn ihre Männer nicht da sind, begehen sie Ehebruch und sündigen mit Völlerei und Trägheit. Sie plaudern den ganzen Tag miteinander, und wenn ihre Männer wiederkommen, empfangen sie sie mit offenen Armen.«
Es gibt doch auch dicke Christinnen, hätte Hernando am liebsten eingewandt. Und die Haut von einigen Christinnen ist noch viel dunkler als die der Moriskinnen. Aber er hatte geschwiegen, wie immer, wenn sie so miteinander sprachen.
Der Weihnachtstagsmorgen in der Sierra Nevada war sonnig und eiskalt.
»Sie sind stur, sie halten an ihrem Glauben fest«, berichtete der Alfaquí von Alcútar den Monfíes, die sich vor der Kirche eingefunden hatten. »Wenn ich ihnen vom wahrhaften Gott und dem Propheten erzähle, dann fangen sie plötzlich alle mit ihren eigenen Gebeten an. Wenn ich ihnen Schläge androhe, flehen sie Christus an. Wir haben ihnen Prügel verabreicht, aber je mehr wir auf sie einschlagen, desto inbrünstiger rufen sie nach ihrem Gott. Wir haben ihnen ihre Ketten und Kreuze vom Hals gerissen, aber sie machen sich nur über uns lustig und bekreuzigen sich.«
»Sie werden schon noch nachgeben«, murmelte Partal vor sich hin. »Die Bewohner von Cuxurio de Bérchules haben sich gestern Nacht dem Aufstand angeschlossen. Seniz und einige andere Anführer warten dort bereits auf uns. Los, packt die Beute zusammen. Die Christen nehmen wir mit nach Cuxurio. Schafft sie aus der Kirche.«
Die Monfíes trieben die knapp achtzig Christen unter Rufen, Schlägen und Tritten vor die Kirche. Die Frauen und Kinder weinten, viele blickten Hilfe suchend zum Himmel und bekreuzigten sich, als sie draußen auf die Morisken stießen.
Partal wartete einen Moment, bis die Gruppe zum Stillstand gekommen war, und ging auf sie zu.
»Möge der Herr dir …!«
Der Monfí-Anführer versetzte dem Christen, der zu einer Drohung angesetzt hatte, einen kräftigen Hieb mit dem Kolben seiner Arkebuse. Der Mann sackte in die Knie, Blut rann aus seiner gebrochenen Nase. Eine Christin, vermutlich seine Ehefrau, eilte ihm zu Hilfe, aber Partal streckte auch sie mit einem Schlag ins Gesicht nieder. Dann kniff er die Augen zusammen, sodass seine dichten Augenbrauen eine einzige, bedrohliche Linie bildeten. Alle Morisken von Alcútar hatten ihm zugesehen. Die Christen schwiegen.
»Zieht euch aus!«, befahl Partal schroff. »Alle Männer und Jungen, die älter als zehn Jahre sind, sollen ihre Kleider ausziehen!«
Die Christen sahen einander zweifelnd an. Sollten sie sich wirklich bei diesen eisigen Temperaturen und vor den Augen ihrer Frauen, Nachbarinnen und Töchter entblößen? Aus der Mitte der Gruppe kamen einige Proteste.
»Ausziehen!«, fuhr Partal einen alten Mann mit schütterem Bart an, der vor ihm stand und einen Kopf kleiner war als er. Der Alte bekreuzigte sich als Antwort. Daraufhin zog der Monfí langsam sein langes, schweres Schwert aus der Scheide und schnitt mit dessen scharfer Spitze in die Haut am Kehlkopf des Christen, sodass ein wenig Blut floss. »Tu, was ich dir sage!«
Der Alte sah Partal trotzig an. Der stieß, ohne zu zögern, sein Schwert tief in den Hals des Mannes.
»Ausziehen!«, befahl er dem nächsten Christen. Dieser erblasste beim Anblick der blutigen Klinge und begann zögerlich sein Hemd aufzuknöpfen, während der Alte neben ihm im Schnee mit dem Tod rang. »Alle! Sofort!«, befahl Partal.
Die meisten Frauen senkten den Blick, andere hielten ihren Töchtern die Augen zu. Die anwesenden Morisken lachten und tobten.
Ubaid hatte sich das Schauspiel nicht entgehen lassen und begab sich nun sichtlich erheitert zu den Tieren. Hernando folgte ihm, sie mussten schließlich ihren Aufbruch vorbereiten.
»Die armen Tiere sind ganz schön bepackt!«, sagte der Maultiertreiber aus Narila bedeutungsvoll. »Und niemand weiß genau, was sie tragen. Ein Glück für uns arme Treiber: Sollte zufälligerweise irgendwas verloren gehen, würde es niemand bemerken.«
Hernando drehte sich abrupt um. Was meinte Ubaid damit? Aber der war schon wieder in seine Arbeit mit dem Gepäck vertieft, so als wären seine Worte völlig belanglos. Hernando hörte sich, ohne darüber nachzudenken, mit entschiedener Stimme sagen:
»Hier geht nichts verloren! Verstanden? Das ist die Kriegsbeute unseres Volkes!«
Keiner der beiden sagte noch etwas.
Schließlich verließen sie Alcútar: Ibrahim führte mit Partal und seinen Monfíes den Zug an. Hinter ihnen gingen die Christen, mehr als vierzig nackte Männer mit auf dem Rücken gefesselten Händen, barfuß und starr vor Kälte. Hinter den Männern kamen die Frauen und Kinder. Die etwa zwanzig mit der Beute geladenen Lasttiere bildeten unter Hernandos und Ubaids Aufsicht die Nachhut. Über den ganzen Zug verteilt, marschierten die neu angeworbenen Morisken, die sich dem Aufstand angeschlossen hatten. Sie beschimpften die Christen und drohten ihnen tausend schreckliche Folterqualen an, wenn sie nicht von ihrem Glauben abfielen und sich bekehren ließen.
Das Dorf Cuxurio de Bérchules lag zwar nur etwa eine Meile von Alcútar entfernt, aber der felsige Bergpfad machte den nackten Füßen der Christen schwer zu schaffen, und Hernando konnte auf den Steinen bald Blutflecken erkennen. Plötzlich fiel jemand zu Boden: Den dünnen Beinen und der fehlenden Körperbehaarung nach zu urteilen, war es ein Junge. Die Männer waren gefesselt, also konnte ihm keiner helfen. Die Frauen versuchten es zwar, aber einige Morisken hinderten sie daran und traten nach dem Jungen. Da sah Hernando, wie sich das Mädchen mit dem hellblonden Haar schützend über den Jungen warf.
»Lasst ihn! Bitte!«, schluchzte sie.
»Ha! Bitte doch deinen Gott um Hilfe!«, höhnte ein Moriske.
»Gebt euren Glauben auf!«, forderte ein anderer.
Der gestürzte Junge, das Mädchen und die vier Morisken sorgten dafür, dass das Leittier der Maultierkarawane stehen blieb.
»Was ist hier los?« Hernando konnte Ubaids Stimme dicht hinter sich hören. »Bringt sie um, wenn sie nicht weitergehen!«
Hernando konnte zwischen den Beinen der Männer den kauernden Jungen erkennen, und auch sein angespanntes Gesicht und die zugekniffenen Augen. Ohne nachzudenken sagte er:
»Wenn ihr sie umbringt, könnt ihr sie nicht … Dann können wir sie nicht zum wahren Glauben bekehren.«
Die vier Männer drehten sich auf der Stelle um. Sie waren alle um einiges älter als Hernando.
»Hast du hier was zu sagen?«
»Was gibt euch das Recht, sie umzubringen?«, fragte Hernando zurück.
»Kümmere du dich lieber um deine Tiere, Kleiner, sonst …«
Hernando spuckte auf den Boden. »Warum fragt ihr den denn nicht, was ihr machen sollt?«, schlug er vor und zeigte auf den breitschultrigen Partal. »Wenn er es gewollt hätte, hätte er sie doch gleich in Alcútar umgebracht, oder?«
Die vier jungen Männer tauschten kurze Blicke aus und schlossen sich dann wieder dem Zug an, nicht ohne vorher dem am Boden kauernden Jungen noch ein paar Fußtritte zu versetzen. Hernando zog den Jungen mithilfe des hellblonden Mädchens an den Wegrand und trieb die Tiere weiter. Er wartete auf die Alte. Hernando und das Mädchen legten die Arme des Jungen über ihre Schultern und hoben ihn an. Nun hing er erschöpft zwischen den beiden und schnappte nach Luft. Ubaid beobachtete Hernando, ohne ein Wort zu verlieren. Schließlich gelang es Hernando und dem Mädchen, den kleinen Jungen auf die Alte zu hieven.
»Warum machst du das?«, fragte Hernando. »Sie hätten dich umbringen können.«
»Er ist mein Bruder«, antwortete das Mädchen mit tränenüberströmtem Gesicht. »Er ist mein einziger Bruder. Er ist ein guter Mensch«, sagte sie noch, als bäte sie um Gnade.
»Ich heiße Isabel«, sagte das Mädchen später, als sie neben der Alten herging und dabei ihren Bruder – er hieß Gonzalico – stützte. Sie sprachen nur wenig, aber Hernando entging nicht die tiefe Zuneigung der Geschwister zueinander.
In Cuxurio de Bérchules bot sich ihnen das gleiche Bild wie in allen anderen aufständischen Dörfern der Alpujarras: Die Kirche war geplündert und entweiht, die Morisken feierten im Freudentaumel, und die Christen waren gefangen genommen worden. Im Ort wurde Partal bereits von einem weiteren Trupp Monfíes und deren Anführer Lope El Seniz erwartet. Man hatte beschlossen, den Christen noch eine letzte Chance zu geben. Aber nach den jüngsten Erfahrungen in Alcútar gaben sie den Gelehrten diesmal die Anweisung, den Christen die Schändung und den Tod ihrer Frauen anzudrohen, wenn sie sich nicht zum Islam bekannten.
»Er weiß so viel wie ein kleiner Alfaquí«, brüstete sich Ibrahim vor Partal und Seniz angesichts des merkwürdigen Anblicks seines Stiefsohns und der Alten, auf der ein blasser Christenjunge saß, flankiert von der hellblonden Isabel. »Kennt ihr Hamid aus Juviles?« Beide nickten. Wer in den Alpujarras kannte nicht den alten Hamid? »Hernando ist sein Schützling. Hamid hat ihn im wahren Glauben unterwiesen.«
Partal kniff die Augen zusammen. Die Bekehrung eines so kleinen Jungen, dachte er bei sich, könnte den Widerstand dieser sturen Christen vielleicht schneller brechen als alle Drohungen.
»Komm her!«, befahl er. »Wenn das stimmt, was dein Stiefvater behauptet, bleibst du heute Nacht bei dem kleinen Christen und bringst ihn dazu, seinen Glauben aufzugeben.«
Während die Morisken in Cuxurio de Bérchules auf der Zwangsbekehrung der Christen beharrten, erfuhr die Rebellion in den Alpujarras ihren ersten entscheidenden Rückschlag. Am Weihnachtsabend hatten sich in Granada weder die Morisken des Albaicín-Viertels noch die in der Vega dem Aufstand angeschlossen. Farax, der reiche Färber, zog mit seinen hundertachtzig als Türken verkleideten Männern durch den Albaicín von Granada. Sie sollten die Bewohner zum Aufstand anstacheln. Doch als sie durch die engen Gassen des alten Moriskenviertels liefen, blieben die Türen der Bewohner verschlossen, und die christlichen Truppen verließen nicht wie geplant ihr Quartier in der Alhambra.
»Wie viele seid ihr überhaupt?«, konnte man durch einen Fensterspalt hören.
»Sechstausend«, log Farax.
»Ihr seid zu wenige, und ihr habt es zu eilig.«
Dann wurde das Fenster wieder geschlossen.