FÜNFZIG

Mein Stiefvater kam vor Gericht und erhielt sechs Mal lebenslänglich ohne Aussicht auf Bewährung. Er würde in dem hundert Jahre alten Hochsicherheitsgefängnis sterben, das nahe der Staatsgrenze von Illinois und Missouri lag. Als das Urteil gesprochen wurde, sah ich ihn hoffentlich zum letzten Mal. Während des Prozesses hatte er meist mit gesenktem Kopf gesessen und kein Wort gesagt. Nach dem Schuldspruch stand er auf, das linke Bein war geschient. Zwei Polizisten legten ihn in Ketten. Währenddessen sah er sich im Gerichtssaal um. Ich wollte mich davonstehlen, doch ich blieb. Sein Blick streifte mich, wanderte weiter und kehrte zu mir zurück. Sein Gesicht war eingefallen und vernarbt, das Haar aus der Stirn nach hinten gestriegelt. Seine Lippen formten Worte, die ich nicht verstand. Er hob die Fesseln. Ich schaute auf seine kräftigen Hände und Arme und dann in die Augen, die mich als Kind geängstigt hatten. Ich wollte das Monster erkennen, sah aber nur einen alten Mann. Ich wollte wütend sein, doch das Einzige, was ich empfand, war Trauer. Vielleicht hatte Sarah recht. Vielleicht war ich mit ihm fertig.

Wir trafen uns in Mustard’s Last Stand, bestellten uns Pommes und setzten uns in den Biergarten.

»Wie war’s?«, fragte sie.

»Es hat einfach stattgefunden. Er wurde verurteilt, und jetzt gibt es ihn nicht mehr.«

»Bist du froh, dass du im Gericht warst?«

»Ich denke schon. Es hat mir irgendein Gefühl gegeben. Als wäre ich an einem Wendepunkt angelangt.«

»Ab jetzt wird alles besser.«

»Ich weiß.«

Sarah tastete nach meiner Hand, unsere Finger verschränkten sich ineinander. »Möchtest du darüber reden?«

»Ich glaube nicht. Heute nicht.« In dem Wind, der durch den Biergarten wehte, lag schon ein erster Hauch Kälte. Ich sah auf meine Uhr. »Wann geht dein Flug?«

»In drei Stunden.«

»Ich war noch nie im Westen«, sagte ich. »Aber ich wette, dir wird es dort gefallen.«

»Kommunikationswissenschaften in Berkeley? Ja, die Seminare sollen hervorragend sein. Und San Francisco ist auch nicht weit entfernt.«

»Ja.«

Sie legte den Kopf zur Seite und hielt meinen Blick fest. »Was ist?«

»Nichts.«

»Lüg nicht.«

»Du wirst mir fehlen.« Als ich es sagte, kam ich mir nackt und verletzlich vor.

»Du kommst mich doch besuchen.«

»Es wird aber nicht mehr dasselbe sein.«

»Das fände ich gar nicht so schlecht.« Sie grinste, und ich musste lachen. Die Welt drehte sich ein kleines Stück weiter.

»Im Dezember bin ich wieder hier«, sagte sie.

»Das halte ich für einen Fehler.«

»Darüber haben wir schon gesprochen. Mein Entschluss steht fest.«

Als Marty Coursey in Sarahs Wohnung einbrach, hatte er einen Polizisten als Komplizen, der auf dem Spiegel in Sarahs Schlafzimmer einen klaren Daumenabdruck hinterlassen hatte. Rodriguez hatte ihr versprochen, sich um den Mann zu kümmern und ihn in aller Stille aus dem Verkehr zu ziehen. Doch Sarah bestand auf einem Gerichtsverfahren und ließ sich von niemandem beirren.

»Weißt du auch, warum?«

»Nein, das weiß ich immer noch nicht.«

»Ich glaube an das System. Und daran, dass man innerhalb seiner Grenzen agieren muss. Selbst wenn es nicht perfekt ist und es mitunter Schweine gibt, die davonkommen. Deshalb möchte ich, dass dieser Mann angeklagt wird und die Geschworenen die Beweise sehen, die gegen ihn sprechen.«

»Und was ist, wenn er freigesprochen wird?«

»Dann mache ich es so, wie du es getan hast. Ich werde gegen meine Dämonen angehen. Und eines Tages werde ich von ihnen befreit sein.«

»Hast du nicht mal gesagt, dass man seiner Vergangenheit nie entkommen kann?«

»Doch, das habe ich. Deshalb muss man lernen, sie zu akzeptieren.«

Ich gab mich geschlagen. Diese Frau hatte auf alles eine Antwort. »Du wirst mir fehlen, Sarah.«

»Wie oft willst du das noch sagen? Du kommst zu Besuch. Genauso wie Jake. Wo steckt er überhaupt?«

»Mir hat er gesagt, dass ihr euch gestern Abend schon voneinander verabschiedet habt.«

»Wir haben zusammen gegessen. Lass mich raten. Jake muss arbeiten.«

»Und das rund um die Uhr.«

Skylar Wingate hatte Jake zu einem Gebiet zurückgeführt, dass er wahrscheinlich nie hätte verlassen sollen. Er arbeitete als Anwalt für die Sozialfürsorge des Cook County und würde sein Leben lang für Kinder kämpfen, um die sich sonst niemand kümmerte. Einen Besseren konnte ich mir für die Aufgabe nicht denken.

»Trefft ihr euch in dieser Woche?«, fragte Sarah.

»Wir wollten heute Abend was trinken gehen.«

»Gut.«

Ich aß ein paar Pommes und sah noch einmal auf meine Uhr. »Bist du so weit?«

Sie seufzte. »Ja, es wird Zeit.«

Wir rührten uns nicht von der Stelle. Auf der Central brauste ein Wagen vorüber. Dann noch einer.

»Ich will nicht wieder sagen, dass du mir fehlen wirst.«

Sarah beugte sich vor und gab mir einen Kuss. »Ich hab was für dich.« Sie hob ihre Handtasche vom Boden auf und zog daraus einen kleinen weißen Briefumschlag hervor. »Erinnerst du dich noch an die Nacht am Strand?«

»O ja.«

Die Antwort trug mir ein typisches Sarah-Lächeln ein. »Das meine ich nicht – obwohl das auch ganz wundervoll war. Weißt du noch, wie du gesagt hast, der Mensch solle nie über sich hinausstreben?«

»Und dabei Browning falsch zitiert habe und du mich verbessert hast? Klar weiß ich das noch.«

»Das hier ist von Washington Irving. Ich habe es gestern gelesen. Dabei habe ich an dich gedacht.«

Sie reichte mir den Umschlag. Ich betrachtete die Schnörkel und Schwünge, die meinen Namen bildeten, dachte an die Hand, die sie geformt hatte, und dass sie einem Menschen gehörte, der mich ohne Wenn und Aber akzeptierte. Dann öffnete ich den Umschlag und nahm die einzelne Seite heraus. Ich las sie im schwächer werdenden Licht des Tages.

»Tränen haben etwas Heiliges. Sie sind kein Zeichen von Schwäche, sondern von Kraft. Sie sprechen beredter als zehntausend Zungen. Sie sind die Verkünder großen Kummers, tiefer Reue und unaussprechlicher Liebe.«

»Vor deinen Tränen darfst du dich nicht fürchten«, sagte Sarah. »Ich werde mich auch nicht vor meinen fürchten, das verspreche ich dir. Ist das ein Wort?«

»Für immer und ewig.«

Ich küsste Sarah. Sie fing an zu weinen. Und wir mussten lachen, weil es so verrückt und ironisch war. Dann war es plötzlich so spät, dass wir sicher waren, sie würde ihren Flug verpassen. Deshalb stopften wir unsere Gefühle in Sarahs Reisetaschen hinein, verstauten sie in meinem Wagen, und dann waren wir auf dem Weg zum O’Hare Airport. Ich dachte, das ist jetzt das Ende der Dinge, wie sie waren. Und der Anfang von etwas anderem, was immer das auch sein mochte.