ZWÖLF
Der Aufzug kam klappernd zum Stehen. Der Alte seufzte und zog das Scherengatter auf. Ich trat als Erster hinaus. Havens folgte mir dicht auf den Fersen. Wir waren im zweiten Stock des Asservatenlagers, in dem die Beweismittel von Cook County aufbewahrt wurden. Staub kitzelte in meiner Nase, und ich erahnte die gewaltigen Dimensionen des Raumes. Der Alte knipste eine Taschenlampe an und spießte uns mit ihrem Lichtstrahl auf.
»Ihr kommt also von der Medill.«
Ich nickte. »Wir untersuchen einen Mordfall.«
Er drückte die Taschenlampe an seine Brust und machte aus seinem Kopf eine grinsende Kürbislaterne. »Wart ihr schon mal hier?«
Ich schüttelte den Kopf. Er keuchte ein Lachen hervor und schlurfte mit seinem Licht davon.
Havens’ Stimme war wie eine kalte Strömung in einem dunklen Fluss. »Stell dich einfach dumm. Dann wird ihm langweilig und er haut ab. Anschließend können wir uns hier in Ruhe umsehen.«
Irgendwo in der Finsternis ertönte ein Klicken, gefolgt von leisem Summen. Lichtbündel fielen aus der Decke und warfen auf den rauen Ziegelwänden schiefe Schatten. Wir standen am Ende eines Raumes, der etwa so lang war wie ein Football-Feld. Grüne Regalwände bildeten drei Zweierreihen, die den Raum durchzogen und bis zur Decke reichten. Die Regale waren vollgestopft mit Kartons jeder Größe und Farbe. Einige waren beschriftet und fest mit Klebeband umwickelt, andere waren geplatzt oder aufgerissen, mit hervorquellendem Inhalt. Zwischen den Kartons steckten gefüllte Plastiksäcke oder einzelne Gegenstände. Auf den ersten Blick erkannte ich ein Fleischermesser, einen Klodeckel und einen Satz Hämmer. Ich nahm einen schwarzen Eisentopf heraus, ohne Identifikationsnummer oder sonst irgendeinen Nachweis.
»Was meinst du, was das ist?«, fragte ich Havens.
»Eine Mordwaffe.« Er hielt den Papierstapel hoch, der neben dem Topf gelegen hatte. »
»Hier steht, dass Jessica Watson am 8. Juli 1978 kochendes Wasser über ihren Ehemann geschüttet hat. Er starb an den Verbrennungen. Jessica behauptete, dass er sie angegriffen und sie aus Notwehr gehandelt habe.«
»Und dann?«
Havens durchblätterte die Seiten. »Während des Prozesses wies die Anklage darauf hin, dass man so gut wie überall auf dem Oberkörper des Mannes Verbrennungen zweiten und dritten Grades gefunden hatte, jedoch nicht an seinen Handgelenken.« Er grinste. »Rate mal, warum.«
»Keine Ahnung.«
»Sie hatte ihn gefesselt, bevor sie das Wasser über ihn kippte.«
»Und das Seil hat seine Handgelenke geschützt?«
Havens reichte mir die Zusammenfassung. »Jessica bekam lebenslänglich. Ziemlich gnädig, wenn du mich fragst.«
Ich überflog den Bericht. Danach sah ich den Topf erstmals voller Achtung an.
»Na, was Schickes gefunden?« Unser Chef war zurück, begleitet von dem Geruch von Schweiß und billigem Tabak. Er nahm mir den Eisentopf ab und stellte ihn wieder ins Regal. »Ohne Handschuhe fasst ihr mir hier nichts an. Was habt ihr gesagt, um welches Jahr es euch geht?«
»1988«, antwortete Havens.
»Da lang.« Er führte uns durch den halben Raum. »Die ersten beiden Ziffern der Fallnummer geben das Jahr des Verbrechens an. ’88 beginnt hier. Und zieht euch gefälligst was über.« Er deutete auf eine Schachtel Latexhandschuhe oben auf einem Regalbrett. »Kopierer steht am Aufzug. Wenn ihr fertig seid, bringt ihr eure Kopien allesamt nach unten, und ich trage euch wieder aus.«
Kurz darauf rumpelte der Aufzug zurück in die Tiefe. Wir waren allein. Allein mit den Mördern.
»Warum hast du ihm das Jahr 1988 genannt?«, erkundigte ich mich.
»Weil er nicht wissen sollte, wohinter wir tatsächlich her sind.«
»Ist das nicht ein bisschen paranoid?«
»Komm mit.« Havens führte mich eine Regalwand hinunter und die nächste hoch. Links und rechts spulte sich eine Dekade Chicagoer Verbrechen ab, ehe wir schließlich eine Reihe Kartons erreichten, deren Fallnummern mit »98« und »99« begannen. Wir trennten uns und übernahmen jeweils eine Reihe. Natürlich war Havens derjenige, der fand, wonach wir suchten.
»Hier.« Er zog einen weißen Karton hervor, der mit der Nummer 98-2425 beschriftet war. Auf dem Aufkleber stand »Mordfall Wingate«. Der Deckel war mit Klebeband befestigt. Havens holte das Messer hervor, das er am Abend zuvor im Wald hatte aufblitzen lassen.
»Du hast dich vorbereitet«, stellte ich fest.
Wortlos durchtrennte er den Klebestreifen. In dem Karton steckte eine Handvoll Akten, prall gefüllt mit Dokumenten.
»Ich dachte, Sarah folgt der Papierspur«, sagte ich.
»Sie sucht nach den Prozessunterlagen«, erwiderte Havens. »Was wir hier haben, dürften die Ermittlungsunterlagen sein.«
Ich zog eine Akte heraus. Sie enthielt mehrere Polizeiberichte aus der Zeit, als Skylar als vermisst galt, und eine Skizze seiner Wohngegend. Havens grub tiefer und fischte einen Klarsichtbeutel mit Beweismaterial heraus. Auf dem Anhänger standen das Datum des Leichenfunds und die gekrakelten Initialen eines Polizisten. Aus dem Beutel schaute uns in einem schmalen Holzrahmen das Bild eines Jungen an. Das Glas war gesprungen und zersplitterte sein Lächeln.
»Das kann unmöglich alles sein.«
»Was du nicht sagst.« Havens drehte den Karton um, und ich sah, was auf der Rückseite stand.
»Beweismaterial Wingate. 1 von 4.«
»Demnach haben wir einen Packen Dokumente, ein Foto und drei fehlende Kisten mit Beweismaterial«, sagte ich.
»Sieht so aus.« Havens hatte eine kleine Trittleiter entdeckt und stieg sie hoch.
»Was machst du da?«, fragte ich.
»Vielleicht wurden die anderen Kartons falsch abgestellt.« Er kramte oben auf dem Regal herum.
»Oder das Bezirksgericht hat sie vernichtet. Was ist mit dem Alten unten?«
»Was soll mit ihm sein?« Havens sah zu mir herunter. Er hatte Staub im Gesicht.
»Wir könnten ihn bitten, die Kartons für uns zu suchen.«
»Klar. Ich bin sicher, die haben hier alles im Computer.«
»Benimm dich nicht wie ein Arschloch.«
Havens stieg die Leiter hinunter und wischte sich einen dunklen Schweißfaden von der Stirn. »Jetzt mal im Ernst. Vertraust du diesem Typen etwa? Da oben ist nichts, auf dem ›Wingate‹ steht.«
»Du glaubst also, dass das Hemd verschwunden ist.«
»Hier ist es jedenfalls nicht, so viel steht fest.« Havens umfasste den Karton, den wir gefunden hatten, und trug ihn durch den Gang.
»Wohin gehst du?«, rief ich ihm nach.
Havens antwortete, ohne sich umzudrehen. »Ich will ein paar Kopien machen.«
Ich verteilte den Inhalt der Akten auf einem Tisch. Polizeiberichte, Zeugenaussagen, Skizzen des Tatorts, Protokolle der Ermittler.
»Die Cops bezeichnen so was als Mord-Akte«, sagte Havens und fing an, Kopien zu machen. Ich griff nach einem Autopsie-Bericht und blätterte durch die Seiten. Nach Aussage des Gerichtsmediziners hatte Skylar Wingate drei Stichwunden, keine von ihnen tödlich, und war, bevor er ertränkt wurde, mit einem langen grünen Strick gewürgt worden. Als die Polizei den Jungen fand, hatte er den Strick noch um den Hals.
»Warum ertränkt man jemanden im Fluss und zieht ihn wieder heraus, um ihn zu begraben«, sagte ich.
»Weil der Mörder auf Wasser fixiert war.«
»Wie kommst du darauf?«
»Nicht selten haben solche Typen ihre Rituale. Bestimmte Dinge, die sie bei jedem Mord tun müssen.«
Wir redeten über den toten Jungen, als wäre er ein Gegenstand gewesen. Aber in dem mit alten Kisten vollgestopften Asservatenlager wirkte das völlig normal.
»Glaubst du, der Junge in der Höhle und Skylar Wingate könnten von demselben Mann ermordet worden sein?«
Havens runzelte die Stirn. »Halte ich für unwahrscheinlich.«
»Warum?«
»Du hast es letzte Nacht selbst gesagt. Wingate wurde vor gut vierzehn Jahren umgebracht.«
»Ach, und die Höhle war zufällig in der Nähe?«
»Das habe ich nicht gesagt. Apropos, ist dir schon aufgefallen, dass über den Leichenfund nichts in der Zeitung stand?«
»Vielleicht hat er es nicht mehr in die Morgenausgabe geschafft.«
»Online war auch nichts zu finden«, sagte Havens.
»Du meinst, die Cops halten die Sache unter Verschluss?«
»Entweder das, oder sie ist ihnen egal.«
Ich widmete mich wieder dem Autopsie-Bericht über Wingate. Keine offenkundigen Hinweise auf einen sexuellen Übergriff, auch wenn der Gerichtsmediziner an den Schultern und am Hals des Jungen Verletzungen erkannt hatte, die möglicherweise Bisswunden darstellten. Ich legte den Bericht weg, griff nach einem kleinen quadratischen Umschlag und ertastete die festen Kanten von Fotos. Ich zog sie heraus.
»Fotos vom Tatort?«, erkundigte sich Havens.
Ich schüttelte den Kopf und ging den kleinen Packen durch.
»Was dann?«
Ich sah auf. Der Kopierer summte. Nach jedem Aufblitzen zog er einen breiten Lichtstreifen über Havens’ Gesicht. »Schau sie dir selbst an.« Ich reichte ihm das erste Foto. Darauf saß Skylar Wingate auf einer einfachen Pritsche, die Hände übereinandergelegt im Schoß. Sein Haar war nass und aus der Stirn nach hinten gekämmt. Sein Blick schien am Rand des Fotos nach einem vertrauten Gesicht zu suchen, nach jemandem, der ihn nach Hause brachte.
»Der Typ hat ihn fotografiert«, sagte ich. »Bevor er ihn umgebracht hat.«
Ich hielt Havens das nächste Foto hin. Wir rückten enger zusammen. Auf diesem Foto lag der Zehnjährige auf der Pritsche nackt auf dem Bauch, mit gefesselten Händen und Füßen. Mit verdrehtem Kopf sah er in die Kamera. Diesmal war der grüne Strick zu sehen, der um seinen Hals festgezurrt worden war. Die losen Enden wurden vom unteren Rand des Fotos abgeschnitten. Das Gesicht des Jungen wirkte ruhig. Die Augen waren zwar noch vor Furcht geweitet, aber er schien sich mit seinem Schicksal abgefunden zu haben. Wie ein ängstliches Lamm, das auf die Schlachtbank wartet. Bei den nächsten drei Fotos handelte es sich um Nahaufnahmen, die ich mit dem Blick lediglich streifte. Hervortretende Augen, als die Schlinge noch fester gezogen wurde. Ein geöffneter Mund. Ich hörte den Jungen röcheln und sah Havens an. Er wirkte meilenweit entfernt. Ich schob die Fotos fort.
»Alles okay?«, fragte Havens.
Ich nickte.
»Was für ein abartiger Wichser.« Havens ordnete die Fotos in der Reihenfolge an, in der sie vermutlich entstanden waren. »Er muss das Seil irgendwo oben befestigt und den Jungen mit der Schlinge nach und nach hochgezogen haben. Auf diese Weise konnte er Fotos machen, während der Junge kurz vorm Ersticken war.«
»Aber warum?«
»Aus demselben Grund, weshalb er die Leiche vergraben hat, statt sie im Fluss zu lassen. Er wollte den Tatort aufsuchen können, um sich am Anblick seines Opfers zu weiden. Genau wie bei den Fotos.«
Ich nahm die Fotos und hielt sie ins Licht, bevor ich sie zurück in den Umschlag steckte. Havens arbeitete wieder am Kopierer.
»Wie lange brauchst du noch?«, fragte ich mit belegter Stimme.
»Für die Kopien? Eine halbe Stunde. Vielleicht weniger. Warum? Hast du es eilig?«
»Eigentlich nicht.« In Wahrheit wollte ich nichts wie raus aus dieser verstauben Grabkammer – weg von den Hämmern und Stricken, den Autopsie-Berichten, in denen die Gewichte von Milzen, Herzen und Lebern standen, und den grauen Kartons voller Beweismaterial, die sich ringsum wie Särge türmten.
»Wenn wir fertig sind, muss ich in meine Wohnung zurück«, sagte Havens.
»Okay.«
»Kannst du den Kram in deinem Wagen mitnehmen?« Er zeigte auf den Stapel seiner Kopien.
»Warum nimmst du ihn nicht mit?«
Havens hörte auf zu kopieren. »Was ist eigentlich mit dir los?«
»Nichts. Ich bin nur nicht scharf darauf, noch länger hierzubleiben.«
»Ach.« Havens sah sich um, als fragte er sich, wie man es hier nicht schön finden konnte.
»Gut, ich nehme alles mit«, sagte ich. »Leg einfach einen Zahn zu, ja?«
Es dauerte eine gute Stunde, bis wir schließlich fertig waren und das Gebäude verließen. Draußen im Sonnenschein schüttelte ich meinen Ekel vor dem Asservatenlager ab und dachte an das, was wir bei uns hatten. Ich wusste zwar nicht genau, welche Fragen ich hatte, doch ein eigenartiges Gefühl sagte mir, die Antworten könnten irgendwo in den Kopien stecken, die wir in meinen Wagen luden. Wie sich herausstellen sollte, gab es jemanden, der mein Gefühl teilte und es alles andere als lustig fand.