ZWEI

Ich bestellte mir ein Bier. Als es kam, nahm ich einen Schluck und dachte an das erste Seminartreffen. Es war gar nicht so übel gewesen, obwohl Z einen etwas wirren Eindruck gemacht hatte. Ach, und dann war da noch der Brief gewesen, den Havens mitgebracht hatte, doch mit dem würde ich mich ein andermal beschäftigen. Jetzt saß ich im Tommy Nevins, dem besten irischen Pub von Evanston, trank mein Bier, mampfte Tayto-Chips aus der Tüte und wartete darauf, dass Sarah Gold aus der Damentoilette zurückkam.

»Da bin ich wieder.« Sie glitt auf ihre Bank und lächelte. »Woher wusstest du, dass ich Guinness trinke?«

Ich zuckte mit den Schultern. Woher ich das wusste? Es war mir ebenso bekannt wie die Tatsache, dass sie ihre Pommes mit Essig würzte und statt eines großen Cheeseburgers lieber drei Mini-Burger aß. Ich wusste ja auch, dass sie im letzten Jahr ihres Grundstudiums fünf Kurse am frühen Morgen belegt hatte. Ebenso wie ich wusste, dass sie von all ihren Jeans am liebsten die zerrissene Levis trug, mit einem alten karierten Hemd darüber; dass sie Ivory-Seife benutzte und ihr Haar freitags im Nacken zusammenband und gerne mal im Regen draußen saß unter ihrem Schirm und zuschaute, wie die Tropfen vom Himmel kamen. Über Sarah Gold wusste ich mehr als über mich selbst. Das muss zwar noch nichts heißen, änderte aber nichts an der Tatsache.

»Ich habe geraten«, sagte ich.

Sarah nahm einen Schluck Bier. Auf ihrer Oberlippe blieb ein Schaumrand zurück. Ich tippte auf meine Lippe.

»Das Zeichen eines guten Biers.« Sie wischte mit dem Handrücken über ihren Mund. »In den ersten Jahren habe ich dich hier nur selten gesehen.«

»Ich war viel unterwegs.«

»Auf Reisen?«

»Ich habe ein Jahr im Ausland studiert.« In meinen vier Jahren an der Northwestern war ich nie weiter als bis zur Bibliothek gekommen, aber das würde ich Sarah Gold nicht verraten. Abgesehen davon gefiel es mir, einen auf geheimnisvoll zu machen.

»Echt wahr? Wo denn?«

»Türkei.« Türkei? Wie war ich jetzt darauf gekommen? Ich versuchte mich an das zu erinnern, was ich über die Stadt wusste. Bis mir einfiel, dass es ein Land war. Und dann konnte ich nur noch an türkischen Honig denken. Scheiße. Ich holte tief Luft.

»Wie aufregend«, sagte Sarah. »Ich war ein paar Monate lang in Istanbul.«

Ich rang mir ein Lächeln ab und leerte mein Glas. Ihrs war noch so gut wie voll. Ich winkte die Kellnerin zu uns und bestellte die nächste Runde. Sarah zeigte auf ihr Glas und sagte, sie sei noch nicht so weit. Die Kellnerin verschwand.

»Wie fandst du es heute?«, fragte Sarah.

Ich wusste nicht, wie ich es gefunden hatte. Aber Sarah wartete auch nicht auf eine Antwort.

»Ein bisschen seltsam war es ja schon«, fuhr sie fort. »Uns einfach so auf die Akten loszulassen. Aber so ist Zombrowski. Bei der heißt es ganz oder gar nicht. Zumindest hat man mir das erzählt.«

Wir saßen in einer Nische an der Fensterseite, mit Blick auf die Sherman Avenue. Ich hatte die Theke im Rücken und hörte von dort das Gemurmel anderer Gäste. Dann knarzte eine Fußbodendiele, und jemand stand an meiner Seite. Sarahs Blick weitete sich, bevor sie ein verhaltenes Lächeln wagte.

»Hey, Kyle.«

Kyle Brennan war zwei Semester unter uns und der erste Cornerback der Football-Mannschaft der Northwestern. Ich hatte ihn zwei Jahre lang gehasst. Das waren die beiden Jahre gewesen, in denen er mit Sarah Gold zusammen war. Wenige Monate vor Abschluss ihres Bachelors hatte sie mit ihm Schluss gemacht. Ich hielt das für eine großartige Entscheidung. Brennan war angeblich anderer Meinung.

»Hey, Sarah.«

Brennan war schätzungsweise eins achtzig groß, hatte dunkle Augen, kurzes schwarzes Haar und Lippen, die ich nur als violett beschreiben konnte. Er setzte sich zu Sarah, rutschte an sie heran, fast schon auf sie drauf. Sarah rückte von ihm weg und deutete auf mich.

»Kyle, kennst du Ian Joyce?«

Ohne mich anzusehen, schüttelte Brennan den Kopf und trank einen Schluck aus dem großen Plastikbecher, den er dabeihatte. In einer Woche begann das Sommertraining, und ein Teil der Football-Typen trank derzeit auf Vorrat. Brennan schien es damit besonders eilig zu haben.

»Wir haben den Bachelor zusammen gemacht«, sagte Sarah. »Jetzt sind wir im selben Graduate-Seminar.«

»Ein paar von uns wollen rüber in die Stadt«, sagte Brennan. »Zum Straßenfest in Wrigleyville. Warum kommst du nicht mit?«

»Nein danke, Kyle.«

»Wir können zusammen abhängen.«

»Nein danke.«

»Nur wir zwei.«

Ich beugte mich vor. »Sie hat ›nein danke‹ gesagt.«

Brennan knallte seinen Becher auf den Tisch und verspritzte eine violette Flüssigkeit. Daher also die Lippenfarbe.

»Hat dich jemand was gefragt?«

Das Gemurmel hinter mir versickerte. Ich spürte, wie sich die Atmosphäre im Raum auflud und versuchte, die Situation zu entspannen.

»Ganz ruhig, Kumpel. Du willst doch nicht rausgeschmissen werden, oder?«

»Ich bin nicht dein Kumpel. Und der Rest ist mir scheißegal.«

Ich umklammerte die Tischkante und merkte, dass mir die Hitze bis zum Haaransatz stieg.

»Kyle.« Sarah packte den Arm ihres Exfreunds. »Sieh mich an.«

Er sah sie an.

»Du bist betrunken. Und du bringst mich in Verlegenheit. Geh jetzt, ich ruf dich morgen an. Dann können wir irgendwo was essen gehen.«

Sie berührte seine Wange und küsste ihn kurz. Fast hätte ich mich übergeben. Aber Brennan zog Leine.

»Arschloch«, sagte Sarah und winkte Brennan nach, der das Nevins mit zwei Kumpeln verließ.

»Rufst du ihn an?«

»Er wird sich nicht mal mehr daran erinnern, heute mit mir geredet zu haben. Ich wollte nur verhindern, dass er den Laden hier zu Kleinholz macht.«

»Glaubst du, ich wäre mit ihm nicht fertiggeworden?«

Sarah musterte mich abwägend. Ich bin ein bisschen über eins achtzig und wiege so um die neunzig Kilo.

Sie schüttelte den Kopf. »Er hätte dich umgebracht.«

»Ja, vielleicht.«

Sie hob ihr Bierglas. »Wir vergessen ihn einfach. Wo waren wir stehen geblieben?«

»Bei unserem Seminar.«

»Richtig. Was hältst du von unserem dritten Mann?«

»Von Havens?«

»Ja. Weißt du was über ihn?« Es klang, als wüsste sie einiges und wollte es unbedingt loswerden.

»Ich habe gehört, dass er von der University of Chicago kommt.«

»Richtig. Fachbereich Jura. Er war Jahrgangsbester. Chefredakteur der juristischen Fachzeitschrift.«

»Und was macht er dann bei uns?«

Die Medill School of Journalism war wahrscheinlich die beste der Welt. Oder wenigstens eine der beiden besten. Trotzdem, es ging um Journalismus. Das Durchschnittsgehalt der Absolventen rangierte zwischen dreißig- und fünfzigtausend Dollar im Jahr. Vorausgesetzt, man landete bei einer auflagenstarken Zeitung. Ein ehemaliger Chefredakteur der juristischen Fachzeitschrift der Uni von Chicago konnte locker mit dem Dreifachen rechnen. Ich kannte die Zahlen. Bei meinem Jura-Aufnahmetest hatte ich nahezu die höchste Punktzahl erreicht. Ich hatte mir das Für und Wider der beiden Berufe durch den Kopf gehen lassen.

»Havens will kein Anwalt werden«, erklärte Sarah. »Er hat es nur zum Spaß gemacht.«

»Er war in Chicago die Nummer eins seines Jahrgangs und hat es nur zum Spaß gemacht?«

»Das ist noch nicht alles. In seinem dritten Studienjahr hat er bei einer Rechtsberatung auf der South Side angefangen und sich mit einem Fall von Kindesmissbrauch befasst. Wie es heißt, hat er sich dermaßen in die Sache verbissen, dass er einigen Leuten unheimlich geworden ist.«

»Kann ich mir vorstellen.«

»Na, jedenfalls hat er entschieden, dass Jura nicht sein Ding ist.«

»Und was schwebt dem Wunderknaben jetzt so vor?«

»Das weiß keiner. Bekannt ist nur, dass er an die Medill wollte und unbedingt in unser Seminar.«

»Woher weißt du das alles?«

»Ich mache meine Hausaufgaben. Bei seiner Aufnahme in die Medill hat er sogar verhandelt und gesagt, dass er sich nur einschreibt, wenn man ihm einen Platz in Zs Seminar garantiert.«

»Und die Medill hat das mitgemacht?«

»Warum nicht? Havens gilt als Genie. Ich nehme an, den Seminarplatz hätte er sowieso bekommen.«

Ich dachte an Havens. Er schien ein interessanter Typ zu sein. So interessant, dass ich vergessen hatte, mit wem ich hier zusammensaß. Doch jetzt nahm ich ihren Duft wahr, sah, dass sie eine dünne Goldkette trug und an ihrer Kehle eine Vene ganz leicht pochte.

»Was hältst du davon?«, fragte Sarah.

»Wovon?«

»Havens natürlich.«

»Ach ja. Er wollte also in unser Seminar. Na und?«

»Der Brief, den er gefunden hat, war ziemlich seltsam.«

»Wahrscheinlich ist er bedeutungslos.«

»Kann sein.« Sarah nippte an ihrem Bier. »Soll ich dir noch was sagen?«

»Was denn?«

»Ich gehöre nicht in unseren Kurs.«

»Was soll das heißen?«

»Jeder hier an der Uni weiß, wie klug du bist, Ian. Ich will dich nicht beleidigen, aber Havens könnte möglicherweise noch klüger sein als du. Ich passe nicht zu euch.«

»Quatsch. Du hast dich beworben und bist angenommen worden. Also passt du auch zu uns.«

Sie beugte sich zu mir vor. »Weißt du, warum sie mich angenommen haben?«

»Ich weiß nicht einmal, warum ich angenommen worden bin.«

»Ach bitte. Bei mir lag es nur an meiner Arbeit für Omega. Das war der einzige Grund.«

»Was ist Omega?«

»Eine Frauenorganisation, genau genommen ein Netzwerk für misshandelte Frauen. Wir sorgen für sichere Häuser, schmuggeln die Frauen hinein und hinaus und verstecken sie vor den Arschlöchern, die sie verprügeln. So lange, bis sie eine andere Unterkunft finden.«

»Und da arbeitest du?«

»Ja. Ehrenamtlich. Einmal haben wir abends eine Frau aus ihrem Haus herausgeschafft, als plötzlich ihr Mann auftauchte. Er war betrunken und hat die Windschutzscheibe meines Autos mit einem Baseball-Schläger zertrümmert.«

»Konntet ihr die Frau noch in Sicherheit bringen?«

»Ja, zum Glück. Damals habe ich darüber mehrere Artikel geschrieben und als Seminararbeit abgegeben.«

»Wow, die würde ich gern mal lesen.«

Sarah berührte meine Hand. Mein Herz machte einen Satz. »Ich zeig sie dir. Die Artikel haben meinem Prof gefallen, und er hat sich für mich stark gemacht. Ohne Omega hätte ich es also nie in das Seminar geschafft. Irgendwie ironisch, wenn man bedenkt.«

»Was?«

»Dass ich mich für misshandelte Frauen einsetze und dann an einen Wichser wie Kyle gerate.«

»Du darfst das auf keinen Fall schmeißen, Sarah. Nicht nach einer einzigen Sitzung.«

»Wer hat denn was von schmeißen gesagt?«

»Du hast mir gerade erklärt, du wärst nicht gut genug dafür.«

»Ach, ich musste nur ein bisschen Dampf ablassen. Ich bin ziemlich gut.«

»Du bleibst also dabei.«

»Na klar. Meinst du, ich lasse Jake Havens die ganzen Lorbeeren ernten.« Ihr Blick schweifte durch den Raum. »Wenn man vom Teufel spricht.«

Ich wandte mich um. Jake Havens saß an der Theke und hatte ein Bier vor sich stehen.

Havens war in den Anblick der Flaschen hinter der Theke vertieft, die im Licht glänzten. Ich tippte ihm auf die Schulter. Es war die Schulter eines Arbeiters, mit prallen Muskeln und straffen Sehnen. Er drehte sich halb zu mir um.

»Was ist?«

»Ich dachte, du möchtest dich vielleicht auf ein Bier zu uns setzen.«

Havens nickte zu der Nische hinüber, in der Sarah saß. »Seid ihr zwei befreundet?« Von Nahem wirkten seine Gesichtszüge hart und scharf. Die Frage, die er gestellt hatte, schien ihn kaum zu interessieren, geschweige denn die Antwort.

»Wir kennen uns aus dem Grundstudium«, sagte ich.

»Dachte ich mir.« Havens nahm sein Glas und führte den Weg zu Sarah an, als wäre es seine Idee gewesen und ich dürfe mitkommen, wenn ich wollte.

»Sarah Gold«, sagte er. »Der Name gefällt mir.« Er schlüpfte in die Sitzecke und beherrschte sie umgehend. Ich hockte mich neben ihn. Inzwischen war es kurz vor vier Uhr nachmittags. Im Nevins breitete sich Feierabendstimmung aus. Als Havens sich zu Sarah vorbeugte, schien er das Licht zu absorbieren.

»War der Typ eben dein Freund?«

»Mein Ex.«

»Gibt es viele Geister, die dir folgen?«

»Wie meinst du das?«

»Vergiss es.« Havens trank einen Schluck Bier. »Wie hat dir das Seminar heute gefallen?«

»Soll ich ehrlich sein?«, fragte Sarah. »Ich hatte mir ein bisschen mehr Orientierungshilfe versprochen.«

»Willst du, dass man dich am Händchen nimmt?«

Sarah quittierte seine herablassende Art mit einem abfälligen Lächeln. Falls Havens ihr unter die Haut gehen wollte, würde er sich ein bisschen mehr ins Zeug legen müssen. Auch falls er ihr sonst irgendwohin gehen wollte.

»Sie hätte uns Richtlinien für unsere Recherchen geben können«, sagte Sarah. »Oder eine Übersicht der Fälle. Oder wenigstens mehr Hintergrund zu den Fällen, die wir uns anschauen sollen. Eine Region festlegen.«

»Ich habe schon einen Fall.«

»Das haben wir mitbekommen.« Sarahs Blick streifte mich und wanderte weiter.

»Wollt ihr euch die Akte ansehen?« Havens hob seinen Rucksack auf den Tisch.

»Ich muss leider los.« Sarah stand auf, schaute auf Havens hinab und ließ ihn plötzlich kleiner wirken. Dabei blieb sie aufreizend freundlich. Ich war begeistert. Havens tat, als wäre nichts.

»Z hat mir eine E-Mail geschickt«, meinte er. »Die Amtsverwaltung hat uns für morgen früh grünes Licht gegeben. Hat einer von euch einen Wagen?«

Sarah und ich nickten. Sie setzte sich wieder. Havens hatte seine Kontrollfunktion zurückgewonnen.

»Ich schlage Folgendes vor«, begann er. »Einer von uns übernimmt die Recherche, geht durch die Unterlagen und sortiert das, was wichtig ist, heraus. Die beiden anderen fahren zu diesem Asservatenlager, wo sich das Beweismaterial befindet, und schauen nach, was es dort gibt.«

»Ich übernehme die Recherche«, sagte Sarah.

Ich warf ihr einen Blick zu. »Das Asservatenlager macht bestimmt mehr Spaß.«

»In den blutverkrusteten Sachen eines toten kleinen Jungen wühlen? Nein danke.«

Havens zuckte mit den Schultern. »Mir ist es gleich. Ich schicke euch die Adressen per E-Mail. Beide Amtsstellen öffnen um neun. Z hat uns geraten, gleich morgens bei denen auf der Matte zu stehen. Joyce, am besten, wir treffen uns dort um –«

Sarah fuhr herum. Kyle Brennan warf sich neben ihr auf den Sitz, stützte einen Ellbogen auf den Tisch und rückte dicht an sie heran. »Hast du mich vermisst?«

Sarah wirkte eher peinlich berührt als erschrocken und stieß ihn von sich fort. Er rutschte zu ihr zurück.

»Komm, lass die Looser hier sitzen. Wir fahren in die Stadt.« Brennan legte eine Hand auf Sarahs Schulter, die andere glitt unter den Tisch.

»Kyle, lass das.«

»Heh, Arschloch.« Ich griff nach Brennan, ohne zu wissen, was ich machen würde, wenn ich ihn gepackt hatte. Zum Glück kam Havens mir zuvor.

Er zerrte Brennan von der Bank und warf ihn zu Boden. Brennan landete auf dem Bauch. Das Ganze hatte nicht länger als drei Sekunden gedauert. Brennan wand sich wie ein Fisch auf dem Trockenen. Havens setzte ein Knie auf seinen Rücken und drückte einen Unterarm auf seinen Nacken. »Du solltest mal ein bisschen runterkommen«, sagte er und gab Druck in sein Knie. Brennan lag mit einer Wange auf dem klebrigen Fußboden. Ich hörte ein Röcheln und nahm an, dass Brennan keine Luft mehr bekam.

»Lass ihn los, Mann.« Einer von Brennans Kumpeln trat einen Schritt vor, wahrte aber Distanz.

»Ihm fehlt nichts«, sagte Havens. »Er nimmt sich nur eine kleine Auszeit.«

Brennan grunzte, wälzte sich auf die Seite und stieß seinen Ellbogen in die Richtung von Havens’ Kinn. Havens lehnte sich kurz zurück, und nahm Brennan so in den Schwitzkasten, dass sein Adamsapfel genau in seiner Ellbogenbeuge lag. Dann spannte er den Arm an. Brennans Lider flatterten und schlossen sich. Seine Brust schien sich nicht mehr zu bewegen. Die Gespräche ringsum waren schon vor einer Weile verstummt, doch jetzt herrschte plötzlich Grabesstille.

»Lass ihn los«, sagte ich. Havens warf mir einen Seitenblick zu und lockerte seinen Griff. Brennans Freunde stürzten vor und hoben ihren Kumpel hoch. Er hing schlaff in ihren Armen.

»Setzt ihn gerade hin«, befahl Havens. Sie gehorchten. Havens schlug mit der Faust auf eine Stelle zwischen Brennans Schulterblättern. Brennan hustete. Seine Lider zuckten und öffneten sich.

»Schafft ihn raus«, sagte Havens. Das ließen sich Brennans Freunde nicht zweimal sagen. Havens kehrte in die Sitzecke zurück. Ich sah mich nach Sarah um.

»Sie ist gegangen«, erklärte Havens. »War ihr wohl zu peinlich.«

Ich setzte mich ihm gegenüber. Wir schwiegen.

Nach einer Weile fragte ich: »Wo hast du das gelernt?«

»Was?«

»Einen Typen auszuknocken.«

Havens hob die Schultern. Auf seinem Unterarm sickerte Blut aus einem dünnen langen Kratzer. Er schien es nicht zu bemerken.

»Stemmst du Gewichte?«

»Ich habe Thunfisch gefangen. Langleinenfischerei. Vor Chatham und Gloucester.«

»In New England?«

»Ja. Drei Jahre lang als Vollzeitjob. Manchmal waren wir eine Woche oder sogar einen Monat lang auf Georges Banks. Ich habe auf dem Boot geschlafen. Bei Schnee und Eis und jeder Art von Seegang. Habe die schweren Taue eingeholt.« Havens umschloss sein Bierglas. »Da brauchst du keine Gewichte mehr zu stemmen.«

»Hm.«

Wir schwiegen erneut.

An der Theke unterhielten sich einige Gäste, aber um uns machte jeder einen Bogen.

Havens zog die Akte aus seinem Rucksack heraus. »Willst du mal einen Blick darauf werfen?«

»Klar, warum nicht.«

Er nickte, als wäre es die einzig denkbare Antwort. »Wie es heißt, bist du hier oben einer der Stars.«

»Wo oben?«

Havens verdrehte die Augen. »Na, hier.«

»Auf die Nummer hab ich keinen Bock.«

»Auf was für eine Nummer?«

»Auf Chicago gegen Northwestern. Welche Uni besser ist oder strenger oder reiner in der Wissenschaft. Diesen Mist brauche ich nicht.«

»Du meinst, das ist in Chicago hier ein Thema?«

»Es ist eins in Evanston. Und für dich offenbar auch. Ich weiß, dass du ein kluger Junge bist. Einer, der andere plattmachen kann. Finde ich gut. Super sogar. Ich könnte mich nicht mal selber plattmachen. Bin eher der harmlose Typ. Aber auf den Kopf gefallen bin ich nicht. Und Sarah ist auch nicht dämlich.«

»Bist du dir da sicher?«

»Absolut. Und deshalb schlage ich vor, wir schenken uns den ganzen Schwachsinn und arbeiten einfach zusammen. Schließlich bist du obendrein noch Jurist. Lass uns an die Fälle gehen. An deinen oder einen von Z oder sonst einen. Wir suchen uns einen aus und schauen, was dabei herauskommt.«

»Ist Gold damit einverstanden?«, fragte Havens.

»Ich kenne Sarah kaum, aber sie scheint mir ziemlich straight zu sein.«

»Was soll das heißen?«

»Keine Ahnung. Fand bloß, dass es gut klingt.«

Havens lachte. Es klang sogar aufrichtig. Dann hob er sein fast leeres Glas. »Du bist scharf auf sie.«

»Wohl kaum.«

»Seit wann ist das schon so? Seit dem ersten Semester?«

»Leck mich.«

Havens legte den Kopf zurück und lachte schallend. Er hatte ein perfektes, schneeweißes Gebiss. »Herrgott, Joyce. Mach dich locker.«

Mir war klar, dass Havens in der Lage war, mich nach allen Regeln der Kunst zu vermöbeln. Es war mir egal. So was war mir schon immer egal gewesen. Weshalb ich in meinem Leben mehr Prügel bezogen hatte, als ich zählen konnte.

»Das mit Sarah kann ich dir nicht mal verdenken«, sagte Havens. »So jemanden haben wir alle, oder? Manchmal sogar mehrere. Abgesehen davon ist sie ziemlich heiß.«

»Klar, Sarah ist heiß.«

»Aber das hier ist ihre Welt, oder? Und du bist nur zufällig hineingeraten.«

»So was in der Art.«

»Nicht so was in der Art, sondern genau so. Du bist aber nicht der Einzige, der so was erlebt, mein Freund. Ich bestell mir noch ein Glas. Willst du auch eins?«

»Gern.« Ich schob ihm mein leeres Bierglas zu.

Havens stand auf und steuerte die Theke an.

»Heh«, rief ich ihm nach.

Er drehte sich um, in jeder Hand ein leeres Glas.

»Glaubst du wirklich, dass Harrison unschuldig war?«

Havens kehrte zurück. »Vergiss den Brief. Denk nur an den Stofffetzen. Herauszufinden, ob er von dem Hemd des Opfers stammt, dürfte nicht allzu schwierig sein. Wenn dem so ist –«

»– dann wurde er dir vom Mörder geschickt.«

»Nicht unbedingt.«

Ich legte den Kopf zur Seite und runzelte die Stirn. »Aber das hast du Z gesagt.«

»Es ist trotzdem nicht die einzige Möglichkeit. Wenn dieses Hemd zum Beweismaterial der Anklage gehört hat, hätte jeder, der Zugang dazu hat, mir ein Stück davon schicken können. Ein Polizist, der Staatsanwalt oder ein Techniker der Spurensuche.«

»Ein Maulwurf?«

»Möglich. Jemand, der uns eine Botschaft schickt. Der uns sagt, dass Harrison reingelegt worden ist.«

»Gehst du davon aus?«

»Bevor ich das Beweismaterial gesehen habe, gehe ich von gar nichts aus.«

»Aber warum wurde der Brief an dich geschickt? Warum nicht an die Tribune oder die Sun-Times? Du bist doch nur ein Student in einem Seminar.«

»Meinst du, das hätte ich mich noch nicht gefragt? Lies die Akte.«

Havens machte sich auf den Weg zur Theke. Ich nahm die Akte und blätterte durch die Zeitungsausschnitte. Zuunterst lag der Polizeibericht, in dem es um das Verschwinden von Skylar Wingate ging. An der Rückseite steckte ein Foto unter einer Heftklammer. Es zeigte den Tatort: eine flache Grube, daneben ein kleiner weißer Leichensack. Ich strich mit dem Finger über das Foto. Dann legte ich es zur Seite und las den Bericht.