ELF

Als wir das Zentrum von Evanston erreichten, war es kurz vor Mitternacht. Auf der Sherman, Ecke Emerson fand Havens Platz zum Parken. Wir hielten hinter ihm an.

»Ich brauche eure Handy-Nummern«, sagte Sarah im Aussteigen. Wir tauschten unsere Telefonnummern und standen an der Straßenecke. Mir war, als blickten uns noch immer die Augen des toten Jungen aus der Höhle an.

»Ich muss nach Hause.« Ich schaute auf meine Uhr.

»Ich glaube nicht, dass ich schlafen kann«, sagte Sarah.

»Ich auch nicht«, meinte Havens. »Wie wär’s mit einem Bier im Nevins. Zur Feier des Tages.«

»Wir waren nicht beim Football.« Verwundert hörte ich, wie gereizt ich klang, und schrieb es meiner Müdigkeit zu.

»Entspann dich.«

»Wir haben vorhin eine Leiche gefunden, Havens. Ist dir das überhaupt bewusst?«

»Ich weiß, was wir gefunden haben.« Unruhig schaute er über die leere Straße.

»Ein Bier könnte jetzt nicht schaden«, sagte Sarah leise.

Ich schüttelte den Kopf. »Ihr könnt ja was trinken gehen, aber ich mach mich auf den Weg nach Hause.«

»Sollen wir dich fahren?« Sarah versuchte, meinen Blick einzufangen.

»Ich hab’s nicht weit.«

»Wir könnten dich begleiten.«

Ohne es zu wollen, nickte ich. Zu dritt schlugen wir den Weg nach Westen über die Emerson ein.

Havens drehte sich halb zu mir um. »Merkwürdig, dass wir auf diese Höhle gestoßen sind.«

»Reines Glück«, antwortete ich. »Oder Pech, je nachdem, wie man es nimmt.«

»Aber vor uns war jemand anders da«, sagte Sarah. »Vielleicht hat er oder sie die Polizei alarmiert.«

»Vielleicht«, bemerkte Havens.

»Sollen wir der Polizei sagen, dass wir da waren?«, fragte Sarah.

»Und ihnen beichten, dass wir auf ihrem Tatort herumgetrampelt sind?« Havens schnaubte. »Das wäre das Ende unserer Karriere an der Medill. Und zwar sofort.«

»Und was ist, wenn die Höhle mit dem Fall Harrison zusammenhängt?«, fragte Sarah.

»Halte ich für unwahrscheinlich«, entgegnete ich. »Wingate ist vor beinah fünfzehn Jahren umgebracht worden.«

»Soll sich doch die Polizei um die Höhle kümmern«, sagte Havens. »Wir haben mit unserem Mordfall genug zu tun.«

Wir hatten das Zentrum verlassen. Zu unserer Rechten lag ein Park. Auf einem Feld, das wie eine Bühne erleuchtet war, spielten ein paar Kids Basketball. Sonst war alles dunkel. Als wir uns von ihnen entfernten, wurde die Nacht wieder still. Ich wohnte in dem Haus, in dem ich aufgewachsen war, auf einer engen Seitenstraße namens Astoria. Gemessen am Standard von Evanston war es eine arme Gegend, zwar nicht bitterarm, aber irgendwie bedrückend, als hätte man es hier nie ganz geschafft. Die meisten Häuser hatten zwei Stockwerke, spitze Dächer und waren mit Schindeln verkleidet, vor dem Eingang ein Fleck, auf dem Fingergras wuchs, und hinten hinaus ein Stück Zementboden. Dazwischen hing die unterdrückte Wut von Generationen. Ich schämte mich nicht für mein Zuhause, ich wollte nur nicht, dass Jake Havens und Sarah Gold jemals in seine Nähe kamen. Am Anfang der Astoria blieb ich stehen.

»So, schönen Dank, Leute.«

»In welchem Haus wohnst du?« Ich spürte, wie Havens’ Blick über die Straße wanderte, die Haustüren zum Leben der Menschen durchdrang und durch die Flure und Zimmer streifte.

»Da hinten.« Mit der Hand wedelte ich in die Richtung meines Hauses.

»In dem grün-weißen?«, fragte Havens.

»Yeah.«

Nach einer unbehaglichen Pause beugte Sarah sich vor und umarmte mich. »Schmier dir was auf die Schrammen.«

»Leg dir einen Eisbeutel auf die Beule. Havens, wir sehen uns morgen.«

»Und kein Wort über unsere Entdeckung in der Höhle, Joyce.«

»Gut, dass du mir das sagst.«

Havens brummte irgendetwas. Die beiden gingen davon und bildeten ein schönes Paar. Jung und dynamisch, mit hocherhobenen Köpfen, die Schritte im Gleichtakt. Ich wartete, bis sie um die Ecke verschwunden waren und hätte wetten können, dass Havens noch einmal zurückschleichen würde. Als er es nicht tat, machte ich mich auf den Weg zu dem Haus, in dem ich wohnte.

Im ersten Stock waren die Jalousien heruntergelassen. Bis auf einen gelben Schein aus dem Wohnzimmer war alles dunkel. Die Haustür war alt und schwer, das Schloss steinzeitlich. Ich steckte meinen Schlüssel hinein und drehte ihn. Im Haus behielt ich mein Schlüsselbund in der Hand und durchquerte den langen Flur meiner Kindheit. An seinem Ende befand sich die Tür zu dem Zimmer, das mein Bruder und ich uns als Kinder geteilt hatten. Sie war mit einem glänzenden Metallschloss ausgestattet. Daneben lag die zweite Tür, ebenfalls mit einem Schloss versehen. Sie führte in den Keller.

Ich öffnete die zweite Tür und stieg die Treppe hinunter. Die Stufen knarrten, und ich konnte das Gezeter aufgescheuchter Ratten in den Wänden hören. Es war stockfinster, doch meine Füße fanden den Weg, als liefe ich durch meine Grabstätte. Ich ertastete die Strippe und zog daran. Eine einzelne Glühbirne warf ihr fahles Licht in den Kellerraum. Ich schlug in die dicke Schicht Spinnweben, die von einer Deckenstrebe hing. Die Decke war mit schwarzen Schimmel- und Moderflecken überzogen. Irgendwo musste ein Leck sein. Eins von vielen.

Ich setzte mich auf die unterste Treppenstufe und ließ meinen Blick schweifen. Schwere Eisenketten mit Rostflecken schimmerten im trüben Licht. Zu meinen Füßen lagen schmierige Seilrollen. Mein Blick wanderte zu der Stelle, zu der er jedes Mal wanderte. Es war ein Loch im Boden, das mit Zement versiegelt worden war, ehe der schwere Holztisch darübergerückt wurde, der mitten im Raum stand. Ich hörte ein Rascheln, das Hin und Her eiliger Pfoten. Wieder Ratten, doch diesmal waren sie in meinem Kopf eingemauert.

Ich stand auf und näherte mich dem Tisch, auf dem das Licht glänzte. Ich berührte eine Kerbe in der Holzoberfläche und spürte, wie die Erinnerungen in meinen Fingerspitzen pulsierten. So blieb ich, bis ich es nicht mehr aushielt, zurückwich und mich wieder setzte. Nach einer Weile machte ich das Licht aus und nahm die Treppe nach oben.

Meine Mahlzeit bestand aus einer aufgewärmten Pizza und drei Dosen Bier. Gegen ein Uhr morgens ging ich zu Bett. Ich hatte im Fernsehen eine Kochsendung aufgenommen und stellte sie an. Zwar kochte ich nicht viel, und die Sendung mochte ich auch nicht, aber die Köchin erinnerte mich an meine Mutter, und ich sah ihr zu. Kurz vor drei ging ich nach unten und trat hinaus in den Garten hinter dem Haus. Ich legte mich aufs Gras, lauschte der Nacht und roch die Erde. Bis der Himmel sich im Osten aufhellte, zählte ich Sterne. Dann kehrte ich ins Haus zurück und machte mich fertig für den Tag.