SIEBENUNDDREISSIG
»Soll das etwa der sichere Ort sein?«, fragte ich.
Wir durchquerten einen kleinen schmuddeligen Gang zu einer Metalltür, hinter der das Hauptgeschäft des Leichenschauhauses von Cook County erledigt wurde.
»Ich möchte, dass Sie hier mit jemandem sprechen«, sagte Rodriguez. »Das bleibt aber bitte unter uns.«
Also wurde schon wieder irgendetwas gespielt, doch ich war an einem Punkt angelangt, an dem es mich nicht mehr kümmerte. Ein Besuch im Leichenschauhaus war wenigstens eine Stufe höher, als die Nacht bei Randall in der Zelle zu verbringen. Auf dem Tastenfeld neben der Tür gab Rodriguez eine Kombination ein, und die Tür öffnete sich zu einem lang gestreckten, grau gestrichenen Raum, der wie eine blitzblank gescheuerte Werkstatt aussah. Ich rechnete mit irgendeinem Geruch, doch das Einzige, was ich wahrnahm, war ein ganz leichter Geschmack von Chemikalien auf der Zunge, die Kälte, die bis auf die Knochen drang, und das bläuliche Licht, das von großen Deckenleuchten auf drei Untersuchungstische fiel. Die Tische waren aus Edelstahl, mit einer umlaufenden Rinne auf dem Boden, die jeweils in einen Ausguss mündeten. An der Stirnseite jedes Tisches befand sich eine Nackenstütze, die vermutlich den Kopf eines Toten hielt, und am Fußende war ein Becken. Zwei Tische waren leer. Auf dem dritten lag eine Leiche unter einem weißen Laken. An einer Wand stand Sam Moncata und studierte eine Aufnahme an einer Leuchttafel. Als er uns sah, schaltete er die Leuchttafel aus.
»Hallo, Vince.« Moncata schüttelte Rodriguez die Hand. Dann drehte er sich zu mir um. »Hätte nicht gedacht, dass wir uns so bald wiedersehen.«
»Geht mir genauso«, gab ich zurück.
Moncata führte uns in einen kleinen Pausenraum nebenan, doch die verhüllte Leiche auf dem Tisch konnte man von dort aus noch sehen. Im Pausenraum standen ein Tisch, Stühle, eine Kaffeemaschine und an einer Wand zwei Automaten mit Getränken und Snacks. Moncata hatte seine Unterlagen über den ganzen Tisch gebreitet, bedeutete uns, Platz zu nehmen, und sah Rodriguez abwartend an.
»Ich glaube, es ist besser, wenn du ihm alles erklärst«, sagte der Detective.
»Na schön.« Moncata setzte sich, stützte die Ellbogen auf und formte seine Hände zu einem Zelt. Dann richtete sich sein Blick auf mich. »Wahrscheinlich fragen Sie sich, warum Detective Rodriguez Sie hergebracht hat. Und das auch noch nachts.«
»Ja. Unter anderem.«
»Als Sie in meinem Büro waren, habe ich Ihnen gesagt, dass wir mitten in einer Sache stecken.« Er zeigte auf Rodriguez. »Dabei ging es um eine Ermittlung, einen Jungen, der in einer Höhle des Naturschutzgebiets von Cook County gefunden wurde.«
»Davon habe ich gehört.«
»Ja, das hat Rodriguez berichtet. Ihre Karte wurde in der Nähe der Höhle entdeckt. Aber darum geht es jetzt nicht.« Moncata machte eine kleine Pause, ehe er weitersprach. »Auf dem Tisch da draußen liegt ein weiteres Opfer. Männlich. Dreizehn Jahre alt. Wurde vor sechs Stunden aus dem Wasser gefischt. Etwa zwei Meilen von der ersten Leiche entfernt.« Wieder eine Pause. Ich wusste nicht, worauf er hinauswollte, aber der Weg dahin schien ihm Schwierigkeiten zu bereiten. »Vielleicht sollten wir noch mal kurz in die Autopsie gehen.«
Wir standen auf und stiefelten zurück. Vor dem Tisch mit dem toten Jungen blieben wir stehen. Ich betrachtete den zugedeckten Leichnam. Unter dem Laken schaute ein Arm des Jungen heraus. Ich erkannte ein grünes »L« und ein »U«, die dünn und zittrig auf die Innenseite des Handgelenks tätowiert worden waren, und wartete darauf, dass Moncata das Laken zurückschlug und mit mir auf Rundreise über den Toten ging. Stattdessen trat er noch einmal an die Leuchttafel und knipste sie an. »Kommen Sie her, Ian, ich möchte Ihnen etwas zeigen.«
Ich tat, wie mir geheißen. Rodriguez baute sich an meiner Seite auf und beobachtete Moncata und mich. An der Leuchttafel hingen zwei Fotos, Großaufnahmen, die jeweils ein Stück Haut zeigten.
»Wissen Sie, was das ist?«, fragte Moncata.
»Fotos, die während einer Autopsie gemacht wurden?«
»Fotos von Bisswunden.« Mit einem Bleistift deutete Moncata von einem Foto zum anderen. »Das hier stammt von dem Jungen in der Höhle. Das andere von demjenigen auf dem Tisch da. So, und jetzt kommen Sie noch mal mit.«
Moncata führte mich zu einem kleinen Arbeitsplatz. Auf dem Tisch stand ein eingeschalteter Computer. Moncata klickte das Logo des Cook County auf dem Bildschirm an, dann einen Ordner auf dem Desktop. Auf dem Bildschirm erschienen zwei Fotos, auf denen man Bisswunden erkannte. Moncata tippte etwas auf der Tastatur, woraufhin sich ein Foto löste und über das andere legte. »Das ist die Software, von der ich Ihnen erzählt habe. Mit ihr werden die Bisswunden so differenziert wiedergegeben, dass wir sie miteinander vergleichen können. Wie Sie sehen, ist der Abdruck der Zähne nahezu identisch.«
Ich schaute Rodriguez an, doch der wies auf die Fotos.
»Kommen wir zu den Fotos, die Sie und Ihr Freund mir überlassen haben«, fuhr Moncata fort. »Wie wir wissen, stammen die Fälle, um die es sich dabei dreht, in etwa aus demselben Zeitraum.« Moncata rief die beiden Fotos auf. Nach ein, zwei Anläufen schaffte er es, sie ebenfalls über die beiden anderen zu legen. Wieder war die Übereinstimmung so gut wie perfekt.
»Es ist mir sogar gelungen, an die Fotos zu kommen, auf denen man die Bisswunden an Skylar Wingate sieht.« Moncata sah mich Beifall heischend an, ehe er ein nächstes Foto aufrief und über die anderen vier schob. »Voilà.«
»Wollen Sie damit sagen, dass die Male allesamt von ein und demselben Menschen hinterlassen wurden?«, fragte ich.
»Das kann ich sogar beweisen, junger Mann.«
Ich wandte mich zu Rodriguez um, der mich nicht aus den Augen gelassen hatte.
»Na, wie finden Sie das?«, fragte er.
»Ich bin mir noch nicht sicher.«
»Wie war denn Ihr erster Eindruck?«
»Dass ich es für unmöglich halte.«
»Und warum?«
»Sie haben es selbst gesagt. Die Zeitspanne zwischen den Fällen ist zu groß.« Ich schüttelte den Kopf. »Es ergibt einfach keinen Sinn.«
Moncata schien das als vorläufiges Schlusswort aufzufassen und schaltete den Computer aus. Wir kehrten in den Pausenraum zurück und setzten uns an den Tisch.
»Im Grunde haben Sie recht«, begann Rodriguez. »Auf den ersten Blick ergibt es keinen Sinn. Vergessen Sie aber nicht, was ich Ihnen neulich über die Fakten gesagt habe. Wenn sie irgendwohin führen, folgen wir ihnen. Und auf dem Weg sind wir zurzeit.«
»Wie gut ist diese Technik?«, fragte ich. »Ist die Software zuverlässig?«
Rodriguez hob eine Braue. »Sam, du bist dran.«
»Sie ist nicht so wissenschaftlich fundiert wie eine DNA-Analyse«, erwiderte Moncata. »Aber sie ist auch kein Schrott. Bei unseren Fotos gibt es einige Diskrepanzen, aber in mindestens vier der fünf Fälle ist die Ähnlichkeit der Male frappierend. Ich kann mir kaum vorstellen, dass die Bisse nicht von ein und demselben Menschen stammen.«
»Im Übrigen können wir es uns nicht leisten, das Ergebnis zu ignorieren«, sagte Rodriguez. »Im Moment muss ich davon ausgehen, dass zumindest eine gute Chance besteht, nach der irgendwer vor fünfzehn Jahren drei Jungen ermordet hat und aus irgendeinem Grund jetzt wieder aktiv geworden ist.«
Ich hob die Schultern. »Mir scheint, wir drehen uns im Kreis. Abgesehen davon weiß ich noch immer nicht, weshalb ich hier bin.«
»Das lassen wir mal für einen Moment beiseite«, sagte Rodriguez. »Sam sagt, dass er Ihnen und Havens von dem Trefferkommando berichtet hat.«
»Ja, aber nicht sehr viel.«
»Wahrscheinlich glauben Sie, dass James Harrison von diesem Kommando reingelegt wurde. Ebenso wie Laramore und Tyson aus den beiden anderen Fällen, mit denen Sie sich befassen.«
»Selbst wenn, können wir es nicht beweisen.«
Um Rodriguez’ Mund spielte ein kleines Lächeln. »Sam?«
Moncata räumte ein paar Unterlagen zur Seite und rollte einen Papierbogen auf. Darauf war eine Grafik aus Linien in unterschiedlichen Farben, am oberen und unteren Seitenrand standen Zahlen.
»Vor ein paar Tagen, als Sie und Ihr Kumpel gegangen waren, habe ich die Stoffprobe von Harrisons Jeans noch mal in unserem Labor testen lassen«, erklärte er. »Wir haben etwas durchgeführt, das wir als Gaschromomatografie-Massenspektrometrie-Analyse bezeichnen. Das Ergebnis war interessant.« Er deutete auf eine grüne Linie, die sich an mehreren Stellen aufsplitterte. »Schauen Sie, hier und da und da auch. An den Verästelungen erkennt man, dass das Blut an der Jeans, also das des Opfers, mit Zitronensäure versetzt wurde.«
Ich betrachtete das Liniengewirr und zuckte mit den Schultern. »Und was bedeutet das?«
»Zitronensäure ist kein natürlicher Bestandteil unseres Bluts. Zumindest nicht in diesen Mengen.«
»Und wie ist es dann in die Probe gelangt?«
»Zitronensäure ist ein Konservierungsstoff. Bei Autopsien wird sie häufig verwendet, um Blutproben aufzubewahren.«
»Irgendjemand hat dieses Blut einem Reagenzglas entnommen«, sagte Rodriguez. »Vermutlich nach der Autopsie von Skylar Wingate.«
»Und es danach auf die Jeans gegeben«, setzte ich hinzu.
»Und genau das macht den Beteiligten jetzt Sorgen«, sagte Rodriguez. »Dass Sie an die Stoffprobe gelangen und einer wie Sam, der ebenso klug wie neugierig ist, die richtige Analyse durchführt.«
Trotz allem, was geschehen war, konnte ich nicht anders, als diesen Augenblick zu genießen. Wir hatten etwas unternommen. Sogar etwas bewiesen. Und kein Mensch hätte es für möglich gehalten.
»Was ist mit den beiden anderen Fällen?«, fragte ich. »Scranton und Allen.«
Moncata breitete die Arme aus. »Schaffen Sie mir Material herbei, und ich lasse es untersuchen.«
Ich sah Rodriguez an. »Hier geht es um weitaus mehr als Harrison, oder?«
»Logisch.«
»Meinen Sie das ehrlich?«
»Ja. Wie wär’s, wenn wir jetzt mal zu Ihrem Verhör heute kommen.«
Mich überlief ein Schauder. »Okay.«
»Haben die beiden Detectives von einer DNA-Analyse gesprochen?«
»Ja, Coursey.«
Rodriguez warf Moncata einen Blick zu, der daraufhin in seinen Unterlagen zu kramen begann. »Erkennen Sie das wieder?« Er legte die Bestandsaufnahme von 1998 auf den Tisch, aus der hervorging, dass Harrison am Tag seiner Festnahme eine Jeans trug.
»Ja, klar.«
»Schauen Sie sich die Unterschrift des Polizeibeamten darauf an.«
Ich beugte mich vor und erkannte in dem krakeligen Schriftzug den Namen Marty Coursey.
»Coursey gehörte zum uniformierten Fußvolk des Trefferkommandos«, erklärte Moncata. »Er hat für das Beweismaterial gesorgt. Ein Drecksack, wenn mich nicht alles täuscht.«
»Sie täuschen sich nicht«, sagte ich.
»Hat Coursey auch das Ergebnis der DNA-Analyse erwähnt?«
»Er hat gesagt, er kriegt das, was er braucht.«
»Und gemeint, dass er Sie damit überführt?«
»Das hat er durchblicken lassen.«
Rodriguez und Moncata wechselten einen Blick.
»Ich habe Sarah nicht vergewaltigt, Detective. Ich war an ihrem Haus. Vielleicht aus Eifersucht. Ich weiß selbst nicht genau, warum. Aber ich bin nicht hineingegangen. Und ich habe sie nicht vergewaltigt.« Ich hatte die Worte hervorgestoßen, als dächte ich, sobald ich sie ausgesprochen hätte, müsste man meine Unschuld erkennen.
»Ich glaube Ihnen«, sagte Rodriguez. »Obwohl das keine Rolle spielt.«
»Aber wieso denn nicht?«
Rodriguez zog ein Foto hervor, das er mit dem Gesicht nach unten auf den Tisch legte. »Ich muss Sie fragen, ob Sie eine bestimmte Person erkennen, Ian.«
»Okay, kein Problem.«
Er schob mir das Foto zu und drehte es um. Nach einem kurzen Blick darauf kam mein Chicken Taco hoch und ergoss sich über den Tisch.