SIEBZEHN

Als sie auf die Brandung traf, konnte ich sie gerade noch erkennen. Ihr Körper bog sich vor und durchschnitt eine aufragende Welle, die über ihr zusammenschlug. Sie kam wieder hoch, schwamm mit kräftigen Zügen und glitt über die nächste Welle hinweg. Sarah Gold trug noch BH und Höschen, der Rest ihrer Kleidung lag am Strand. Ein Teil von mir war enttäuscht, ein anderer erleichtert. Ich zog mich bis auf die Unterwäsche aus und testete die Wassertemperatur.

Es war gerade mal Ende Juni. Das bedeutete, dass der See noch nicht viel Zeit gehabt hatte, sich aufzuwärmen. Nachts zu schwimmen, kam eigentlich nicht infrage. Aber Sarah sah das offenbar anders. Ich tauchte einen Fuß ins Wasser und schnappte nach Luft. Sie war vielleicht sechzig Meter hinausgeschwommen und drehte sich nach mir um. Ich sagte mir, scheiß auf die Kälte, und rannte in den See, bis das Wasser meine Taille umspülte. Meine Beine konnte ich nicht spüren, aber das war okay. Sarah stemmte sich hoch und winkte. Ich holte tief Luft und durchschwamm eine Welle. Auf der anderen Seite wartete Sarah auf mich.

»Das macht einen wieder nüchtern.« Sie warf sich das nasse Haar aus dem Gesicht und steckte es hinter die Ohren.

»Es ist eisig.«

Sie tauchte in eine Welle, strampelte mit den Beinen und kam wieder hervor. »Wenn du dich bewegst, wird dir warm.«

Ich war kein guter Schwimmer, aber ich folgte ihr trotzdem. Wahrscheinlich wäre ich ihr sogar bis nach Kanada hinterhergepaddelt und irgendwo mit einem breiten Lächeln auf dem Gesicht ertrunken. Hinter der Brandung war der See nicht mehr so kabbelig. Wir ließen uns treiben.

»Früher habe ich im Sommer als Rettungsschwimmerin gearbeitet.« Auf dem leeren dunklen See hörte ihre Stimme sich einsam an.

»Wo?«

Sie nickte in die Richtung von Michigan. »In Harbor Springs.«

Harbor Springs war mir ein Begriff. Zumindest hatte ich Fotos davon gesehen. Klares, blaues Wasser, breite Sandstrände und dicke Rasenteppiche, die sich zu Häusern mit Giebeldächern hochwellten, mit umlaufenden Veranden und Korbmöbeln. Männer mit blendend weißen Zähnen und schweren Golduhren. Frauen mit makellosem Teint und breitrandigen Hüten. Gebräunte Menschen, die ewig lebten und Gin Tonic tranken.

»Soll ganz nett sein«, sagte ich.

»Da komme ich her.«

»Ach ja?«

»Jeder kommt irgendwoher. Es ist wie eine zweite Haut. Chicago war für mich wie eine andere Welt.«

»Kann ich mir denken.«

Für eine Weile traten wir stumm Wasser. Der Himmel war schwarz und tief, unglaublich weit, mit einer Handvoll bleicher Sterne bestreut. Dann kam eine Brise auf, und mein Körper verkrampfte sich in der Kälte. Sarah schien gegen die Kälte immun zu sein.

»Ich bin kein großer Schwimmer«, bekannte ich.

»Dafür hältst du dich aber ziemlich gut.«

Eine Welle schnappte nach meinem Kinn. Ich spuckte einen guten Schluck Wasser aus. »Es ist trotzdem saukalt.«

Sie lachte. »Komm her, ich wärme dich.«

Sarah schwamm zu mir und schlang ihre Beine um mich. Ich spürte die Kraft ihrer Schenkel.

»Wenn du zum Rettungsschwimmer ausgebildet wirst, lernst du, die Körperwärme zu teilen.« Sie spie eine winzige Wassermenge aus.

»Echt wahr?« Ich klang heiser und rang nach Atem.

»O ja.« Sarah umschlang mich noch fester und rieb sich an mir. Die Wassertemperatur dürfte bei fünfzehn Grad gelegen haben, aber bei mir tat sich was. Und Sarah musste es spüren. »Warm zu bleiben ist wichtig«, sagte sie. Ihr Gesicht war nur weniger Zentimeter von meinem entfernt, ihre Arme lagen auf meinen Schultern.

»Soso.«

Sie nickte, während wir von einer Welle getragen wurden. Ich wurde an Sarah gedrückt. Diesmal war es ein richtiger Kuss, lang, tief und nass. Ich spürte ihre Brüste und durch den Stoff ihres BH die harten Brustwarzen. Wir lösten unsere Münder voneinander, doch unsere Körper blieben in Kontakt. Ihre Augen waren geschlossen, der Kopf zurückgelegt. »Schön.« Sarah öffnete die Augen und bespritzte mich. »Los, wir schwimmen um die Wette zurück.« Schon tauchte sie unter und durchschnitt das Wasser in Richtung Strand. Ich schwamm ihr nach, bis die Wellen uns auf den Sand schoben. Sarah erhob sich aus den Fluten. Ich hielt mich noch kurz in der Brandung auf, was mir, offen gestanden, gelegen kam, denn bevor ich mich an den Strand wagen konnte, musste Mutter Natur erst mal zur Ruhe kommen. Also ließ ich mich treiben und sah Sarah zu, die ohne jede Scham über den Strand lief. Ihr fester, gebräunter Körper zeichnete sich in der Dunkelheit ab. Schlanke, muskulöse Beine, vollendet proportioniert. Sie war schön. So schön, wie man nur sein konnte. Und plötzlich machte mich das traurig.

Sie sammelte ihre Kleidungsstücke ein, setzte sich auf einen Felsen und zog sich an. Als ich sicher war, dass ich es wagen konnte, verließ ich den See. Sie saß da und wartete auf mich.

»Das hat Spaß gemacht.« Sie reichte mir den Wodka, aber ich hatte keine Lust mehr zu trinken. »Spaß« war nicht das Wort, das mir durch den Sinn ging, obwohl ich es vor einer Stunde noch zutreffend gefunden hätte. Hatte die Grenze sich verschoben? Waren Sarah Gold und Ian Joyce ein Paar? Ich kicherte und griff nach der Flasche.

»Worüber lachst du?«, fragte Sarah.

»Der Mensch sollte nie über sich hinausstreben.«

»Robert Browning. Aber so hat er das nicht gesagt. Oder gemeint. Es war sogar genau das Gegenteil.«

»Inwiefern?«

»Das Zitat heißt: ›Wenn unser Streben nicht größer ist als unsere Reichweite … Wozu gibt es dann den Himmel?‹ Englische Literatur war einer meiner Schwerpunkte im Grundstudium.«

»Ich gebe mich geschlagen.«

Sie gab mir einen spielerischen Knuff in die Seite. Wir machten uns auf den Rückweg, die Hände lose ineinander verschränkt. Es bedeutete nicht viel und doch alles. Nach etwa dreihundert Metern ließen wir uns wieder nieder. Ich glaubte, am Rand des Ufers einen Schatten zu sehen, aber es war nur der Wind, der Wasser über den Sand wehte. Sarah fand einen glatten Stein und schleuderte ihn in die Dunkelheit hinaus.

»Das bleibt nicht mehr lange so«, sagte sie.

»Was?«

Mit einer Hand wedelte sie über die vereinzelten Lichter in der Ferne hinweg. »Na, das. Northwestern, die Uni, dieses Scheinleben.«

»Du hältst das für ein Scheinleben?«

»Absolut. Was glaubst du, wie viele durchdrehen, wenn sie daran denken, dass es irgendwann vorüber ist.«

»Du kommst mir nicht wie jemand vor, der wegen irgendwas durchdreht.«

»Nein?« Sie drehte sich auf den Bauch und ließ Sand durch ihre Finger rieseln. »Im ersten Semester saß ich vor dem Norris Center auf einer Bank. Allein. Mitten am Tag. Leute liefen an mir vorüber. Ich habe gelächelt und mir gesagt, alles wird gut. Dass ich schon immer beliebt war. Dann habe ich auf meine Hände geschaut. Sie hatten sich in meine Handtasche gekrallt. Mein Herz hat dermaßen gehämmert, dass ich dachte, es sprengt meine Rippen.«

»Aber warum?«

»Weil meine Welt größer wurde. Ich wusste nicht, ob ich mithalten konnte.«

»Du hältst durchaus mit, Sarah.«

»Jetzt, nach vier Jahren, weiß ich das auch. Aber es gibt immer einen nächsten Schritt. Eine nächste Ebene.«

»Und davor hast du Angst?«

»Manchmal. Dann wieder sehne ich mich danach. Nach etwas Realem.«

Ein heftiger Windstoß fuhr über den Strand.

»Es wird kalt«, sagte ich.

»Die Geschichte heute mit den Cops, glaubst du, die war so was?«

»Etwas Reales? Schwer zu sagen. Mir kam sie ziemlich real vor.«

»Havens macht mir ein bisschen Angst.«

»Das sollte er auch.«

»Ach, lass uns über was anderes reden.«

»Einverstanden.«

Sie rieb die Kante ihres Fußes an meinem Fuß. »Ich bin froh, dass wir im See geschwommen sind.«

»Ich auch.« Ich machte eine Pause. »Vielleicht sollte es unser Geheimnis bleiben.«

»Bin ich dir peinlich, Ian Joyce?«

»Ich bitte dich.«

Sie setzte sich auf und gab mir einen Kuss auf die Wange. »Es würde sowieso nicht funktionieren.« Ihre Stimme war nur ein Hauch, kaum mehr als ein betrunkenes Wispern.

»Ich weiß.«

»Hätte aber nett sein können.«

»Wir wär’s, wenn wir das Thema wechseln.«

Sarah verstummte. Wir lauschten dem Rauschen der Brandung.

»Freunde?«, fragte sie.

»Aber sicher.«

Wir saßen in der Dunkelheit und sahen den Wellen zu, auf dem Sand zwischen uns eine so gut wie leere Flasche und die Totgeburt unserer Romanze. Nach einer Weile wurde es selbst für Sarah zu kalt. Ich bot ihr meine Jacke an, und sie nahm sie. Den restlichen Weg zum Campus legten wir Hand in Hand zurück. Ich vergewisserte mich, dass sie ihren Wagen fand. Dann ging ich nach Hause. Ich war ziemlich angetrunken, hatte Kopfschmerzen und fragte mich, wie gut ich schlafen würde. Wie sich herausstellte, war es kein Problem. Als ich die Augen schloss, kamen die Wellen, schwer und ölig. Sie trugen mich hinaus auf den See. Ich wartete auf den Strudel, der mich in die Tiefe zog.