ACHTZEHN
Ich wurde vom Klopfen an der Haustür wach. Als ich nach unten ging, stand Havens vor der Tür.
Ich ließ ihn rein. »Mann, es ist Sonntagmorgen. Was willst du?«
»Ich dachte, wir holen Sarah ab und frühstücken irgendwo. Es sei denn, sie ist schon hier.« Amüsiert schaute er die Treppe hoch.
»Fick dich, Havens.« Ich schubste ihn in die Küche. »Warte hier, bis ich mich angezogen habe.«
Während ich meine Sachen überstreifte, horchte ich nach unten und rechnete mit Havens’ Schritten, die seinen Erkundungsgang durch die Zimmer verrieten. Nichts dergleichen geschah. Als ich die Küche betrat, saß er am Tisch und las die Morgenausgabe der Tribune.
»Noch immer nichts über die Leiche in der Höhle.« Er schob die Zeitung weg. »Du hast also ein fotografisches Gedächtnis. Dürfte ich mal erfahren, weshalb ich dann den ganzen Kram kopieren musste?«
»Ich habe kein fotografisches Gedächtnis.«
»Aha. Dann zeig mir mal, an was du dich so erinnert hast.«
»Was ist mit Sarah?«
»Sie kann warten.«
Ich holte meine Notizen, die Havens studierte, während ich Kaffee kochte. Als er seine Lektüre beendet hatte, schichtete er die Seiten zu einem ordentlichen Stapel und faltete die Hände darauf.
»Nicht schlecht, Joyce. Kommt mir wie gerufen.«
»Im Ernst? Da bin ich aber überglücklich.«
Sarkasmus schien auch zu den Dingen zu gehören, die bei Havens nicht funktionierten.
»Möchtest du sehen, woran ich gerade arbeite?«
»Warum nicht.«
Wir gingen hinaus zu seinem Wagen. Havens ließ den Kofferraum aufschnappen. Auf dem Boden befanden sich drei stabile Kartons. Ich hob einen heraus. Er war schwer. An der Seite standen in Leuchtschrift Namen, Daten und Fallnummern.
»Ich war fleißig.« Havens grinste.
»Scheint so. Was ist da drin?«
»Am besten, wir bringen alles ins Haus.«
Wir schleppten die Kartons in mein Wohnzimmer.
»Hat Sarah dir von ihrer Materialsichtung erzählt?«, erkundigte ich mich.
»Sie hat gesagt, das meiste war mit schwarzen Balken unkenntlich gemacht worden. Was war mit den Cops, die dich angehalten haben?«
Ich schilderte ihm den Zwischenfall. Havens hörte aufmerksam zu.
»Da macht sich jemand Sorgen«, sagte er.
»Exakt meine Meinung.«
Er klappte einen Karton auf und holte Akten heraus.
»Was sind das für Akten?«, fragte ich.
»Hast du schon mal was von ViCAP gehört?«
»Nein.«
»Es steht für Violent Crimes Apprehension Program und ist ein Computerprogramm des FBI, mit dem Gewaltverbrechen analysiert und kategorisiert werden.«
»Und welche Kategorien sind das?«
»Alles Mögliche. Typen, die ihre Opfer fesseln. Leute, die ein Messer benutzen oder einen Strick. Andere Kategorien versammeln die Formen sexueller Übergriffe. Mit ViCAP wird die Signatur eines Verbrechens identifiziert und mit ähnlichen Fällen verglichen, sodass die Polizei nach Mustern suchen kann.«
»Und zu diesem Programm hast du Zugang?«
»Nein, aber einer meiner Juraprofs in Chicago. Ich musste ihm nur sagen, dass ich die Knalltüten von Evanston mal vorführen will.« Havens zwinkerte mir zu. »Also habe ich den Fall Harrison durch das System laufen lassen. War ziemlich interessant.«
Havens zog einen Laptop aus einem Karton und schaltete ihn ein. »Ich habe alle Details eingegeben, die mir eingefallen sind. Alter des Opfers. Entführung. Schule. Wassernähe. Strangulierung, Ertränken. Hinweis auf ein Messer.«
»Und?«
»Dann habe ich mich auf die Region Chicago und Umgebung konzentriert. Und den Zeitraum auf fünf Jahre rund um den Fall Wingate abgesteckt.«
Ich hatte einen schweren Kopf, und Havens machte mich so kribbelig, dass ich wünschte, er würde allmählich mal zum Punkt kommen. Aber der Jurist in ihm pochte offenbar auf methodisches Vorgehen.
»Die fünf Jahre habe ich gewählt, weil ich sie für einen sinnvollen Zeitrahmen halte, in dem ein Mörder aktiv ist. Wenn du dir die Forschungsergebnisse über den Großteil der Serientäter –«
»Jake, was hast du herausgefunden?«
Havens deutete auf zwei leuchtend hervorgehobene Fallnummern eines Dokuments, das er auf seinem Laptop geöffnet hatte. »Zwei Fälle aus den beiden Jahren vor Wingates Tod.«
»Von wann genau?«
»Pass auf.« Havens griff in einen Karton und zog eine Mappe mit einem grünen Reiter daran heraus. Am Deckblatt haftete das Foto eines lächelnden Jungen in Baseball-Kluft. »1996. Billy Scranton aus Indiana. Mit zwölf Jahren von zu Hause ausgerissen. Man hat ihn halb vergraben in dem Naturschutzgebiet gefunden. Vielleicht eine Meile von Skylars Grab entfernt. Er war ertränkt und möglicherweise stranguliert worden.«
Vor mir fiel die nächste Mappe auf den Tisch. Diesmal steckte am Deckel der verschwommene Schnappschuss eines schwarzen Jungen.
»1997. Richmond Allen. Vierzehn Jahre alt. Auch von zu Hause abgehauen. Er wurde in einem Waldgebiet im Süden Chicagos entdeckt. Zwanzig Meilen von Caldwell-Woods entfernt, aber nahe einem See. Hatte einen Strick um den Hals. Genau wie Skylar. Und Wasser in der Lunge.«
»Und kein Mensch hat die Fälle je miteinander in Verbindung gebracht?«
Havens schüttelte den Kopf.
»Sind sie noch immer ungelöst?«
»An der Stelle wird’s interessant.« Havens öffnete den nächsten Karton und holte einen Stapel Mappen mit roten Reitern heraus. Woher hatte er das Zeug? Und wann hatte er die Zeit für seine Recherche gefunden?
»Beide Fälle wurden ›gelöst‹.« Havens malte mit zwei Fingern jeder Hand Anführungszeichen in die Luft. »Denk dran, dass die DNA-Analyse damals noch in ihren Anfängen steckte. Ein äußerst schwieriges Unterfangen. Kostspielig. Noch nicht ganz eindeutig.«
»Also wurde in keinem der Fälle eine angefordert.«
»Richtig. Im Fall Scranton hat man den Täter anhand von Fasern überführt, die angeblich von seinen Wagensitzen und seinem Jackett stammten. Ungefähr wie bei Wayne Williams, einem Mörder aus Atlanta.«
»Ich weiß, wer Wayne Williams war.«
»Bei Allen waren Blutspuren ausschlaggebend.«
»Was war mit Zeugen?«
»Gab keine. Beide Angeklagten hatten Pflichtverteidiger.«
»Und was ist aus den beiden geworden?«
»Einer hat lebenslänglich gekriegt, der andere wurde zum Tode verurteilt. Ich könnte dir ihre Namen nennen, aber sie sind nicht relevant.«
»Verdammt noch mal, natürlich sind sie relevant. Wir können mit ihnen reden. Wenn wir ihre Unschuld beweisen und sie mit dem Fall Wingate verbinden –«
»Sie wurden im Gefängnis umgebracht. Da hatten sie nicht mal ein Jahr lang gesessen. Mein Prof kennt einen Typ in der Justizbehörde, der mir nähere Einzelheiten geben könnte.«
Havens drehte den Bildschirm zu mir herum. Ich las, dass ein Häftling namens Michael Laramore mit Verpackungsdraht erwürgt in seiner Zelle gefunden wurde. Einen anderen, mit Namen Jason Tyson, entdeckte man am Gefängnisladen von Stateville. Ihm hatte jemand fünf Zimmermannsnägel in die Stirn geschlagen. Zusammen mit James Harrison ergab das drei Verurteilungen und drei Leichen.
»Unfassbar«, sagte ich.
»Da sagst du was«, meinte Havens gelassen. »Ist noch Kaffee übrig?«
Wir gingen wieder in die Küche. Havens bestand darauf, eine frische Kanne aufzubrühen. Ich zeigte ihm, wo alles war. Dann kehrte ich ins Wohnzimmer zurück und sah mir den Rest seines Materials an. Kein Wunder, dass Havens in Chicago bei den Juristen die Nummer eins gewesen war. Sarah und ich hatten aus meinen halben Erinnerungen zehn Seiten zusammengestoppelt, während unser Kommilitone den Fall Wingate auf schlüssige Weise mit zwei anderen Morden verknüpft, Hintergrundmaterial gesammelt und die wesentlichen Punkte in kurzen Memos zusammengefasst hatte. Als Havens sich wieder zu mir gesellte, hatte er eine Tasse frischen Kaffee in der Hand. Ich ging durch den Autopsie-Bericht über Billy Scranton. Unter ihm lag ein erster Polizeibericht. Die Akte Allen enthielt ähnliche Unterlagen.
»Wie bist du an die ganzen Informationen gekommen?«, fragte ich.
»Na, über ViCAP. Das Material über einen Mordfall kannst du auch ohne offiziellen Antrag einsehen. Schau dir das an.« Havens kramte zwei Fotoabzüge aus einem Karton hervor und legte sie nebeneinander auf den Tisch.
»Was sind das für Verletzungen?«, erkundigte ich mich.
»Bisswunden. Beide Jungen wurden während des Übergriffs gebissen.«
Ich starrte auf die hellen Male auf ihrer Haut. »Auch bei Wingate hieß es, dass er möglicherweise gebissen wurde.«
»Weiß ich.« Havens warf die Fotos auf die anderen Unterlagen.
»Hätte man das Muster nicht erkennen müssen?«, sagte ich. »Ich meine, damals.«
»Nicht unbedingt. Die Verbrechen haben über drei Jahre verteilt stattgefunden. Und zu der Zeit hatten die örtlichen Polizeistellen noch keinen Zugang zu ViCAP.«
Havens trank einen Schluck und verzog das Gesicht. »Wie alt ist das Kaffeepulver eigentlich?«
»Scheiß auf den Kaffee. Sag mir lieber, was wir jetzt mit diesem ganzen Zeug anfangen.«
»Wir können einen Antrag auf Einsicht in das Beweismaterial der beiden Fälle stellen. Allerdings möchte ich wetten, dass alles wie bei Wingate bereinigt worden ist.«
»Von wem?«
»Von dem, der hinter der Vertuschung steckt.« Havens setzte sich an den Tisch. »Ich habe darüber nachgedacht.«
Ich deutete auf den Stapel Unterlagen. »Das sieht man.«
»Bist du auch der Meinung, dass die drei Jungen von ein und demselben Täter umgebracht worden sind?«
»Bin ich.«
»Und dass derjenige nicht mehr aktiv und vermutlich sogar tot ist?«
»Wingates Fall liegt etwa fünfzehn Jahre zurück. Der Täter muss nicht tot sein, aber vielleicht ist er nicht mehr aktiv.«
»Mein Punkt war eher, dass noch jemand frei herumläuft, der drei Männer übelst gelinkt hat und damit durchgekommen ist. Ich tippe auf einen Cop.«
»Und wer soll das sein? Schwebt dir da schon jemand vor?«
»Fick dich. Wir schauen einfach, wohin uns das Material führt.«
Ich betrachtete die Mappen. Billy Scranton sah mich an. Ein Junge, der im Alter von dreizehn Jahren ermordet wurde.
»Und um den Jungenmörder kümmern wir uns nicht mehr?«
»Wenn wir etwas über ihn finden, gehen wir der Sache natürlich nach. Aber im Moment konzentrieren wir uns auf das, was wir wissen. Und das ist, dass irgendjemand im Cook County die Angewohnheit hat, Unschuldige zu linken und in die Todeszelle zu verfrachten.«
»Hast du Sarah von deinen Theorien erzählt?«, fragte ich.
»In groben Zügen.«
»Was ist mit Z?«
»Was soll mit ihr sein?«
»Wird sie uns die Geschichte abnehmen?«
»Vielleicht wird ihr nichts anderes übrig bleiben.«
»Was soll denn das schon wieder heißen?«
Havens wollte antworten, doch in dem Moment piepste sein Laptop und meldete den Eingang einer E-Mail. Gleich darauf summte mein Handy. Z hatte sich bei uns beiden gemeldet. Obwohl es Sonntagmorgen war, wünschte sie uns in einer Stunde im Seminarraum zu sehen.