DREIUNDVIERZIG
Keiner sprach es aus, aber wir spürten es beide. Wir mussten Antworten finden, um jeden Preis, und das, bevor uns das Vergangene einholte und wir in irgendeiner Zelle landeten. Oder man uns einfach umbrachte. Oder alles zusammen. Deshalb machten wir weiter, zahlten die Mautgebühr für die Indiana und rasten Richtung Michigan, im Rückspiegel der Geist von Marty Coursey.
Finn wohnte in einem kleinen, baumbestandenen Gebiet nördlich von Bridgman. Ihr Haus stand auf einer Klippe mit Blick über den Lake Michigan. Jake parkte seinen Wagen in einer Meile Entfernung. Wir gingen hinunter zum Strand, um uns das Haus von dort aus zu besehen.
»Was glaubst du, wie viel die Hütte wert ist?«, fragte Havens.
Es war ein altes Haus, dessen ehemals weiße Fassade dank Wind und Wetter grau geworden war. Ein einsamer Turm stach in den Himmel, eine Treppe wand sich hinunter zum leeren Strand. Eine Anlegestelle ragte ins Wasser hinaus, an deren Ende ein sechs Meter langer Whaler vertäut lag.
»Egal, wie viel es wert ist«, sagte ich. »Sie konnte es sich offenbar leisten. Komm, lass uns die Sache bereden.«
Nach einer Viertelmeile fanden wir eine passende Stelle und setzten uns auf den Sand. Dann und wann brach die Sonne unter der Wolkendecke hervor. Der frische Wind roch nach Regen. Ich schaute über die Wellen und erkannte im leichten Dunst auf der anderen Uferseite die Skyline von Chicago.
»Also«, begann Havens. »Was sollen wir jetzt machen?«
»Wir gehen in das Haus.«
Er schnaubte und schleuderte einen Stein ins Wasser. »Einfach so?«
»Was meinst du, hat Finn etwas mit der Sache zu tun?«, fragte ich.
»Sarah geht fest davon aus. Z auch.«
»Z vermutet es offenbar«, sagte ich.
»Oder sie lügt.«
»Ich glaube nicht, dass Finn noch immer in Chicago mitmischt.«
»Und warum sind wir dann hier?«
»Weil sie die Einzige ist, die aus der ursprünglichen Gruppe übrig ist. Vielleicht weiß sie, wie es nach der Auflösung des Kommandos weitergegangen ist. Könnte doch sein, dass sie bereit ist, darüber zu reden.«
Havens raffte den nächsten Stein auf. Diesmal zielte er auf eine Möwe, die uns von einem Stück Treibholz her anstarrte. »Darf ich raten? Du willst zu dem Haus hochlaufen und an der Vordertür klopfen.«
»Ich dachte eher an die Hintertür. Oder ein geöffnetes Fenster.«
»So was nennt man Einbruch, Joyce.«
»Dann mal los.«
Wir kletterten die Treppe hoch. Oben angekommen, suchten wir hinter den Bäumen Schutz, die das Grundstück säumten, und wagten uns langsam weiter vor. Je näher wir dem Haus kamen, desto verfallener sah es aus. Die Treppenstufen zur Veranda waren geborsten, ein Geländer war abgebrochen und lag hinter dem Haus im Gras. Links und rechts des Hauses wuchsen struppige Hecken, und zwischen zwei Bäumen war eine alte Hängematte gespannt.
»Wie ist dein Eindruck?«, fragte ich.
»Eine Bruchbude«, entgegnete Havens.
»Ich schätze mal, das da könnten wir aufbrechen.« Ich zeigte auf ein kleines Fenster im Erdgeschoss.
»Womit?«, fragte Havens. »Und wozu?«
In dem Augenblick ging die Hintertür auf, und eine Frau trat heraus. Sie trug eine riesengroße Sonnenbrille und einen breitrandigen Hut, unter dem weißes Haar hervorquoll. Sie war hochgewachsen, ihr Rücken jedoch gekrümmt. Aus einem geblümten Beutel zog sie eine Cremetube heraus, drückte einen langen Streifen in ihre Hände und massierte ihn in die faltige Haut ihres Gesichts und ihrer Arme. Dann steckte sie die Tube zurück, folgte einem Pfad, der am Haus entlangführte, und verschwand durch eine Lücke in der Hecke.
»Auf geht’s«, sagte Havens.
Wir schlichen über denselben Pfad, bis wir auf eine Wiese stießen, umgeben von gestutzten Bäumen und Sträuchern. In der Mitte stand ein Stahlschuppen. Die Frau öffnete die Tür und trat hinein. Havens rannte los, doch die Tür fiel zu, ehe er auch nur in der Nähe war. An einer Seite des Schuppens befanden sich ein schwerer Generator und etwas, das wie eine vorsintflutliche Klimaanlage aussah. Havens deutete auf die Stromleitungen über uns.
»220 Volt.«
Gleich darauf stieß er mich in die Seite und wies auf das Tastenfeld neben der Tür.
»Was ist damit?«
»Schau es dir an.«
Leise näherten wir uns der Tür. Die Zahlen auf den Tasten reichten von Null bis dreißig. Auf vieren von ihnen waren fettige Fingerabdrücke zu erkennen. Havens grinste und zeigte auf die unterste Taste. Sie trug das Zeichen »#« und einen weiteren Fettabdruck.
Wir krochen über den Pfad zurück. Ich spürte die Versuchung, durch das kleine Fenster unten ins Haus einzusteigen, aber Havens zerrte mich zu den Bäumen. Das war unser Glück, denn kurz darauf tauchte die Frau auf dem Pfad auf und ging wieder ins Haus. Zwanzig Minuten später öffnete sich das Garagentor, und ein Lexus fuhr heraus. Die Frau saß am Steuer, allein. Wir sahen dem Wagen auf dem Weg über die Einfahrt nach.
»Das dürfte Finn gewesen sein«, sagte Havens.
»Muss sie gewesen sein«, sagte ich. »Was ist mit dem Schuppen?«
»Kannst du dich noch an die Zahlen erinnern?«
Ich nickte.
»Kriegst du die Tür auf?«
»Ich kann es versuchen.«
»Worauf warten wir dann noch?«
Wieder schlugen wir den Weg zu dem Schuppen ein. Dabei rechnete ich die Kombinationsmöglichkeiten aus. Wenn ich davon ausging, dass sich keine der Nummern wiederholte, bedeuteten vier Zahlen plus Nummernzeichen hundertzwanzig Möglichkeiten. Am Schuppen angekommen, setzte ich mich auf den Boden, lehnte mich an die Wand, schloss die Augen und setzte im Geist eine Zahlenreihe zusammen. Havens stand wartend vor dem Tastenfeld.
»Fertig?«, fragte er.
»Ja, glaub schon.«
Auf meinen Augenlidern flackerte eine Kombination auf. Ich las sie Havens vor, und er gab die Zahlen ein. Fehlanzeige. Ich versuchte es noch einmal. Wieder nichts. In der Stille hörte ich die Wellen, die sich auf den Sand wälzten und zurückwichen. Dann Jakes Stimme, die nach der nächsten Zahlenreihe verlangte. Dann nach der vierten. Auf die Zauberformel stieß ich beim achtunddreißigsten Versuch. Die Tür ging auf, und wir betraten den Schuppen.
Innen war es dunkel. Ein kalter Luftzug trocknete den Schweiß auf meiner Haut, ein Schauer lief über meine Arme. Gänsehaut. Havens ertastete einen Lichtschalter. Deckenleuchten flammten auf, und wir standen in einem Raum, in dem irgendwann einmal ein Labortechniker gearbeitet haben musste. An der Stirnseite zog sich ein Tisch mit schwarzer Granitoberfläche entlang, an jedem Ende ein Becken aus Edelstahl. Darüber hingen Wandschränke aus hellem Holz. Auf dem Tisch befanden sich zwei Ständer, einer mit Reagenzgläsern, der andere mit Pipetten, des Weiteren ein Computer und drei Mikroskope. Vor dem Tisch standen drei Hocker. Von irgendwoher zu unserer Linken drang das leise Klopfen und Ächzen eines Druckluftkompressors.
»Was ist hinter der Tür da?«, sagte Havens.
Wir drückten sie auf und gelangten in eine Kammer. Der halbe Raum wurde von einem begehbaren Kühlschrank und drei schwarzen Schränken beherrscht. Auch in die Tür des Kühlschranks war gleich über dem Griff ein Tastenfeld eingelassen – diesmal allerdings leider ohne Fettabdrücke.
»Was meinst du?«, fragte Havens.
Ich gab die Kombination der Eingangstür ein. Nichts. Ich versuchte es ohne das Nummernzeichen. Noch mal nichts.
»Probier’s mal in der anderen Reihenfolge«, schlug Havens vor.
»Was versprichst du dir davon?«
»Mach es einfach. Diesmal aber mitsamt dem Zeichen.«
Ich gab nach. Die Tür sprang auf.
»Techniker«, sagte Havens. »Phantasielose Idioten.«
Als wir in den Kühlschrank traten, ging ein Lämpchen an. Wir sahen Metallfächer, auf jedem zehn bis fünfzehn Reagenzgläser. Ich nahm eins heraus. Es enthielt eine gelbliche Flüssigkeit. Ich las die Angaben auf dem aufgeklebten Etikett.
Person 26 D
25. 8. 06
Spermien, kein Verfallsdatum.
—
»Was sagst du dazu?«, fragte ich.
»Ganz schön schräg.«
»Weiter nichts?«
»Ich dachte, dass Spermien ein paar Stunden nach der Ejakulation zerfallen.«
»Aber die DNA kann man vielleicht trotzdem nachweisen«, sagte ich. »Das würde genügen, um einen Tatort damit zu präparieren.«
Havens griff nach dem nächsten Reagenzglas. Auf diesem Etikett stand:
Person 3 B
Blut, Verfallsdatum 2013, siehe
Personenübersicht.
Havens legte das Glasröhrchen zurück. »Da kommt mir ein Gedanke.« Er verließ den Kühlschrank und beäugte die schwarzen Schränke. »Abgeschlossen«, murmelte er. »Aber nur mit Schlüsseln.«
»Suchst du was Bestimmtes?«
»Ja, den Code, der mir sagt, was in dem Kühlschrank ist. Ich will die Namen der Personen. Was meinst du, wie lange sind wir schon hier drin?«
»Seit etwa fünf Minuten.«
»Dann haben wir noch Zeit.«
Havens lief zügig aus dem Schuppen und joggte über den Pfad zum Haus zurück. Ich folgte ihm. Die Hintertür war abgeschlossen, doch das kleine Fenster daneben stand einen Spaltbreit offen. Wir stießen es auf, zwängten uns hindurch und fanden uns in einem Wohnzimmer wieder. Es war ein großer, schäbiger Raum, mit einem langen Plüschsofa am anderen Ende, zwei Beistelltischen und einem Sesselpaar. Nirgendwo hingen Bilder. Auch sonst gab es keine Hinweise darauf, dass hier jemand lebte. Nur eine Katze saß auf dem Kaminsims und miaute uns an. Havens durchquerte das Zimmer und verschwand in dem angrenzenden Flur. Ich lief hinterher und entdeckte ihn in einem kleinen Arbeitszimmer, das fast ganz von einem Metallschreibtisch eingenommen wurde.
»Hier müssen sie sein«, sagte Havens.
»Was?«
»Ich sag es noch mal, Techniker. Leute ohne Phantasie. Entweder hat Finn die Schrankschlüssel bei sich, oder sie liegen irgendwo hier im Haus. Und wenn sie sie mitnimmt, könnten hier noch Ersatzschlüssel sein.«
Er zog die Schreibtischschubladen eine nach der anderen auf und kramte in jeder herum. In der untersten fand er einen kleinen Ring mit mehreren Schlüsseln daran und ließ sie vor meiner Nase klimpern. »Was sagst du nun?«
»Dass es einen Versuch wert ist.«
»Aber so was von.«
Wie der Wind waren wir wieder im Schuppen. Alles schien noch so, wie wir es verlassen hatten. Havens probierte die Schlüssel nacheinander am ersten Schrank aus. Der dritte Schlüssel drehte sich, die Tür ging auf.
»Ich glaub, ich sehe nicht recht«, sagte Havens. Ich schaute ihm über die Schulter. Auf den Schrankregalen stapelten sich Videokassetten, die nach Themen sortiert waren.
Todesfälle (Trunkenheit am
Steuer, Unfälle, Morde)
Vergewaltigung (Dates,
Unbekannte)
Sex (Prostituierte, Ehefrauen, Freundinnen,
sämtlich erwachsen)
Kinder
—
Ich griff nach einer Kassette aus der Kategorie »Sex«. Sie war wie die Reagenzgläser beschriftet worden.
Person 11 A
5. 4. 95, Pony Lounge Motel, Lombard,
Dreier.
Havens widmete sich dem Nachbarschrank. Als er ihn geöffnet hatte, trat ich zu ihm. Wieder sah ich Videokassetten, ebenso einen Stapel brauner Ordner, auf deren Rücken »Fotos« stand. Ich bückte mich und entdeckte eine Mappe mit der Aufschrift »Zombrowski«. Ich schob sie unter mein Hemd. Havens war bereits mit dem dritten Schrank zu Gange und stöberte darin herum.
»Ist da was?«, fragte ich.
»Kann sein.« Im trüben Licht der kleinen Deckenlampe hielt er ein schwarzes Moleskine-Notizbuch hoch. Rechts unten auf dem Deckblatt klebte ein rotes Etikett, mit der Aufschrift »Mastercode«. Wir kehrten in den großen Raum zurück und setzten uns nebeneinander an den langen Tisch. Havens schlug die erste Seite des Notizbuchs auf. Oben erkannte ich den Namen eines früheren Gouverneurs von Illinois, der einmal für das Amt des Präsidenten kandidiert hatte. Er lief unter »Person 1 A«. Unter seinem Namen standen noch zwanzig andere. Bei einem handelte es sich um einen Senator aus Iowa oder »Person 9 A«, mit einem Querverweis zu »Sex/Sperma«. Auch zwei Stadträte von Chicago gehörten zu der Liste, der eine mit dem Zusatz »Person 14 A«, der andere war »19 A«. Der Querverweis lautete bei beiden »Todesfall/Trunkenheit am Steuer/Blut«. Dann gab es noch den Leiter einer lokalen Wohltätigkeitsorganisation und den CEO eines Großunternehmens, Letzterer war »3 C«. In seinem Querverweis stand »Kinder/Pädophile/Video«.
»Na, Superhirn, merkst du dir auch alles?« Havens wollte die nächste Seite aufschlagen. Ich nahm ihm das Notizbuch aus der Hand und klappte es zu.
»Was ist denn jetzt los?«, fragte Havens.
»Wir können das hier nicht alles durchlesen.«
»Lass uns wenigstens noch einen Blick hineinwerfen.«
»Nein, wenn schon, müssen wir es richtig machen.«
»Und wie soll das aussehen?«
»Ich glaube, wir sollten Rodriguez darüber informieren.«
»Traust du ihm?«
»Ja, ungefähr als Einzigem.«
»Warte mal.« Havens ging in die Kammer nebenan.
Ich hörte ihn in einem der offenen Schränke kramen und spürte das Gewicht des ledernen Notizbuches in der Hand. Als ein leichter Luftzug meinen Nacken streifte, drehte ich mich zur Eingangstür um, gerade noch rechtzeitig, um den Lauf des Gewehrs zu erkennen, ehe der Schaft gegen meinen Schädel krachte.
Meine Wange lag auf kalten Fliesen, ein Finger schob mir ein Augenlid hoch. Ich schielte nach oben, entdeckte den Saum eines schwarzen Kleids, dann eine Hand mit einer Pistole und schließlich ein Gesicht.
»Er ist bei Bewusstsein«, sagte Z und trat zurück. Marty Coursey schwamm in mein Gesichtsfeld. »Kennen Sie mich noch?«, fragte er, hob das Gewehr und schlug noch einmal zu. Das Letzte, woran ich mich erinnerte, war ein Schuss.