SECHSUNDVIERZIG
Wenn man ertrinkt, ist der Rachen der letzte Verteidigungswall, die Palastwache, wenn man so will. Ganz gleich, wie sehr man zu sterben wünscht, der Rachen verschließt sich, wenn er eine zu große Wassermenge spürt, und weiß, dass er alles tun muss, um die Lunge zu schützen. Es dauert nicht lange, nicht mehr als zehn, höchstens zwanzig Sekunden. Wenn der Mensch das Bewusstsein verliert, entspannt sich der Rachen wieder. In meinem Fall hatte der kurze Zeitraum ausgereicht. Der Taucher fand mich in fünfzehn Meter Tiefe und teilte seine Sauerstoffflasche mit mir. Dann lag ich auf dem Deck des Whalers und erbrach das trübe Wasser des Lake Michigan, bis ich Galle schmeckte. Michael Kelly sah mir wortlos zu. Er trug Handschuhe und hielt ein Gewehr mit Zielfernrohr in der Hand.
Eine Zeit lang keuchte und würgte ich noch. Wenig später kam der Taucher mit dem Schlüssel, den er gefunden hatte, und befreite mich von den Handschellen. Als Nächstes gab er mir eine Spritze, hüllte mich in eine Decke ein und reichte mir eine Tasse heiße Brühe. Ich setzte mich auf und lehnte mich gegen die Bordwand, an die ich vor einer Weile gefesselt gewesen war. Der Nebel über dem See war noch dichter geworden. Kelly hockte sich zu mir.
»Wie fühlen Sie sich?«
»Benommen, aber sonst ganz gut.« Ich lächelte. Dann sah ich, dass meine Hände zitterten. Ich berührte mein Gesicht und merkte, dass ich weinte.
»Lassen Sie sich Zeit«, sagte Kelly. »Wahrscheinlich stehen Sie leicht unter Schock.«
Ich wischte über meine Nase und trank einen Schluck Brühe. »Was ist überhaupt passiert?«
Kelly schaute zur Spitze des Boots. Wie auf Kommando klaffte eine Lücke im Nebel auf. Ich erkannte zwei Paar Füße, die Fersen zeigten nach oben. Ein Paar steckte in grünen Stiefeln, das andere in schweren schwarzen. Z und Coursey.
»Sind beide tot?«, fragte ich.
Kelly nickte. »Die Frau habe ich erschossen. Den anderen haben die Taucher entdeckt und aus dem Wasser gezogen.«
»Wie sind Sie hierhergekommen?«
»Rodriguez hat mich gebeten, Ihnen zu folgen. Das habe ich getan, allerdings mit großem Abstand. Hätte ja sein können, dass irgendjemand nach Verfolgern Ausschau hielt. Als ich an dem Strandhaus ankam, waren die beiden schon da. Ich habe das Boot an der Anlegestelle gesehen, Rodriguez angerufen und die Taucher angefordert.«
»Und was wäre gewesen, wenn sie vorgehabt hätten, uns im Haus umzubringen?«
»Das wäre Pech gewesen. Wenn ich versucht hätte, ins Haus zu gelangen, hätten die beiden Sie wahrscheinlich auf der Stelle erschossen.«
»Es war trotzdem riskant.«
»Ja, aber zum Glück hatten wir Nebel. Auf dem See konnten wir uns ziemlich nahe an sie heranwagen. Als der Motor ausgestellt wurde, sind zwei der Taucher ins Wasser gesprungen. Ich habe mich auf die Frau mit dem Gewehr konzentriert.«
»Sie haben es ganz schön eng werden lassen.«
Kelly zuckte mit den Schultern. In dem Augenblick fiel mir Jake ein. Kelly musste es meinem Gesicht angesehen haben.
»Ihr Freund ist in Sicherheit. Er war knapp eine Minute unter Wasser und wird gerade auf unserem Boot behandelt.«
Ich hörte das Tuckern eines Motors. Gleich darauf tauchte im grauen Dunst ein Polizeiboot auf und legte an unserer Seite an. Es hatte Rodriguez mitgebracht, der mit einem großen Schritt auf den Whaler sprang. Das Polizeiboot tuckerte wieder davon.
»Wie geht es ihm?«, fragte Rodriguez.
Kelly nickte in meine Richtung. »Stellt eine Menge Fragen. Ich denke, das ist ein gutes Zeichen.«
Rodriguez setzte sich zu mir.
Kelly raffte sich auf und trat an den Bug. Wir dümpelten noch immer auf dem See, als hätten wir kein Ziel, das wir ansteuern konnten.
»Jake kommt wieder auf die Beine«, sagte Rodriguez. »Er hat eine Bluttransfusion bekommen und wurde stabilisiert.« Er zeigte in den Nebel. »Jetzt wird er in ein Krankenhaus gebracht.«
»Danke, Detective.«
»Gern geschehen.« Rodriguez holte eine Packung Zigaretten aus der Tasche hervor und bot mir eine an.
Ich schüttelte den Kopf. »Ich rauche nicht.«
»Ich auch nicht, die Packung gehört Kelly. Aber es gibt Tage …« Er zündete seine Zigarette an. Kelly kam zu uns zurück. Rodriguez reichte ihm die Packung. Kelly schnappte sie sich und verschwand wieder. Rodriguez nahm nur einen Zug, ehe er die Zigarette ins Wasser warf. »Unsere Lage ist ziemlich knifflig, oder?«
»Ja. Tut mir leid.«
»Warum? Ist doch nicht Ihre Schuld. Im Gegenteil, wo wären wir denn ohne Sie? Sie haben nichts Falsches getan.«
Als wir von einer Welle gehoben wurden, knarzte das Boot.
»Warum sind wir noch auf dem Wasser?«, fragte ich. »Warum steuert keiner das Ufer an?«
»Gute Frage.« Mit einer Kopfgeste deutete Rodriguez auf die beiden Stiefelpaare. »Vielleicht fangen wir damit mal an.«
»Z und Coursey?«
»Ja, was sollen wir mit ihnen machen? Wenn wir sie abliefern, müssen wir erklären, wie sie gestorben sind. Und warum.«
»Das kann ich jedem erzählen.«
»Und was genau wäre das?«
»Dass Kelly keine andere Wahl hatte. Wenn er Z nicht erschossen hätte, wäre ich tot. Wenn –«
»Das sind Details«, unterbrach er mich. »Um die geht es nicht.«
»Um was dann?«
»Um den Schuppen, den Sie aufbekommen haben. Um den Kühlschrank und die Schränke.«
»Haben Sie sich den Inhalt angeschaut?«
»Nur ganz kurz.« Rodriguez zog das schwarze Moleskine hervor. »Wenn wir das, was geschehen ist, öffentlich machen und die Hintergründe erklären, dann –«
»– landen wir bei der Erpressung, und das Leben von zig Personen wird zerstört werden.«
»Richtig. Sagen wir mal, alles, was wir in dem Schuppen finden, kommt ans Tageslicht. Vielleicht hätte ich nicht mal was dagegen. Eine Handvoll Politiker wäre ruiniert, ja und? Oder sogar mehr als eine Handvoll, aber auch das kratzt mich nicht. Die Sache ist nur, dass einige der Fälle – oder wahrscheinlich die meisten – getürkt sind. Die Beweise könnten jemandem untergeschoben worden sein, wie bei Ihrem James Harrison, oder jemandem wurde eine Falle gestellt –«
»– wie mir, als sie Theresa auf mich angesetzt haben.«
»Solche Dinge eben.« Rodriguez betrachtete mich prüfend. Ich wusste, worauf er anspielte. Der Erpresserring des Trefferkommandos mochte in Chicago begonnen haben, aber inzwischen reichten seine Finger bis nach Washington, in die höchsten Kreise der Regierung. Jeder, der genannt würde, wäre erledigt, ganz gleich, ob er schuldig war oder nicht.
»Und was machen wir jetzt?«, fragte ich.
»Sie haben den Stein ins Rollen gebracht. Sie, Jake und Sarah. Und einen ziemlich hohen Preis dafür gezahlt.«
»Und weiter?«
»Deshalb ist die Frage, was Sie jetzt machen möchten.«
»Und das soll ich entscheiden? Das kann ich nicht.«
Rodriguez grinste. »Wer hat denn gesagt, dass Sie etwas entscheiden sollen? Ich wollte lediglich wissen, was Ihnen so vorschwebt.«
Ich hob die Schultern. »Ich weiß es nicht.«
»Gut«, sagte Rodriguez. »In Ihrem Alter ist das wahrscheinlich die beste Antwort. Deshalb machen wir Folgendes. Wir bringen Sie an Land, setzen Sie in einen Wagen und in ein paar Stunden sind Sie wieder zu Hause. Anschließend vergessen Sie alles, was Sie heute gesehen haben. Das Strandhaus, den Schuppen, dieses Boot. Es wird Leute geben, die Ihnen Fragen stellen, spätestens dann, wenn Ihre Professorin nicht zum Seminar erscheint. Aber Sie wissen von nichts, okay?«
»Okay.«
Rodriguez studierte meine Miene. »Falls Sie noch Fragen haben, fragen Sie jetzt.«
»Haben Sie Sally Finn gefunden?«
»Ja, in ihrem Strandhaus. Sie weiß nicht mal mehr, wie sie heißt.«
»Trotzdem müssen noch mehr Leute an der Geschichte beteiligt sein.«
»Nach unserem besten Wissen kannten nur Z und Coursey sämtliche Einzelheiten. Alle anderen auf ihrer Gehaltsliste haben nie mehr als kleine Informationsbrocken bekommen. Ich rede von Polizisten, Staatsanwälten, ein paar Reportern und einer großen Zahl Nutten. Mit ihnen werden wir uns noch unterhalten und den Polizisten und Staatsanwälten zu einer anderen Arbeit raten. Den Rest behalten wir im Auge und sehen zu, dass niemand auspackt.«
»Und das soll funktionieren?«
»Wäre nicht das erste Mal.«
»Und was machen Sie mit den beiden?« Ich deutete auf die Stiefelpaare.
»Lassen Sie es gut sein, Ian.«
»Sie setzen mich ab, kehren hierher zurück und werfen sie in den See.«
Rodriguez sah mich nur an. Hinter ihm tauchte Kelly auf.
»Sagen Sie es ruhig, Detective. Ich kann es verkraften.«
»Schön zu hören, denn genauso wird es laufen.«
»Worauf warten wir dann noch?«
Rodriguez hob die Hand und machte eine Kreisbewegung über seinem Kopf. Gleich darauf sprang der Motor an. Vierzig Minuten später stand ich auf der Anlegestelle des Strandhauses, mit einem Cop dicht an meiner Seite. Ehe der Whaler wieder ablegte, winkte Rodriguez mir kurz zu. Kelly stand neben ihm und beobachtete mich. Dann wurde das Boot vom Nebel verschluckt, und ich hörte nur noch das leiser werdende Tuckern.