7. Die Wirtschaftsregierung
Schauen wir uns jetzt die Wirtschaftspolitik in der Währungsunion an. Was sie tun muss, ist klar.
Sie muss dafür sorgen, dass sich die wirtschaftlichen Verhältnisse in den einzelnen Ländern nicht zu sehr auseinanderentwickeln. Sonst funktioniert das »One size fits all«-Prinzip der gemeinsamen Geldpolitik nicht. Das heißt, es dürfen keine zu großen Unterschiede in der Wettbewerbsfähigkeit und der Preis- und Lohnentwicklung entstehen. Es darf keine zu großen Leistungsbilanzsalden innerhalb der Gemeinschaft geben. Es darf auch nicht zu großen regionalen Ungleichgewichten kommen, die am Ende mit Arbeitsplatzverlagerungen und möglicherweise unerwünschten regionalen Konzentrationen verbunden sein können.
Sie muss darüber hinaus die Bedingungen so setzen, dass die Gemeinschaft insgesamt ordentlich wächst, dass genügend Arbeitsplätze geschaffen werden und dass Europa seine Stellung auf den Weltmärkten behält und vielleicht noch verbessert.
Und sie ist dafür verantwortlich, dass der marktwirtschaftliche Rahmen funktioniert. Dazu braucht es Maßnahmen zur Flexibilisierung der Arbeitsmärkte und zur Erhöhung der Mobilität der Arbeitskräfte. Nur dann kann ohne größere Reibungsverluste auf externe Schocks, zum Beispiel durch Veränderungen auf den Weltmärkten, reagiert werden. Auch das muss koordiniert werden. Es reicht nicht, wenn ein Land seine Arbeitsmärkte modernisiert und die anderen nicht. Denn dann gibt es Probleme bei der Wettbewerbsfähigkeit.
Notwendig sind auch Angleichungen bei der staatlichen Aufsicht über die einzelnen Märkte. Das gilt insbesondere natürlich auch für die Finanzmärkte. Es geht nicht an, dass die Aufsicht national ist, die zu beaufsichtigenden Unternehmen aber international agieren. Viele Probleme in der Finanzkrise beruhten darauf, dass die Aufsichtsbehörden nicht genug Einsicht in die Aktivitäten der Banken hatten. Die deutsche »Bafin« beispielsweise hatte bei der in Schwierigkeiten gekommenen Hypo Real Estate keinen Einblick in die irischen Geschäfte, die für das Institut am Schluss so wichtig geworden waren.
Schließlich geht es auch darum, Überhitzungen auf einzelnen Immobilienmärkten zu verhindern, wie sie etwa in Spanien vor der Krise aufgetreten sind. Es wäre gut gewesen, hätte Brüssel rechtzeitig einen Hinweis gegeben, dass sich hier eine Blase entwickelt. Auch übermäßige Lohnsteigerungen müssen vermieden werden, weil sie die Geldwertstabilität gefährden und auch dazu führen könnten, dass ein Land weniger exportieren kann und mehr importieren muss.
An sich sind das alles Selbstverständlichkeiten. Jeder weiß, dass eine Währungsunion nur dann funktioniert, wenn die Verhältnisse in den einzelnen Ländern nicht zu ungleich sind.
Warum sich Europa so schwertut
Wenn aber klar ist, dass man um mehr Koordinierung der Wirtschaftspolitik in einer Währungsunion nicht herumkommt, warum macht man es dann nicht? Die Diskussion über eine Wirtschaftsregierung in Europa wird schon lange geführt, eine wirkliche Lösung zeichnet sich dennoch nicht ab. Es sind vor allem die Franzosen, die dafür sind. Und es sind die Deutschen, die sich am stärksten dagegen wehren.
Zuletzt hat man sich darauf geeinigt, dass der Europäische Rat die Aufgaben der Wirtschaftsregierung übernehmen soll. Da macht man freilich den Bock zum Gärtner. Das geht nicht. Der Europäische Rat setzt sich aus den Staats- und Regierungschefs aller EU-Mitglieder, nicht nur der Euro-Länder, zusammen. Er kann also gar nicht als Counterpart der Europäischen Zentralbank agieren. Wenn er dies wollte, dann müsste er zunächst einmal eine Untergruppe bilden, in der sich die Euro-Mitglieder (plus vielleicht die, die es in absehbarer Zeit werden wollen) treffen und sich untereinander abstimmen – also eine Art Euro-Gruppe auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs.
Im Übrigen hat der Rat anderes zu tun, als sich speziell um Details der Wirtschaftspolitik in den einzelnen Ländern zu kümmern. Staatschefs sind für das große Ganze zuständig und nicht nur für den Einzelbereich Wirtschaft. Dazu sollte man die Wirtschaftsminister heranziehen, so wie das die Finanzminister in der Euro-Gruppe machen. Zudem ist der Rat ein großes Gremium ohne einen Stab mit wirtschaftspolitischem Sachverstand. Wenn jemand für die Aufgabe der Wirtschaftsregierung in Frage käme, dann wäre es nicht der Rat, sondern die Generaldirektion Wirtschaft und Finanzen bei der EU-Kommission.
Der entscheidende Grund, weshalb es um die Wirtschaftsregierung so viel Streit gibt, ist die Ordnungspolitik. Vor allem Franzosen und Deutsche haben unterschiedliche Auffassungen darüber, wie die Wirtschaft in der Union organisiert werden soll. Es geht hier im Wesentlichen um vier Punkte:
Der erste ist die Unabhängigkeit der Notenbank. Die Deutschen fürchten, eine Wirtschaftsregierung würde zu einem Gegenpol zur Europäischen Zentralbank; sie würde am Ende versuchen, Einfluss auf die Geldpolitik zu nehmen. Das aber gefährde die Preisstabilität. Ob das wirklich so kommt, darüber kann man freilich trefflich streiten. Solange die EZB sich von ihrem Kurs nicht abbringen lässt, kann eine Wirtschaftsregierung auch nichts Negatives bewirken. Manches spricht im Gegenteil dafür, dass die EZB an Ansehen gewinnen könnte, wenn sie wirklich einen Gegenspieler auf politischer Ebene hätte.
Ein zweiter Streitpunkt betrifft die Industriepolitik. In Frankreich nimmt der Staat traditionell Einfluss auf Unternehmen und sorgt dafür, dass französische Firmen im Wettbewerb nicht zurückbleiben. In Deutschland hat man sich dagegen jahrzehntelang gewehrt. Hier gilt, dass es Aufgabe des Staates ist, die Rahmenbedingungen in einer Marktwirtschaft zu setzen, und Aufgabe der Unternehmen, sich in diesem Rahmen und nach seinen Regeln zu bewegen. Die Wirtschaftsstruktur soll sich durch den Markt und nicht durch staatliche Interventionen ergeben. Der Markt weiß am besten, was gebraucht wird.
Wenn es nun eine europäische Wirtschaftsregierung gäbe, könnten die Franzosen geneigt sein, sie zu industriepolitischen Zwecken zu instrumentalisieren. Freilich muss man auch hier sagen: Die Franzosen könnten das nie allein durchsetzen. In einer europäischen Wirtschaftsregierung säßen auch Deutsche und Vertreter anderer Mitglieder, die den Franzosen Paroli bieten könnten, wenn sie wollten.
Es gibt auch – dritter Streitpunkt – die Sorge, eine europäische Wirtschaftsregierung führe zu einer Nivellierung der Wettbewerbsverhältnisse auf dem Niveau des Schwächsten. Die starken und die innovativen Kräfte, die auf den Weltmärkten erfolgreich sein könnten, würden am Ende auf der Strecke bleiben. Europa würde an Wettbewerbsfähigkeit verlieren. Die Gefahren der Nivellierung sind sicher gegeben, aber auch hier kommt es darauf an, wie eine Wirtschaftsregierung operiert. Es geht nicht um das »Ob«, sondern um das »Wie«.
Vierter Streitpunkt: Manche haben schließlich Angst, eine Wirtschaftsregierung würde zu sehr in die Verhältnisse auf Unternehmensebene eingreifen. Das gefährde die Marktwirtschaft. Der Staat würde zu stark. Der ehemalige deutsche Wirtschaftsminister Rainer Brüderle beispielsweise sah »eine Wirtschaftspolitik à la Colbert« als nicht erstrebenswert: »Wir wollen nicht Exporte in Brüssel genehmigen lassen.« (Brüderle 2011) Damit macht er es sich freilich zu leicht. Denn wenn es am besten ist, dass jeder in seiner nationalen Verantwortung agiert, dann fragt es sich, wieso die Ungleichgewichte in der Vergangenheit überhaupt aufgetreten sind.
Der Scorecard-Ansatz
Gesetzt den von heute aus gesehen noch fraglichen Fall, dass eine echte gemeinsame Wirtschaftsregierung etabliert werden soll: Wie geht man vor? Was hierzu derzeit am meisten diskutiert wird, ist der sogenannte »Scorecard«-Ansatz, den die EU-Kommission beziehungsweise die Rompuy Taskforce vorgeschlagen hat. Im Kern geht es dabei um die Bewertung der Wirtschaftspolitik der einzelnen Mitgliedstaaten.
Eine Scorecard ist eine Punktetafel. Auf ihr wird festgehalten, wie gut oder wie schlecht ein Land im Hinblick auf verschiedene wirtschaftspolitische Kriterien abschneidet. Man schaut sich beispielsweise die Leistungsbilanz an und bewertet den Saldo. Hat ein Land ein hohes Defizit, dann bekommt es entsprechende Minuspunkte. Andere Kriterien können die private Verschuldung sein, die öffentliche Verschuldung, die Wettbewerbsfähigkeit gemessen am realen effektiven Wechselkurs oder aber auch der Anstieg der Immobilienpreise. Auf diese Weise kann man feststellen, wo Handlungsbedarf in den einzelnen Volkswirtschaften besteht und was man tun kann, um die Ungleichgewichte zu beseitigen.
Auf den ersten Blick erscheint dies ein vernünftiges Verfahren. Aber ist es das auch wirklich? Ich habe hier meine Zweifel. Man behandelt die Volkswirtschaften wie ein Auto: Wenn die Zündung nicht funktioniert, werden die Zündkerzen ausgetauscht. Wenn die Bremsen nicht mehr genügend ziehen, dann werden neue Bremsbeläge eingebaut. Eine Volkswirtschaft, die auf marktwirtschaftlichen Prinzipien basiert, ist jedoch kein Auto. Sie basiert auf dem Zusammenwirken von Millionen und Abermillionen einzelner wirtschaftlicher Akteure, die sich an Marktpreisen orientieren. Aus dem Zusammenwirken dieser Akteure ergibt sich dann das wirtschaftliche Gesamtergebnis. Wenn dieses Ergebnis nicht den Notwendigkeiten entspricht, dann stimmt etwas nicht mit dem marktwirtschaftlichen Koordinationsmechanismus. Es ist dieser Mechanismus, den man sich zuerst einmal anschauen und auf sein Funktionieren hin prüfen muss.
Im Mittelpunkt der wirtschaftspolitischen Koordinierung in einer Währungsunion muss daher zunächst die Ordnungspolitik stehen. Sie muss dafür sorgen, dass die Marktwirtschaft funktioniert. Dazu muss der Staat die Rahmenbedingungen in puncto Wettbewerb, Eigentum, Vertragsrecht und anderem festlegen und darüber wachen, dass sie auch eingehalten werden. Es ist so wie in vielen einzelnen nationalen Volkswirtschaften.
Wenn die Wirtschaft in Mecklenburg-Vorpommern nicht ausreichend wächst, dann muss man dort nicht neue Konjunkturprogramme auflegen. Man muss vielmehr schauen, warum die Investitionsanreize ungenügend sind, ob es vielleicht an Infrastruktur mangelt oder etwas anderes dafür verantwortlich ist, dass die Marktwirtschaft nicht die gewünschten Resultate bringt. Um im obigen Beispiel zu bleiben: Man muss nicht nur die Zündkerzen austauschen, sondern die Frage stellen, weshalb sie sich so schnell abnützen oder warum die Bremsbeläge so schnell abgefahren sind. Man muss die ganze Funktionsweise des Autos in Frage stellen.
In der Sprache der Scorecard ausgedrückt: Die erste Scorecard muss aufzeigen, wo es Defizite in der marktwirtschaftlichen Ordnung gibt. Wenn man diese identifizieren und reparieren kann, dann kuriert man nicht an den Symptomen, sondern an den tatsächlichen Ursachen.
Eine zweite Scorecard muss sich mit der stabilitätspolitischen Orientierung eines Landes befassen. Wenn die Leistungsbilanz eines Landes ein Defizit aufweist oder sich die Wettbewerbsfähigkeit verschlechtert oder wenn die Verschuldung zu hoch ist, dann hat das bei einer für alle gleichen Geldpolitik etwas damit zu tun, dass die Wirtschaftspolitik die stabilitätspolitischen Erfordernisse nicht oder nicht genügend umsetzt. Wenn die Löhne zu stark steigen, dann liegt das vielleicht daran, dass die Machtbalance zwischen den Tarifvertragsparteien nicht stimmt oder dass Unternehmen auf höhere Löhne nicht mit einem Abbau der Beschäftigung reagieren können.
Wenn man die Ordnungs- und die Stabilitätspolitik genügend koordiniert, geht man an die Ursachen der Probleme und kuriert nicht nur Symptome. Wenn man dann immer noch will, kann man Scorecards für Leistungsbilanzen, Wettbewerbsfähigkeit (oder auch Industriestrukturen) aufstellen.