7. Der Fehltritt der EZB
Mit Zentralbanken ist es wie mit gutem Wein: je älter, umso besser. Alte Zentralbanken haben Erfahrung. Sie haben Beharrungsvermögen. Sie lassen sich nicht von jeder Innovation betören. Sie halten auch Chefs aus, die vielleicht nicht so stabilitätsbewusst oder sachkundig sind. Eine gute alte Zentralbank, so könnte man überspitzt formulieren, sichert den Geldwert, was immer die jeweiligen Präsidenten an der Spitze auch denken und tun.
Gemessen an diesen Kriterien hatte die EZB keine Chance. Sie war jung und unerfahren. Und sie hatte für eine Währung zu sorgen, die selbst noch über kein Standing verfügte. Positiv war, dass ihre Mitarbeiter und ihr Führungspersonal aus den nationalen Zentralbanken kamen und damit über Sachkenntnis und Erfahrung verfügten.
Allerdings waren die nationalen Zentralbanken am Anfang auch ein bisschen eifersüchtig. Sie wollten nicht so gerne Kompetenzen abgeben. In der Bundesbank hörte man zu jener Zeit Stimmen, die von der EZB als »ihrer Tochter« sprachen. Man müsse sie an der Hand nehmen und auf den richtigen Weg geleiten. So eine Haltung war für das Selbstbewusstsein der neuen Damen und Herren in dem Hochhaus in Frankfurt natürlich nicht unbedingt aufbauend.
Auch außerhalb der Zentralbanken, in der Öffentlichkeit und bei den Banken, gab es Vorbehalte. Aller Frust über den Euro wurde an der Zentralbank ausgelassen. Sie habe keine klare Strategie, weil sie neben dem Ziel der Preisstabilität auch noch ein Geldmengenziel verfolge (Zweisäulenstrategie). Das passe nicht zusammen. Sie sei nicht genügend kommunikativ, weil sie die Protokolle der Sitzungen des Governing Council nicht veröffentliche. In den USA oder in Großbritannien werden die Sitzungsprotokolle regelmäßig publiziert. Die EZB sei bei der Bestellung ihres ersten Präsidenten nicht konsequent gewesen, weil dieser nicht – wie im Statut vorgesehen – für acht Jahre, sondern weniger bestellt worden sei. Der Standort der Notenbank in Frankfurt sei nicht optimal, weil das europäische Finanzzentrum in London sitze. Dort hatten auch die wesentlichen Kritiker ihren Arbeitsplatz.
Umso erstaunlicher ist es, wie gut sich die EZB in ganz kurzer Zeit als kompetente Institution durchgesetzt hat. Natürlich ist sie in Deutschland noch nicht so angesehen wie die Bundesbank, in Frankreich nicht so wie die Banque de France, in Italien nicht so wie die Banca d’Italia. Dafür ist sie auch noch zu jung, und dafür ist sie auch keine so etablierte Institution. Sie hat ihr Gebäude zwar in der Frankfurter Innenstadt. Gesprochen wird dort aber Englisch. Der Präsident der EZB ist Franzose.
Eine der besten Zentralbanken der Welt
Trotz ihres vergleichsweise kurzen Bestehens gilt die EZB gilt heute schon als eine der besten Zentralbanken der Welt. Sie ist sachkundig wie kaum eine andere. Ihre Strategie gilt inzwischen als modern und zukunftsweisend. Es wird als Stärke angesehen, nicht als Schwäche, dass sie nicht nur auf die Verbraucherpreise schaut, sondern auch auf die latenten Inflationsgefahren. Gerade in der Spätphase der Finanzkrise 2007/2009, in der die Preissteigerung noch sehr niedrig war, die Liquidität aber sehr hoch, war es wichtig, dass sie auf dem Auge der Geldmengenentwicklung nicht blind war.
Die Federal Reserve in den Vereinigten Staaten beneidet die EZB um ihr klares Mandat bei der Inflationsbekämpfung. Immer wieder hört man, dass ihr Chef Ben Bernanke gerne ein eindeutigeres Stabilitätsziel hätte. Er kann es aber nicht im Kongress durchsetzen, weil die Parlamentarier die Notenbank nicht nur für die Preisstabilität, sondern auch für Konjunktur und Beschäftigung in der Verantwortung sehen.
Auch die anfängliche Kritik an der Kommunikationsstrategie der EZB ist verstummt. Die Europäer sind weltweit die Einzigen, die unmittelbar nach der Sitzung des Governing Council eine Pressekonferenz abhalten und sich den Fragen der Journalisten stellen. In den USA und in Großbritannien wird das Sitzungsprotokoll erst Wochen später veröffentlicht, wenn sich die gesamtwirtschaftliche Lage oft schon wieder ganz anders darstellt. Interessant ist, dass die Federal Reserve seit Anfang 2011 ebenfalls Pressekonferenzen nach Sitzungen des Notenbankgremiums veranstaltet. Das Beispiel der EZB macht Schule.
Die große Rezession und die Finanzkrise in den Jahren 2008/2009 hat die Europäische Zentralbank nach Auffassung der meisten Experten mindestens genauso gut, vermutlich sogar besser als die Federal Reserve gemeistert. Sie war schnell, flexibel und innovativ bei der Senkung der Zinsen und der Bereitstellung von Liquidität. Keine Bank in Europa kam in Schwierigkeiten, weil sie zu wenig Zentralbankgeld bekommen hätte. Die EZB hat eng mit der Federal Reserve zusammengearbeitet, um Probleme bei international tätigen Banken zu vermeiden. Sie war aber viel vorsichtiger mit Käufen von Anleihen auf dem offenen Markt, da sie keine Staatsfinanzierung betreiben wollte. Die Finanzierung des Staates durch die Notenbank war in der Geschichte stets die größte Sünde, die man in der Geldpolitik begehen konnte. Sie führte meist zu größeren Inflationen.
Gleichzeitig ist sie immer vorsichtig und zurückhaltend geblieben. Auch auf dem Höhepunkt der Krise hat sie die Leitzinsen nicht unter ein Prozent fallen gelassen. Die Amerikaner und selbst die konservativen Schweizer senkten die Leitzinsen in dieser Zeit fast auf null.
Früher als die amerikanische Notenbank hat die EZB auch den Exit aus der ultralockeren Geldpolitik ins Visier genommen. Es ist ihr gelungen, die effektiven Geldmarktsätze im Verlauf des Jahres 2010 wieder auf das Niveau des Leitzinsniveaus von einem Prozent nach oben zu schleusen. Im ersten Halbjahr 2011 hat sie die Leitzinsen leicht von 1 auf 1,5 Prozent erhöht. In jedem Fall ist sich die Europäische Zentralbank der Gefahren durch hohe Liquidität und niedrige Zinsen für die Kapitalmärkte (insbesondere für die Immobilienmärkte) mehr bewusst als andere Zentralbanken.
Für finanzpolitische Disziplin
Der große Vorzug der Europäischen Zentralbank ist, dass sie nie auch nur den leisesten Zweifel an ihrer stabilitätspolitischen Entschlossenheit aufkommen lässt. Sie hat alle ihre Maßnahmen unter das Ziel der Wahrung des Geldwertes gestellt.
Immer wieder seit ihrer Gründung hat sich die EZB kritisch mit der Finanzpolitik auseinandergesetzt. Sie hat in allen Phasen mehr Disziplin der Länder eingefordert, ist zu einem stabilitätspolitischen Mahner geworden, ganz ähnlich wie es die Bundesbank in Deutschland war. Natürlich waren das nur Worte, hinter denen keine Taten standen. Aber eine Institution, die in der Öffentlichkeit hohe Reputation genießt, kann auch durch Worte etwas bewegen.
Im Übrigen, so ganz ohne Waffen steht die Europäische Zentralbank in dieser Frage nicht da. Normalerweise gibt es für eine Regierung keine offizielle Bremse für die Kreditaufnahme. Wenn alle Stricke reißen, kann sie Geld drucken und damit die Lücken in ihrem Etat schließen. Natürlich führt das am Ende zu Inflation und zu einem Einbruch im internationalen Vertrauen. Aber kurzfristig gibt es diese Möglichkeit. Die Amerikaner praktizieren sie schon eine ganze Weile.
Im Euro-Gebiet ist dies per definitionem nicht mehr möglich. Kein Land hat noch eine nationale Druckerpresse. Es gibt nur noch eine Druckerpresse, und die steht in Frankfurt unter der Regie der Europäischen Zentralbank. Sie kann nur betätigt werden, wenn alle Mitgliedstaaten einverstanden sind. Das ist schon eine erhebliche Einschränkung der Souveränität. Es zwingt die Mitgliedsregierungen, bei den öffentlichen Defiziten nicht über die Stränge zu schlagen.
Auch an der Unabhängigkeit der EZB gegenüber den Regierungen von Euro-Land kann man wohl kaum zweifeln. Sie hat sie besser gewahrt, als viele anfangs vermutet hatten. Vor allem bei dem zweiten Präsidenten der Bank, dem Franzosen Jean-Claude Trichet, hatte man geargwöhnt, er würde sich von dem französischen Staatspräsidenten beeinflussen lassen. Nicolas Sarkozy hatte wohl auch auf die Solidarität seines Landsmanns gehofft – allerdings vergebens. Trichet war in seinen Entscheidungen so unabhängig, wie man es von einem guten Notenbanker erwartet.
Unerwartet war schließlich die von Anfang an hohe fachliche Qualität der Führungspersönlichkeiten der Bank. Die Exekutivdirektoren werden allesamt vom Europäischen Rat, also einem politischen Gremium ernannt. Da war eigentlich zu erwarten, dass es zu politischen Händeln oder schlechten Kompromissen kommen würde. In der Deutschen Bundesbank gab es viele Direktoriumsmitglieder, die eher aus politischen Motiven denn aus fachlicher Qualifikation ernannt wurden. In der EZB ist ein solcher Fall bisher nicht passiert. Auch ein Punkt, der das Ansehen der Institution stärkt.
Ursprünglich war gerade in Deutschland viel Skepsis gegenüber den Mittelmeeranrainern geäußert worden. Aber schon nach ein paar Jahren regte sich niemand mehr auf, als ein Grieche (Lucas Papademos) Vizepräsident der Notenbank wurde. Von Anfang an saß ein Italiener im Exekutivdirektorium der Bank (Tomaso Padoa-Schioppa). Er war als hagerer, weißhaariger italienischer Professor allein von seiner Statur her glaubhaft. In seinem Handeln war er nicht weniger stabilitätsorientiert als alle seine Kollegen. Nachfolger von Präsident Trichet wurde der Italiener Mario Draghi. Niemand unterstellte ihm, dass er für eine laxere Geldpolitik eintreten würde.
Im Board der Europäischen Zentralbank herrschte von Anfang an ein Corpsgeist, wie sich das keiner vorstellen konnte. Der erste Chefvolkswirt der Bank, Otmar Issing, wies immer wieder darauf hin: Wir sind keine Deutschen, Holländer oder Franzosen im Board. Wir sind nichts anderes als Europäer. Unsere Aufgabe ist es, in der Gemeinschaft für stabiles Geld zu sorgen. Dieses strikte Bekenntnis zu Europa wurde nicht zuletzt vom ersten Präsidenten der EZB, Wim Duisenberg, konsequent gefördert.
Ein Problem ist, dass der Euro kein Gesicht hat, mit dem er in der Öffentlichkeit assoziiert wird. In den D-Mark-Zeiten stand die Person des Bundesbankpräsidenten für die D-Mark. Namen wie Helmut Schlesinger, Karl Otto Pöhl oder Hans Tietmeyer bürgten mit ihrer Persönlichkeit für die Stabilität. Jeder kannte sie in der Öffentlichkeit. Sie waren im Fernsehen oft zu sehen. Sie waren der »Mr. D-Mark«. Europa ist zu groß, als dass der Präsident der Europäischen Zentralbank jedem Bürger bekannt sein könnte. Jean-Claude Trichet, der jetzige Präsident, ist zwar ein sympathischer und glaubwürdiger Mann. Aber wer kennt ihn schon in der breiten Öffentlichkeit? Er war zwar ab und an im deutschen Fernsehen. Aber da er dort nur Englisch spricht, hinterlässt er keine so bleibende Wirkung. Wenn man die Öffentlichkeit heute nach einem Mister Euro fragen würde, dann würde der frühere Bundesfinanzminister Theo Waigel (der die Einführung des Euro vorbereitet und in die Wege geleitet hatte) sicher häufiger genannt als Trichet.
So etwas macht man nicht
Also alles in Butter mit der Europäischen Zentralbank? Keine Zweifel? Leider nein. Die EZB ist hochprofessionell und stabilitätsbewusst. Sie ist aber kein Kämpfer. Manchmal aber muss man für seine Überzeugungen auch kämpfen.
Es war in der Euro-Krise, als diese Haltung zum Problem wurde und die EZB gehörig an Standing verlor. Zuerst lockerte sie die Qualitätsanforderungen an die Sicherheiten, die sie von griechischen Banken bei der Einlieferung von Wertpapieren verlangte. Später geschah das auch bei Wertpapieren anderer Schuldnerländer. Dann – und das war der schlimmste Fehltritt – kaufte sie Wertpapiere der Schuldnerländer auf dem offenen Markt. Damit engagierte sie sich unmittelbar bei der Staatsfinanzierung.
So etwas macht eine Zentralbank nicht. Das ist ein ehernes Gesetz, gegen das die EZB verstoßen hat. Wenig geschickt war es auch, dass sich die EZB an der Troika beteiligte, die die Konsolidierungsmaßnahmen in Griechenland überwachte (zusammen mit dem IWF und der EU-Kommission). Damit wurde sie in die Verantwortung für die Fiskalpolitik hineingezogen, mit der sie an sich nichts zu tun haben sollte.
In der Begründung verharmloste sie das Problem der Käufe von Staatsanleihen. Sie sagte, sie tue das nicht, um die Haushalte Griechenlands, Portugals oder Irlands zu finanzieren. Sie wolle lediglich das Funktionieren des Transmissionsmechanismus der Geldpolitik sicherstellen. Das war de iure richtig, de facto aber eine Ausrede. Tatsächlich hat die EZB damit den Rubikon solider Geldpolitik überschritten. Der damalige deutsche Bundesbankpräsident Axel Weber, selbst Mitglied im Governing Council der EZB, kritisierte das Vorgehen auch scharf in der Öffentlichkeit und trat später sogar von seinem Amt zurück. Positiv war lediglich, dass die EZB die Liquiditätswirkungen dieser Operationen an anderer Stelle neutralisierte.
Je länger die Situation andauerte, umso unwohler fühlte sich auch die EZB in ihrer zwiespältigen Rolle gegenüber der Finanzpolitik. Im Sommer 2011 wurde es – so erschien es jedenfalls in der Öffentlichkeit – ihrem Chefvolkswirt Jürgen Stark zu bunt. Er äußerte schwere Bedenken gegen die Umschuldung der griechischen Schulden, die vor allem von der deutschen Regierung ins Gespräch gebracht worden war. Er forderte, dass sich die EZB wieder auf ihre eigentliche Aufgabe als Hüterin der Preisstabilität konzentriere.
Das war am Anfang starker Tobak. Zuerst kam die Forderung nur von Stark alleine. Dann aber schlossen sich ihr immer mehr Mitglieder des Governing Council an – auch Trichet und sein Nachfolger Draghi. Wichtig war, dass auch der neue deutsche Bundesbankpräsident Jens Weidmann – obwohl bis vor kurzem noch Wirtschaftsberater der deutschen Bundeskanzlerin, also auf der anderen Seite stehend – sich dieser Linie anschloss. Die EZB kämpfte, zum ersten Mal in ihrer Geschichte.
Eine wichtige Rolle für den Nimbus der Bundesbank und der harten D-Mark spielten die Auseinandersetzungen, die die Bundesbank mit der Regierung hatte. Das war der Streit mit Bundeskanzler Adenauer, das war später der Streit mit Helmut Schmidt, und das war noch kurz vor der Einführung des Euro der Streit mit Finanzminister Waigel um das Gold in den Tresoren der Bundesbank. So etwas kam gut in der Öffentlichkeit an. Es machte die Institution glaubwürdig. Wenn die so für das Gold kämpfen, dann werden sie sich genauso für die Stabilität unserer Währung einsetzen, dachte manch einer.
Jetzt hatte die EZB die Chance, auch auf diesem Gebiet in den Fußstapfen der Bundesbank zu wandeln. Sie hatte die Möglichkeit, ebenso todesmutig für ihre Unabhängigkeit zu kämpfen und dabei in der europäischen Öffentlichkeit »Punkte zu sammeln«.
Diese Kehrtwende war positiv, dennoch wird es einige Zeit dauern, bis die Fehltritte vergessen sind. Andererseits: Die amerikanische Notenbank schert sich um solche Grundsätze nicht im Geringsten. Sie hat Ende 2010 ein Programm beschlossen, das vorsieht, für 600 Milliarden Dollar amerikanische Staatspapiere zu kaufen. Sie hatte keinerlei Skrupel, sich an der Staatsfinanzierung zu beteiligen. Jeden Monat kaufte sie zwei Drittel der Staatspapiere, die die Treasury zur Finanzierung des laufenden Haushalts emittierte.