1. Wie baut man eine Währungsunion?
Stellen Sie sich vor, Sie stehen am Reißbrett und sollen eine Währungsunion konstruieren. Die Vorgabe ist: Eine Reihe von Ländern, die miteinander über Handel und Kapitalbewegungen verbunden sind, beschließt von einem Tag auf den anderen, dass sie eine Währungsunion gründen wollen. Wie macht man das?
So oder ähnlich muss es den Vätern der Europäischen Währungsunion in den 1980er Jahren gegangen sein. Das Erste, was man in solch einer Situation tut: Man sucht nach Vorbildern. Wo hat es den Übergang zu einer Währungsunion schon einmal gegeben?
Keine Vorbilder
Leider gibt es bei der Suche nach Blaupausen für eine Währungsunion nur Fehlanzeigen. Die Währungsunionen, die in der Geschichte entstanden waren, waren schon sehr alt. Zudem waren die Ausgangsbedingungen anders. Im Deutschen Reich (ab 1870) beispielsweise war der Währungsunion die politische Zusammenführung der einzelnen deutschen Teilstaaten vorausgegangen. Das machte die Einführung von neuem Geld einfach. Man brauchte dem neuen Staat nur die Währungshoheit und das Recht zur Emission der neuen Noten und Münzen zu geben und die bisherigen alten Währungen abschaffen. Ähnlich war es in Italien bei der Zusammenführung von Nord- und Süditalien und auch in den USA.
All das konnte man für die Europäische Währungsunion nicht als Muster nehmen. Hier gab es keine zentrale Instanz, die die Währungshoheit für sich beanspruchen konnte, weil es hier keine politische Union gibt.
Anders war es mit den Währungsunionen, die nicht mit einer politischen Union verbunden waren. Hier beschlossen souveräne Staaten, die auch weiterhin souverän bleiben wollten – also vergleichbar der Situation der Euro-Staaten –, eine gemeinsame Währung für alle einzuführen. Beispiele sind die Lateinische Münzunion, die 1865 von Frankreich, Belgien, der Schweiz und Italien gegründet wurde (später trat unter anderem noch Griechenland bei), oder die Nordische Münzunion (gegründet 1873 von Dänemark und Schweden). An sich waren das genau die Verhältnisse, wie sie die Gründer des Euro auch in Europa vorfanden. Es waren ein paar unabhängige Staaten, die sich auf monetärem Gebiet zusammentun wollten.
Aber das wollte man nicht zum Vorbild nehmen. Zum einen basierten diese Währungsunionen auf der Goldwährung, die inzwischen passé ist. Zum anderen waren diese Währungsunionen letztlich nicht erfolgreich. Sie zerfielen Anfang des 20. Jahrhunderts.
Die Lehren von Robert Mundell
Auch die ökonomische Theorie gab für den Aufbau einer Währungsunion nicht viel her. 1961 hatte der spätere Nobelpreisträger Robert Mundell einen Aufsatz über die Theorie der optimalen Währungsunionen geschrieben. Zwei Jahre später folgte der amerikanische Ökonom Ronald McKinnon mit einem anderen Ansatz. Beiden Autoren ging es aber nicht um die institutionelle Ausgestaltung einer Währungsunion. Sie interessierten sich vielmehr dafür, welche Eigenschaften die Länder haben sollten, die eine erfolgreiche Währungsunion gründen könnten. In Europa war aber längst klar, wer der Währungsunion beitreten sollte. Mundell oder McKinnon hätten den Vätern des Euro lediglich sagen können, dass diese Länder sich nicht für eine optimale Währungsunion eignen würden. Das ganze Projekt wäre daher zum Scheitern verurteilt.
Das Einzige, auf das man bauen konnte, waren die Erfahrungen mit den verschiedenen Festkurssystemen nach dem Zweiten Weltkrieg. Das war zuerst das Bretton-Woods-System mit weltweit fixierten Wechselkursen. Nach dessen Zusammenbruch in den 1970er Jahren folgte die »Schlange im Tunnel«, in der einige europäische Staaten die Kurse ihrer eigenen Währungen in einem weltweiten Floating in einem festeren Verhältnis zueinander halten wollten. Dann kam, gewissermaßen als Verfeinerung und Formalisierung, das europäische Währungssystem.
Es gab zwei Lehren aus diesen Erfahrungen. Die eine war, dass die beteiligten Länder wirtschafts- und währungspolitisch eng kooperieren und sich untereinander abstimmen müssen, um nicht Opfer der internationalen Devisenspekulation zu werden. Nationale Eigenwege sind mit einem Fixkurssystem nicht vereinbar. Die andere war, dass die Beibehaltung unterschiedlicher Währungen in einem Fixkurssystem immer dazu führt, dass die beteiligten Länder gegenüber der Spekulation auf den Devisenmärkten angreifbar sind. Die Spekulation kann sich immer einzelne nationale Währungen als Ziel herauspicken und auf den Märkten so viele Mittel mobilisieren, dass Notenbanken bei der Verteidigung unrealistischer Wechselkurse stets auf verlorenen Posten geraten. Um das nicht zu riskieren, musste man die einzelnen nationalen Währungen abschaffen.
Der erste Schritt
Also, was tun Sie, um eine neue Währungsunion zu gründen? Sie schaffen als Erstes in den neuen Mitgliedsländern die alten nationalen Währungen ab und führen stattdessen eine neue Währung ein. Das ist ein radikaler Schritt. Er ist aber unabdingbar, um die neue Union vor Angriffen der Finanzmärkte zu schützen. Die Beibehaltung nationaler Scheine und Münzen etwa in der Lateinischen Münzunion war eine Schwäche.
Dazu müssen Sie zunächst einmal Münzen und Scheine in der neuen Währung drucken und sie bei der Bevölkerung und den Unternehmen in Umlauf bringen. Dann brauchen Sie eine Institution, die das Ganze managt – die gemeinsame Notenbank für die Union. Sie gibt das Geld aus und überwacht den Zahlungsverkehr. Sie steuert den Geldumlauf so, dass das Geld knapp bleibt und dass keine Inflation, aber auch keine Deflation entstehen kann. Dazu wird sie Leitzinsen festsetzen und die Liquiditätsversorgung der Banken entsprechend dosieren. Sie muss zudem für den Außenwert der Währung zuständig sein. Das heißt, sie schaut auf die Devisenmärkte, ob sich der Wechselkurs so entwickelt, wie es im Interesse der Mitglieder der Währungsunion liegt.
Die alten nationalen Notenbanken werden als eigenständige Institutionen nun nicht mehr gebraucht. Sie können in einer Zeit global vernetzter Märkte nicht mehr an der Zinsschraube drehen. Das war bei früheren Währungsunionen zum Teil anders. Als es noch kein Telefon und keine Fernschreiber gab, war es in einem großen Land wie beispielsweise Amerika durchaus möglich, dass einzelne weit abgelegene Regionen (zum Beispiel Alaska) eine eigene Zinspolitik betrieben. Es gab ja niemanden, der wegen der großen Entfernungen aus unterschiedlichen Zinsen in einem Währungsraum Nutzen ziehen konnte. Das geht heute nicht mehr. In unserem heutigen Modell kann man die nationalen Notenbanken nur noch als regionale Dependenzen oder Filialen einsetzen. Die geldpolitische Souveränität liegt allein bei der zentralen Notenbank.
Nun könnte man denken: Mit der Schaffung einer gemeinsamen Währung und einer gemeinsamen Notenbank ist die Währungsunion komplett. Was muss man sich da noch um andere Institutionen kümmern? Das ist aber ein Fehler. Vielmehr fängt die Arbeit am Reißbrett jetzt erst richtig an: Für die Notenbank muss ein gemeinsames geldpolitisches Ziel festgelegt werden, da man nicht davon ausgehen kann, dass alle Mitglieder der neuen Währungsunion ähnliche oder gleiche Vorstellungen von der stabilitätspolitischen Ausrichtung der Union haben. Die einen wollen ein bisschen mehr Inflation, die anderen ein bisschen weniger. Sie müssen also festlegen, worauf Sie die Notenbank der Union verpflichten wollen, und sicherstellen, dass dies auch tatsächlich so verwirklicht wird.
Am besten ist es, wenn Sie die Notenbank als unabhängiges Gremium aufstellen, deren Politik nicht von einzelnen Staaten beeinflusst werden kann. Es hat sich in der Vergangenheit erwiesen, dass unabhängige Notenbanken ihre Aufgaben besser erfüllen, vor allem, dass sie bei der Inflationsbekämpfung erfolgreicher sind. Im Übrigen sind Sie dann das Problem los, dass die einzelnen Staaten sich bei der Formulierung des Stabilitätsziels einmischen.
Einheitliche Stabilitätskultur
Nun könnte es allerdings passieren, dass ein Mitglied sagt: Wir sind einverstanden, dass es in der Gemeinschaft nur eine Inflation von, sagen wir, 2 Prozent gibt. Aber in unserem eigenen Land möchten wir doch etwas mehr Preissteigerung haben. Dann kommen wir besser mit den Gewerkschaften aus, und auch der Strukturwandel zwischen den einzelnen Sektoren der Volkswirtschaft lässt sich leichter bewältigen, alles geht ein wenig reibungsloser.
Das müssen Sie verhindern. In einer Währungsunion kann es keine unterschiedlichen Stabilitätskulturen geben. Wenn Sie das in einem Zusammenschluss mit unwiderruflich festgelegten Wechselkursen zulassen, würden sich die Wettbewerbsverhältnisse im gemeinsamen Markt permanent zu Lasten der Länder mit der höheren Inflation verschieben. Die dortigen Unternehmen verlören Marktanteile. Sie müssten Leute entlassen und die Arbeitslosigkeit stiege an. Das Wirtschaftswachstum ginge zurück. Die Leistungsbilanz geriete ins Defizit. Und am Ende würden Arbeit und Kapital in das Land oder in die Region wandern, wo die Preise weniger steigen. Das darf Ihnen nicht passieren.
Ganz abgesehen davon können auch direkte negative Wirkungen von der höheren Inflation in einem Land auf die anderen Länder ausgehen. Ein Land kann die anderen mit seiner Geldentwertung anstecken.
Es reicht also nicht, dass die Geldpolitik für alle dieselbe ist. Das Land, das eine höhere Inflation wünscht, kann ja zum Beispiel in Zeiten einer restriktiven monetären Politik für Europa in seinem Land eine expansive Fiskalpolitik betreiben. Damit wird die gemeinsame Geldpolitik unterlaufen.
Regeln statt Gehirn
Für eine gemeinsame Währungsunion reicht es also nicht, dass die Mitglieder die geldpolitische Souveränität an die Gemeinschaft abgeben. Sie brauchen auch Regeln für die Fiskalpolitik. Am naheliegendsten ist es, neben der Europäischen Notenbank ein Europäisches Finanzministerium zu errichten. Der langjährige Präsident der EZB, Jean-Claude Trichet, hat dies zum Ende seiner Amtszeit im Sommer 2011 anlässlich der Verleihung des Karlspreises in Aachen vorgeschlagen. Das ist die sauberste Lösung. Sie wird in allen erfolgreichen Währungsunionen der Nationalstaaten praktiziert. Geldpolitik und Finanzpolitik agieren zusammen, um Wirtschaft und Währung zu stabilisieren.
Dagegen stehen nun aber die Nationalstaaten, die möglichst unabhängig bleiben und möglichst wenige Kompetenzen an die Zentrale abgeben wollen. Insbesondere die nationalstaatlichen Parlamente, deren wichtigste Kompetenz traditionell die Haushaltspolitik ist, haben ein vitales Interesse an dieser Unabhängigkeit. Über die öffentlichen Etats können sie ihre Regierungen steuern und sie auch kontrollieren. Wenn die Regierung etwas anderes macht, als das Parlament vorgibt, streicht man ihr einfach die Mittel, so dass sie die Gehälter ihrer Beamten nicht mehr bezahlen kann. Ich bin sicher, dass das Parlament Ihnen bei dem Vorschlag der Einsetzung eines europäischen Finanzministers schnell das Geld für Ihre Arbeit am Reißbrett streichen würde.
Also müssen Sie sich etwas anderes einfallen lassen. Eine Lösung ist das Prinzip der »schwäbischen Hausfrau«. Sie verpflichten die nationalen Haushalte darauf, eine solide Haushaltspolitik zu betreiben, bei der die Ausgaben nicht oder jedenfalls nicht viel größer als die Einnahmen sind. Dazu legen Sie Stabilitätskriterien fest. In den Maastricht-Verträgen zur Europäischen Währungsunion heißt es beispielsweise, die öffentlichen Fehlbeträge dürften nicht größer als 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts sein, die Gesamtverschuldung nicht höher als 60 Prozent. Solche »Verkehrsregeln« für die Finanzpolitik werden mit Strafen bewehrt. Wenn einer dagegen verstößt, bekommt er eine Verwarnung und in schwierigeren Fällen auch ein Bußgeld.
Wenn also alle eine solide Haushaltspolitik betreiben, dann kann der Geldwert nicht gefährdet sein. Gegen eine derartige Einschränkung der Souveränität der Parlamente können auch die Abgeordneten nichts haben. Sie wollen sich ja nicht dem Vorwurf der Unsolidität aussetzen.
Solch eine regelgebundene Fiskalpolitik hat aus der Sicht des Ökonomen freilich den Nachteil, dass kaum eine aktive Konjunktursteuerung betrieben werden kann. Das Gehirn wird zugunsten der Regeln ausgeschaltet. Es ist ein bisschen so wie mit der Geschwindigkeitsbegrenzung auf der Straße: Wenn ich 50 Stundenkilometer fahren darf, dann tue ich das auch, selbst wenn es im gegebenen Fall besser wäre, wenn ich langsamer bin. Wenn der Staat ein Defizit von 3 Prozent machen darf, tut er sich in der Öffentlichkeit schwer, aus konjunkturpolitischen Gründen eventuell einen Budgetüberschuss anzusteuern. Der Fairness halber ist zu sagen, dass in den Maastricht-Verträgen die Drei-Prozent-Grenze nur als Obergrenze genannt ist. Normalerweise sollen die Mitglieder einen ausgeglichenen Haushalt aufweisen. Die Politik orientiert sich in der Praxis aber immer an der Obergrenze.
Zudem: Wenn es eine Rezession in der Welt gibt, dann genügt es nicht, dass die Länder ordentlich wirtschaften und keine Löcher in ihren Haushalten zulassen. Dann müssen sie gegensteuern. Sonst droht eine Politik à la Brüning, die die Welt vor 80 Jahren in die Weltwirtschaftskrise abstürzen ließ. Das Gegensteuern kann aber nicht jeder für sich allein machen. Dazu braucht man eine gemeinsame Institution.
Auch die Wirtschaftspolitik wird gebraucht
Strenge Regeln für die Geld- und Finanzpolitik allein garantieren noch nicht das reibungslose Funktionieren einer Währungsunion. Was ist zum Beispiel, wenn ein Mitgliedsland zwar die finanzpolitischen Grundsätze einhält, aber nicht für die Wettbewerbsfähigkeit seiner Wirtschaft sorgt? Es lässt beispielsweise Lohnsteigerungen zu, die weit über das stabilitätspolitisch vertretbare Maß hinausgehen. Es achtet nicht darauf, dass sich seine Industrie auf den Weltmärkten behauptet. Es sträubt sich vielleicht auch nicht dagegen, wenn die Immobilienpreise stark in die Höhe gehen und dort eine Blase entsteht. Es könnte auch sein, dass es eine weniger restriktive Kartellpolitik betreibt.
Das ist nicht nur ein theoretischer Fall. Genau dies trat in Spanien, Irland, Portugal und Italien nach der Einführung der Währungsunion im Jahr 1999 ein und legte den Grundstein für die Schwierigkeiten, die sich zehn Jahre später in der Euro-Krise entluden. Und es zeigte sich nach der Überwindung der Rezession in umgekehrter Konstellation wieder. 2010/2011 war es die deutsche Wirtschaft, die in einen Boom und eine Überhitzung steuerte, weil sie sehr schnell wuchs, während die Peripherieländer aufgrund der Konsolidierungserfordernisse hinterherhinkten.
So etwas müssen Sie schon am Reißbrett verhindern. Sie können ein Land nicht sehenden Auges ins offene Messer laufen lassen. Dies auch deshalb, da hier ein Ungleichgewicht entsteht, das sich auf lange Sicht negativ auf die Währungsunion insgesamt auswirken wird. Es kann sein, dass ausländische Investoren die gemeinsame Währung kritischer sehen, weil sie solche Ungleichgewichte zulässt. Sie investieren weniger in die Gemeinschaft. Das schwächt den Wechselkurs, vor allem wenn das betroffene Land größer ist. Hinzu kommt, dass sich auch der innergemeinschaftliche Kapitalverkehr abwendet, so dass das Land Schwierigkeiten bekommt, seine Leistungsbilanzdefizite zu finanzieren. Auf den Kapitalmärkten der Gemeinschaft muss es höhere Zinsen zahlen. Vielleicht führt das Ganze am Ende sogar zu höheren Preissteigerungen, die sich auch auf andere Mitglieder negativ auswirken.
Für Ihre Planungen am Reißbrett bedeutet das: Sie müssen sich nicht nur um die gemeinsame Geldpolitik und Fiskalpolitik kümmern. Sie müssen auch darauf achten, dass es zu keinen größeren Ungleichgewichten in der Wettbewerbsfähigkeit der Länder kommt. Mit anderen Worten: Sie müssen Einflussmöglichkeiten auf die allgemeine Wirtschaftspolitik installieren.
Das haben Ihre Vorgänger, die Väter der Europäischen Währungsunion, auch gewusst. Leider haben sie es aber nicht richtig verwirklicht beziehungsweise verwirklichen können. Der Grund: Sie haben zu sehr auf den Marktmechanismus vertraut. Sie haben sich darauf verlassen, dass ein Land bei einer sich verschlechternden Wettbewerbssituation selbst die Notbremse zieht, aus Eigeninteresse gegensteuert, wenn es sieht, dass seine Leistungsbilanz ins Negative dreht und dass Kapital und Arbeit abwandern. Dass das nicht oder vielleicht zu spät passieren würde, hielten sie für unwahrscheinlich.
Wie dem auch sei: Es gibt in der Euro-Zone keine Institution, die explizit den Auftrag hat, sich mit der Koordinierung der Politik der Wettbewerbsfähigkeit zu befassen. In der sogenannten Euro-Gruppe, also dem für die Währungsunion zuständigen Ministerrat, sitzen nur die Finanzminister, nicht die Wirtschaftsminister, in deren Verantwortungsbereich das fällt.
Rein nach der Theorie ist dieser Zustand ein Ding der Unmöglichkeit. Die Interdependenz der Wirtschaftspolitik, also die gegenseitige Beeinflussung und Abhängigkeit aller Faktoren, macht es unmöglich, aus der Wirtschafts- und Währungspolitik einfach ein Stück – wie etwa die Geldpolitik – herauszuschneiden und gesondert zu behandeln. Das hat immer Rückwirkungen auf alle anderen Bereiche.
Es war Otmar Issing, der erste Chefvolkswirt der Europäischen Zentralbank, der diese Theorie in den letzten Jahren seiner Amtszeit in Frage stellte. Ist es nicht möglich, so seine Argumentation, dass man die Preisstabilität aus dem volkswirtschaftlichen Zielkatalog herauslöst und getrennt angeht? Schließlich ist das ja auch die Begründung dafür, dass man die Preisstabilität einer gesonderten Institution (Zentralbank) zuweist und dieser auch eine Unabhängigkeit garantiert. Wenn es die vollkommene Interdependenz der Ziele und Instrumente in der Wirtschafts- und Währungspolitik gäbe, dann machte es keinen Sinn, für ein einzelnes Ziel eine eigene Institution zu gründen.
Also nehmen wir die Zentralbank aus der generellen Wirtschaftspolitik heraus und behandeln sie gesondert. Geht das? In guten Zeiten zweifellos. Issing konnte darauf verweisen, dass sich die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank seit ihrer Gründung bewährt hat. Sie führte zu keinen größeren Konflikten. Aber das waren in der Tat auch gute Zeiten. Größere gesamtwirtschaftliche Krisen, in denen ein koordiniertes Handeln erforderlich war, gab es bis zur Finanz- und Wirtschaftskrise der Jahre 2007/2008 nicht. Als die Probleme im Zusammenhang mit der Staatsschuldenkrise in Südeuropa eskalierten und sich die Notenbank an den Aktionen der Finanzminister beteiligen sollte, wurde es freilich kritischer.
Zwar gab es tatsächlich eine Abstimmung zwischen Geldpolitik und den anderen Maßnahmen. Allerdings wurde dann auch die Unabhängigkeit der Notenbank in Frage gestellt. Der Präsident der EZB, Jean-Claude Trichet, habe sich – so wurde unterstellt – von den Finanzministern zu stark beeinflussen lassen. Er habe zu wenig auf seine Unabhängigkeit geachtet.
Das waren Vorwürfe, die an der Reputation der Notenbank kratzten. Es wäre besser gewesen, man hätte das Verhältnis von Geld-, Fiskal- und Wirtschaftspolitik vorher geklärt und die Zusammenarbeit auf eine formelle Basis gestellt. Das muss die Unabhängigkeit und die stabilitätspolitische Entschlossenheit der Notenbank nicht gefährden. Niemand kritisiert ja auch die Finanzminister, wenn sie auf Ratschläge aus dem EZB-Tower in Frankfurt hören und die öffentlichen Defizite zurückführen.
Externe Schocks
Leider sind Sie am Reißbrett der Währungsunion aber auch jetzt noch nicht fertig. Sie müssen noch etwas beachten. Was ist zum Beispiel, wenn es einen extern erzeugten Schock für die Gemeinschaft gibt? Beispielsweise eine drastische Ölpreiserhöhung, Waldbrände in Russland, die den Weizenpreis in die Höhe schießen lassen, ein temporärer Zusammenbruch des Wirtschaftswachstums in China oder eine Kehrtwende in der Energiepolitik, wie sie Deutschland nach dem Erdbeben und dem Tsunami in Japan im März 2011 einleitete. Solche Effekte treffen die einzelnen Volkswirtschaften der Gemeinschaft ganz unterschiedlich. Wenn China in eine Rezession läuft, wäre Deutschland besonders hart tangiert, weil es sehr viel in dieses Land exportiert. Wenn es Preissteigerungen bei Öl oder Weizen gäbe, dann würden jene Staaten am meisten leiden, die besonders viel von diesen Rohstoffen einführen.
In jedem Fall gibt es Spannungen und Ungleichgewichte unter den einzelnen Mitgliedstaaten. Der kanadische Ökonom Robert Mundell würde sagen: Da sieht man, dass die Mitglieder keine Währungsunion hätten gründen sollen. Sie sind zu unterschiedlich. Es passen nur solche Staaten zusammen in eine Währungsunion, die ähnliche Strukturen haben oder aber eine solche Mobilität und Flexibilität auf ihren Märkten aufweisen, dass sie externe Schocks ohne größere Probleme in der Union bewältigen können.
Diese Erkenntnis nutzt Ihnen am Reißbrett aber wenig. Sie können Ihre Aufgabe nicht zurückgeben und sagen: Geben Sie mir bitte andere Länder für die Währungsunion, dann setze ich meine Arbeit fort. Nein, Sie müssen eine Lösung finden, und das heißt: Sie müssen für genügend Mobilität und Flexibilität auf den Arbeits- und Kapitalmärkten der Union sorgen, dass solche externen Schocks verkraftet werden können.
Ein Beispiel: Aufgrund des Atomunfalls in Japan wird in Deutschland die Kernenergie zurückgefahren und massiv in erneuerbare Energien investiert. Der Strompreis in Deutschland steigt, und es gibt inflationäre Impulse durch hohe Investitionen in Solar-, Wind- und andere alternative Energien. In Frankreich bleibt dagegen alles beim Alten. Damit besteht ein Ungleichgewicht zwischen den beiden Ländern. In Deutschland müsste die Geldpolitik bremsen, um das Ausbreiten inflationärer Effekte zu verhindern. In Frankreich müsste sie unverändert bleiben. Das aber geht in einer Währungsunion nicht. Die Möglichkeit von Auf- und Abwertungen ist ebenfalls nicht mehr vorhanden. Ein Gleichgewicht kann nur wieder erreicht werden, wenn Arbeit und Kapital aus Frankreich nach Deutschland abwandern und in neue Energie investiert wird.
Die Abwanderung von Kapital mag noch einigermaßen machbar sein, beim Faktor Arbeit wird es schon schwieriger. Hier spielen allgemeine Mobilitätshindernisse eine große Rolle. Nicht nur, dass Menschen nicht ohne weiteres ihr bisheriges Leben aufgeben und ihre Heimat und ihre Familie verlassen, auch die Nationalstaaten stellen eine Hürde dar. Wenn Arbeitnehmer aus Frankreich nach Deutschland abwandern, bedeutet das einen Imageverlust für Frankreich und einen entsprechenden Gewinn für Deutschland. Deshalb wird Frankreich versuchen, die Arbeitnehmer im eigenen Land zu halten. Das ist ein weiterer Grund, weshalb starke und selbstbewusste Nationalstaaten mit einer Währungsunion nicht gut vereinbar sind. Ein Abbau der Nationalstaaten würde auch der Faktormobilität helfen und das Funktionieren der Währungsunion erleichtern.
Auch das ist den Experten längst geläufig. Die Väter des Euro waren viel zu klug, um das nicht zu wissen, haben aber dennoch keine entsprechenden Schritte unternommen. In der Europäischen Währungsunion gibt es kein Gremium, das sich mit der Förderung der Funktionsfähigkeit der Arbeits- und Kapitalmärkte in der Union befasst. Das gehört allenfalls zum Ressort Binnenmarkt bei der Europäischen Kommission. Da der Binnenmarkt aber für alle Länder der Union gilt und nicht speziell für die Euro-Zone, wird das Problem hier unter ganz anderen Vorzeichen behandelt.
In jedem Fall reicht es nicht, wenn die Europäische Zentralbank in ihren sehr klugen und verdienstvollen Veröffentlichungen davon schreibt, dass wir mehr Flexibilität und Mobilität benötigen. Es muss auch etwas dafür getan werden. Eine Währungsunion braucht eine Wirtschaftsregierung, die sich unter anderem mit der Förderung der Faktormobilität in der Gemeinschaft befasst.
Es ist interessant, dass sich die Faktormobilität innerhalb des Euro-Raums zuletzt etwas zu verbessern scheint. In Deutschland herrscht zunehmend Facharbeitermangel, weil die Wirtschaft gut läuft, die Zahl qualifizierter Arbeitnehmer aber aus demografischen Gründen zurückgeht. Umgekehrt gibt es etwa in Spanien eine große Zahl junger, gut ausgebildeter Menschen, die in ihrem Land keine Arbeit finden. Zunehmend gehen deutsche Unternehmen nach Spanien, um dort um gute Mitarbeiter zu werben. Das funktioniert, ohne dass der Staat oder die EU-Kommission hier etwas unternimmt.
Sind Sie nun fertig? Können wir das Reißbrett nun abräumen? Nein, leider immer noch nicht. Auch für die Konstruktion und den Aufbau einer Währungsunion gilt, dass man für alle Eventualitäten vorsorgen und eine Lösung haben muss – ganz nach dem alten Gesetz von Murphy: »Alles Schlechte, was passieren kann, wird auch passieren.«
Was ist, wenn sich die Mitglieder der Union politisch auseinanderentwickeln? Beispielsweise geraten zwei Länder in einen kriegerischen Konflikt. Sagen wir: Die Griechen würden – Gott verhüte – mit den Türken einen Krieg anfangen, den die übrigen Mitglieder der Gemeinschaft nicht mitmachen wollen. So ganz unmöglich ist das nicht, bedenkt man, dass Griechenland in der Union das Land mit dem relativ größten Militär ist. Kann man dann in der Währungsunion sagen: Das ist das Problem der Griechen, das geht uns nichts an? Wir machen weiter business as usual?
Natürlich nicht. Die Verbindung in der Währungsunion bedeutet automatisch, in einen solchen Konflikt hineingezogen zu werden. Die Griechen müssten vermutlich mehr Kredite aufnehmen als durch die Regelungen in der Euro-Zone erlaubt. Sie würden sich in keinem Fall durch irgendwelche Stabilitätsregeln einengen lassen. Im Krieg gibt es andere Prioritäten. Oder sie würden andere Mitglieder der Euro-Zone jeweils als Verbündete oder als potenzielle Verbündete des Gegners ansehen, obwohl die Währungsunion keine Verteidigungsgemeinschaft ist. Die Euro-Zone würde in einen Konflikt getrieben, den sie nie wollte.
Das bedeutet, dass die Währungsunion auch für politische Eventualitäten vorsorgen muss, woraus wiederum schlicht folgt: Wer eine Währungsunion will, muss auch zu einer politischen Union bereit sein. Das bringt uns zurück zu der erwähnten Krönungstheorie. Sie besagt, dass eine Währungsunion letztlich die Krönung der gesamten Integration einer Gemeinschaft ist. Sie wird nur funktionieren, wenn sie mit einem klaren Commitment zu einer weiteren Integration verbunden ist. Es ist daher gut, wenn man das auch gleich bei der Verfassung einer Währungsunion berücksichtigt.
Ein Scheidungsparagraf?
Bleibt noch eine letzte Frage, die man bei der Gestaltung einer Währungsunion am Reißbrett klären muss. Soll es eine Ausstiegsklausel geben? Soll man vorsehen, dass ein Mitglied aus der Gemeinschaft austreten kann oder sogar im Falle von Regelverletzungen auch austreten muss?
Auf diese Frage gibt es kein eindeutiges Ja oder Nein. Jede Regelung hat Vor- und Nachteile. Der Vorteil von Scheidungsklauseln ist, dass man nie weiß, was die Zukunft bringen wird. Mitglieder können sich auseinanderleben. Sie können über Jahrzehnte andere Prioritäten entwickeln. Wenn man sie durch das Band einer Währungsunion auf ewig aneinander bindet, holt man unterschiedliche Entwicklungen in die Union hinein und riskiert, dass am Ende die ganze Union auseinanderbricht. Ein freiwilliger Austritt beziehungsweise erzwungener Ausschluss ist hier in jedem Fall die bessere Alternative. Das ist die Überlegung, die hinter dem entsprechenden Scheidungsparagrafen in der Europäischen Union steht.
Allerdings: Die Währungsunion nimmt nicht jeden x-beliebigen auf. Sie besteht nur aus Europäern, also Ländern, die historisch und kulturell durch enge Bande verbunden sind. Hier wächst also, um es mit Willy Brandt zu formulieren, zusammen, was zusammengehört. Eine solche langfristige Entfremdung von Ländern sollte daher nicht möglich sein. Im Übrigen wird durch die Möglichkeit eines Austritts vielleicht der Disziplinierungszwang einer Gemeinschaft geschwächt, in jedem Fall aber schafft sie Unruhe. Denn wenn die Devisenmärkte wissen, dass ein Mitglied der Euro-Zone ausscheiden kann, sind sie immer versucht, das auch zu testen.
Des Weiteren kann man zugunsten eines Verzichts auf einen Scheidungsparagrafen auch argumentieren, dass Geldwertstabilität, wie zum Beispiel die Menschenrechte, etwas ist, was niemand zur Disposition stellen möchte. So wie die Menschenrechte in den Verfassungen der Nationalstaaten nicht veränderbar und auf »ewig« festgelegt sind, so könnte man das auch für die Stabilität tun. Selbst wenn sich ein Land politisch sonst anders als die anderen Mitglieder orientiert – Geldwertstabilität braucht es zum Funktionieren der Wirtschaft und zur Aufrechterhaltung von Altersvorsorgesystemen und anderem immer. Das ist freilich ein Trugschluss, wie wir oben gesehen haben. Die Währung ist eben nichts »Unpolitisches«. Sie ist stets Bestandteil der politischen Ordnung und lässt sich nicht abteilen.
Wie löst man diesen Konflikt auf dem Reißbrett? Sie können es so oder so machen. Ich persönlich tendiere dazu, keinen Scheidungsparagrafen einzuführen, um die Stabilität der Union auf den Devisen- und Kapitalmärkten nicht zu gefährden. Wer einmal Mitglied ist, ist dieses für ewig.
Dabei kann man durchaus im Hinterkopf haben: Wenn sich die Partner denn wirklich politisch so auseinanderleben, dass sie in der Union nicht mehr zusammenarbeiten können, dann finden sich immer Wege und Möglichkeiten, sich zu trennen. Auch Verträge, die auf ewig geschlossen werden, werden manchmal aufgehoben.
Den Widerspruch mit der Europäischen Union, in der es den Scheidungsparagrafen gibt, sollte man aushalten. In der EU macht es Sinn, dass ein Mitglied austreten kann. Hier gibt es keine Spekulationsprobleme. Vielleicht kann man einfach sagen: Wenn ein Mitglied die Europäische Union verlässt, verliert es nach, sagen wir, fünf Jahren auch die Berechtigung, der Währungsunion anzugehören. Das wird dann zwar eine schwierige Übergangszeit für das ausscheidende Land. Aber wenn es die EU verlassen will, wird es sich das vorher genau überlegt haben.
So, das ist nun eine Blaupause für eine Währungsunion, wie man sie am Reißbrett entwerfen kann. Das Wichtige ist: Für eine funktionierende Währungsunion braucht man nicht nur Regeln für eine gemeinsame Geldpolitik. Genauso wichtig sind eine gemeinsame Fiskalpolitik, ein Grundkonsens über eine gemeinsame Wirtschaftspolitik und am Ende eine politische Union.
Das müssen wir uns näher ansehen.