6. Der Wechselkurs
Die Devisenmärkte fallen häufig aus dem Rahmen. Sie tun oft Dinge, die so gar nicht den Erwartungen der Bürger (und der Volkswirte) entsprechen. So auch beim Euro. Während man in Euro-Land dem Frieden der Preisstabilität nach den negativen Überraschungen mit dem Teuro immer noch nicht traut, haben sich die Devisenmärkte zeitweise ganz euphorisch auf die Währung geworfen. Dass der Euro in der Krise 2010/2011 nicht schwach geworden ist, habe ich schon erwähnt.
Der Euro hat sich seit seiner Einführung gegenüber dem US-Dollar per Saldo von 1,17 auf 1,40 Dollar erhöht. Das ist ein Anstieg von 20 Prozent. Zeitweise notierte er sogar bei 1,60 Dollar. Ein solcher Kurs ist – bei der D-Mark – in der gesamten Nachkriegszeit nicht erreicht worden. Der Euro hat sich aber nicht nur gegenüber der amerikanischen Währung aufgewertet. Er ist auch gegenüber den wichtigsten Währungen der Welt teurer geworden.
Ein entscheidender Punkt für die langfristige Aufwertung des Euro ist, dass die Preise in Euro-Land nicht so stark gestiegen sind wie in anderen Regionen der Welt. Die Devisenmärkte schauen ja nicht auf die gefühlte Inflation. Sie haben sich auch nicht am Teuro gestört. Sie haben nur einfach auf die Statistiken geschaut. Hier zeigte sich, dass die Inflation in Euro-Land seit 1999 rund zehn Prozentpunkte niedriger war als beispielsweise in den USA. Genau in diesem Ausmaß ist der Euro auch aufgewertet worden.
An sich sollte man das auch erwarten. Wechselkurse gleichen die Differenz in den Inflationsraten aus. Sie verzerren damit nicht die Wettbewerbsverhältnisse. Das entspricht der Kaufkraft-Paritäten-Theorie in der Wirtschaftswissenschaft, nach der sich Wechselkurse exakt analog der unterschiedlichen Kaufkraft in den Ländern entwickeln.
Die Sache hat freilich einen Haken. So ganz theoriegerecht verhalten sich die Devisenmärkte nämlich nicht. Die tatsächlichen Größen der Wechselkurse (nicht die Veränderungen) entsprechen nämlich ganz und gar nicht den jeweiligen Kaufkraftparitäten. Vielmehr war schon die D-Mark und ist heute auch der Euro deutlich überbewertet. Der Euro notierte im Sommer 2011 bei 1,40 Dollar. Die Kaufkraftparität lag dagegen nur bei 1,17 Dollar (nach dem Wägungsschema der OECD). Europäer müssen bei Einkäufen in den USA also vergleichsweise mehr auf den Ladentisch legen als Amerikaner. Umgekehrt können Amerikaner in Europa relativ billiger einkaufen.
Ein zweiter und noch wichtigerer Punkt für die Stärke des Euro ist die Kapitalbilanz. Große internationale Investoren im Mittleren Osten oder in Asien haben ihre riesigen Reserven aus Rohstoffverkäufen oder auch aus Interventionen an den Devisenmärkten nicht nur in Dollar, sondern auch in Euro angelegt. Das hängt zum Teil mit dem Vertrauen in die Solidität der Europäer zusammen, zum Teil ist es aber auch das Ergebnis einer Diversifikation von Risiken. Auch große Investoren wollen nicht alle Eier in einen Korb legen. Sie haben auf die Kassandra-Rufe, der Euro würde sich nicht halten können, nicht gehört. Sie vertrauten im Gegenteil auf die Stabilität und die Nachhaltigkeit der neuen Währung.
Vor allem Zentralbanken haben in erheblichem Maße Gelder in die Gemeinschaftswährung investiert. Zentralbanken gelten ja als besonders vorsichtig und risikoscheu. Wenn sie Geld in Euro anlegten, war das schon ein deutliches Zeichen. Natürlich brauchten sie Euros in ihrem Portefeuille, um im Falle eines Falles auf den Devisenmärkten intervenieren zu können. Tatsächlich haben sie aber mehr Euros gekauft, als für diese Zwecke notwendig gewesen wäre. Sie waren froh, dass sie neben dem Dollar eine neue Währung zum Anlegen hatten, die über einen ausreichend großen Kapitalmarkt verfügte. Bei der alten D-Mark war das nicht der Fall.
Der Außenhandel und die Leistungsbilanz spielten im Gegensatz zu den D-Mark-Zeiten bei der längerfristigen Euro-Stärke keine Rolle. In der Bundesrepublik wies die Leistungsbilanz jahrelang einen Überschuss auf. Die Ausländer mussten sich D-Mark kaufen, um ihre Importe bezahlen zu können. In Euro-Land ist die Leistungsbilanz dagegen mehr oder weniger ausgeglichen. Das, was die Ausländer im Euro-Gebiet kaufen, können sie mit ihren Exporten nach Europa bezahlen.
Die Aufwertung einer Währung wird von den Betroffenen unterschiedlich gesehen. Auf der einen Seite ist sie ein Zeichen des Vertrauens, das die Bürger in Euro-Land ein wenig stolz machen kann. In vielen Staaten ist es ein ausdrückliches Ziel, eine starke Währung zu haben. Die Amerikaner betonen insbesondere vor Wahlen immer wieder, dass sie für eine Politik des »Strong Dollar« sind (auch wenn man in der Praxis daran bisweilen zweifeln kann). Die Franzosen haben lange Zeit Opfer in Kauf genommen, um einen »Franc fort« zu haben. Die Europäer bekommen dies mit dem Euro quasi frei Haus geliefert. Gerade für eine neue Währung ist die internationale Akzeptanz wichtig.
Für die Bürger ist eine starke Währung aber nicht nur eine Sache des Prestiges. Reisen ins Ausland werden billiger und die Einkäufe dort günstiger. Wie viele Europäer sind Ende 2009, als der Euro gegenüber dem Dollar bis auf 1,60 Dollar gestiegen ist, in die USA geflogen, um Weihnachtseinkäufe auf der ansonsten recht teuren Fifth Avenue in Manhattan zu tätigen! Der starke Euro hat sich auch positiv auf die Verbraucherpreise ausgewirkt. Benzin ist zwar immer zu teuer, es war jedoch in den letzten zehn Jahren wegen der Euro-Aufwertung billiger, als es sonst gewesen wäre.
Anders sehen es manche Unternehmen. Zwar gibt es auch Firmen, die von der Aufwertung profitieren, weil auch sie billiger im Ausland einkaufen können. Sie äußern sich jedoch nicht so oft. Lautstärker ist die Lobby der Exportindustrie, die beklagt, dass sie ihre Produkte im Ausland nicht zu kostendeckenden Preisen absetzen kann. Vor allem fühlt sie sich gegenüber Anbietern aus Drittländern mit weniger starken Währungen im Nachteil.
In der Tat knabbert eine Aufwertung an den Margen der Exportindustrie. Allerdings ging der Export auch weiter, als der Euro bei 1,60 Dollar lag und damit tatsächlich deutlich überbewertet war.
Die Wechselkursschwankungen
So weit, so gut. Kein Grund zur Sorge? Das liegt freilich nur an unserem schlechten Gedächtnis. Denn auch die Gemeinschaftswährung war einmal schwach, und zwar sehr schwach. Schon kurz nach der Einführung des Euro-Bargelds sackte der Wechselkurs gegenüber dem Dollar auf den Devisenmärkten kräftig ab. Bei der Einführung des Euro-Buchgelds lag er bei 1,17 Dollar. Davor hatte er – umgerechnet aus der D-Mark – sogar zeitweise bei 1,40 gelegen. Dann aber fiel er bis zu den Jahren 2000/2002 bis auf 0,82 Dollar ab. Das ist ein Kursrückgang um 30 Prozent gegenüber dem Kurs bei Einführung des Euro.
Das war ein Schock. Es war Wasser auf die Mühlen der Euro-Kritiker. Endlich tat der Euro das, was sie immer erwartet hatten.
Natürlich wusste man, dass der Euro auch einmal schwächer werden könnte. Da ihm Währungen angehörten, deren Fundamentaldaten längst nicht so gut waren wie die der D-Mark, war es eigentlich logisch, dass der Euro schwächer als die D-Mark wird. Aber dass er so stark absinken würde, damit hatte man nicht gerechnet. Jeden Abend wurde in den Nachrichtensendungen von einem neuen Tiefpunkt des Euro berichtet. Otmar Issing erzählte in jenen Tagen etwas humorvoll von seiner Mutter, die ihn häufiger anrief: »Warum könnt ihr denn nicht etwas gegen den schwachen Euro tun? Es macht doch einen so schlechten Eindruck, wenn er in den Nachrichtensendungen des Fernsehens immer mit einem Pfeil nach unten gezeigt wird.«
Es war in der Tat ein Problem für die Europäer. Selbst in den schlimmen Tagen der Anschläge auf das World Trade Center hat sich der Euro nicht erholt. Auch die hohen Zinsen – die Leitzinsen lagen damals bei 4,25 Prozent – halfen dem Wechselkurs nicht. Aus deutscher Sicht hatte es bisher erst einmal eine solche Schwächephase gegeben. Das war die erste Hälfte der 1980er Jahre, als der D-Mark-Kurs – umgerechnet in Euro – auf 0,6 Dollar fiel. Damals war dies auf die Euphorie im Zusammenhang mit der strikten Stabilitätspolitik des Notenbankpräsidenten Paul Volcker und auf die neue Angebotspolitik des amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan zurückzuführen. Die Ursachen lagen also in einer Stärke der USA. Damals führte die Stärke des Dollar zu einer konzertierten Aktion der Zentralbanken. Im Plaza-Abkommen vom September 1985 wurde eine gemeinsame Aktion der wichtigsten Notenbanken der Welt auf den Devisenmärkten beschlossen, die die Situation von Grund auf umkehrte.
Diesmal war die Situation ganz anders. Jetzt handelte es sich nicht um eine Dollar-Stärke, sondern um eine Euro-Schwäche. Die Europäer überlegten, ob sie zugunsten des Euro auf den Devisenmärkten intervenieren sollten. Was dagegen sprach, waren die bisherigen Erfahrungen mit Interventionen, die nur dann erfolgreich sein konnten, wenn sie entweder in sehr großen Beträgen erfolgten (dazu war die EZB nicht bereit) oder wenn sie international konzertiert waren.
Im Herbst 2000 fand die Herbsttagung des Internationalen Währungsfonds in Prag statt. Ein wichtiges Thema war dabei natürlich die Euro-Schwäche. Die Amerikaner wollten nicht intervenieren. Sie ließen die Europäer im Regen stehen. Es war erstaunlich, wie gelassen die Vertreter der Europäischen Zentralbank damals auf die Absage der Amerikaner reagierten. Sie wiederholten immer wieder – ich war selbst bei der Tagung als Beobachter dabei –, der Markt übertreibe, wenn er den Euro als so schwach bewerte, und er werde dies schon selbst erkennen. Ob sie das immer selbst glaubten, wage ich zu bezweifeln.
Schließlich kam es doch zu einer internationalen Verständigung zugunsten einer konzertierten Aktion auf den Devisenmärkten, an der sich auch die Amerikaner beteiligen wollten. Es wurde interveniert, wenn auch nicht mit sehr hohen Beträgen, und der Wechselkurs des Euro wertete sich auf. Ob sich die Amerikaner wirklich an den Interventionen beteiligten, wurde oft gesagt, aber nie klar bestätigt.
Das war bisher der einzige Test für den Euro-Wechselkurs. Seitdem bewegte er sich gegenüber dem US-Dollar immer oberhalb von 1,20 Dollar.