Obsolet (Analytical Engine)
Der Begeisterung über die Computer des Charles Babbage aus dem letzten Jahrhundert ist immer auch ein Befremden, ja eine Bestürzung beigemischt, deren Quelle in einer spezifischen Kränkung zu finden ist: Man hält sich für einen modernen Menschen, man hat doch schließlich all die Abendkurse gemacht, um die Anforderungen des Berufslebens zu bewältigen, man weiß doch, was ein Computer ist. Die Erkenntnis, dass es zu Lebzeiten Goethes zwei wagten, einen programmierbaren Computer bauen und ihn betreiben zu wollen, kann schockierend sein. Babbages und Lovelaces Genie verursachen Kopfschütteln. Warum hatten sie den Mut, eine Abzweigung vom allgemeinen Weg zu nehmen, die nur ganz wenige überhaupt sehen konnten? Was wäre, wenn sie sich durchgesetzt hätten? Es ist uns nicht wohl bei der Idee, dass die Computermoderne beinahe im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts begonnen hätte. Wir sind Zeitgenossen! Goethe war keiner, dem verursachte ja schon das heraufdämmernde Zeitalter der Eisenbahn Magendrücken! Wir sind modern! Die narzisstische Kränkung muss verarbeitet werden, und Babbage bietet genehme Auswege: Ein unerträglicher Mensch sei er gewesen, ein krankhafter Perfektionist und Eigenbrötler, dazu arrogant bis zur Hybris. Er, im Nebenberuf als politischer Reformer und Polemiker tätig, habe jedes Gespür für die Schwierigkeiten vermissen lassen, die die enormen Entwicklungskosten seiner Maschine in politischer Hinsicht verursachten. Vielleicht war es ja so. Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht fühlte sich die Mehrzahl der Menschen, die damals mit seinen Ideen überhaupt in Berührung kamen, so wie ich, als ich unvermutet mit Frieders TRS 80 konfrontiert wurde: überfordert bis zur totalen Blendung durch das schlechthin Fremde. Die meisten von ihnen werden erleichtert gewesen sein, als er scheiterte und aufgab, Schadenfreude über den Sturz des “Spinners” mag sich unter diese Erleichterung gemischt haben, die bis heute nachwirkt: Was wäre gewesen, wenn sie sich durchgesetzt hätten?[16] Bei all den Klagen über die “Schnelllebigkeit”, den zu hohen “Innovationsdruck”, die Rasanz der Entwicklung, glauben die meisten heute immerhin, dass sie in interessanten Zeiten leben. Man braucht nicht zu verstehen, was geschieht, das Bewusstsein davon, dass etwas geschieht, und möglicherweise etwas ganz Außergewöhnliches, durchschießt das Futter unseres Alltags wie ein roter Faden, und natürlich auch bei denen, die den guten alten Zeiten hinterher trauern. So wie heute war es nie, und selbst wenn man darunter leidet, so nimmt man doch zumindest als Zuschauer an diesem Modernisierungsolympia teil. Wenn Babbage und Lovelace sich durchgesetzt hätten, fiele das schwerer. Wir wären Nachläufer, Spätfrüchte, die Verwalter von Leistungen einer Avantgarde des letzten Jahrhunderts. Wir wären Zuspätgekommene.
Etwas ähnliches, nur mit Blick auf die Zukunft, geschieht, wenn Kinder an unseren Computern sitzen. Man kann gerne den Versuch aufs Exempel machen. Jeder Computerbesitzer, der ein Kind mit dem eigenen Computer spielen oder arbeiten sieht, weiß genau, dass dieses Kind über diese spezielle Maschine in zehn Jahren von Herzen lachen wird. Dasselbe Kind wird in zwanzig Jahren vielleicht sogar über das ganze Konzept lachen. Wenn seine Eltern gestorben sind; wenn es selbst alt wird, wird es Maschinen geben, die sie nicht einmal erahnen konnten. Der Anblick eines Kindes an der Tastatur eines Computers verursacht seinem Besitzer ein spezifisches Unbehagen, denn er macht ihm seine doppelte Antiquiertheit klar: Die Menschen haben verloren, das mag Günther Anders in den Fünfzigern schon diagnostiziert haben, aber ich habe auch verloren, ich persönlich, so sehr ich mich auch bemühe. Für mein Kind werde ich obsolet sein, Schnee von gestern; worauf ich so stolz war, wird eine Lachnummer sein. Der Igel hat schon gewonnen, so sehr wir auch rennen.