No name (1993)
Ich zitterte. Beim Öffnen der Kartons begann ich wirklich und wahrhaftig zu zittern. So fühlte es sich also an, wenn man 3000 DM auf den Ladentisch des Computerhändlers hingelegt hatte, und nun daran ging, den ersten richtigen Computer seines Lebens auszupacken. Die 3000 DM stellten das Voraushonorar für meine erste größere Veröffentlichung überhaupt dar, das Hörspiel “Der silberne Thron”.[8] Natürlich hatte es während des Bezahlens in meinem Kopf gekeift: “Bist du verrückt? Dein erstes Honorar? Geht das nicht vielleicht billiger? Gebraucht wär auch ganz schön! Wie kann man nur so dumm sein!” Ich wollte nichts Gebrauchtes, ich wollte etwas Konkurrenzfähiges. Und jetzt stand der Gegenwert von einem halben Jahr Arbeit in Kisten auf dem Fußboden, und die Welt flimmerte mir vor Augen. Es ging mir nicht schnell genug, und gleichzeitig hatte ich davor Angst, enttäuscht zu werden. Ich wollte endlich die Schätze in Händen halten, sie berühren, und gleichzeitig fürchtete ich den Moment, in dem alles vor mir stehen, und meinem kritischen Auge unterworfen sein würde. Natürlich fiel es mir damals nicht auf, aber von heute aus gesehen fühlte sich das Auspacken meines ersten richtigen Computers wie mein erster Liebesakt an: Angst und Lust waren auf diese furchtbare, ekstatische Art gemischt wie in dem Moment, in dem ich zum ersten Mal die Haut einer Frau richtig berührte.[9]
Das Objekt der Begierde war ein handelsüblicher Noname, mit einem 386 DX 40 Prozessor, 4MB RAM, einer 105 MB Festplatte, einem Diskettenlaufwerk und sonst nichts. Der Bildschirm, ein 14-Zöller von Philips, war exzellent, der beste, den ich bisher je hatte, ich habe es noch schwer bedauert, ihn losgeworden zu sein. Der Rechner war mein piper at the gates of dawn: ohne mein Wissen war ich in die dunkle Welt von Microsoft hinabgestiegen. Windows 3.1 lief auf der Kiste, Works 2.0 hatten sie dazugetan, ansonsten war der übliche Mist des Herstellers vorhanden, “Tools” und “Utilities”, die kein Mensch brauchte, und die ich selbst in meinem Zustand seligen Nichtwissens als völlig überflüssig erkannte und löschte. Ich hatte auch einen eigenen Drucker! Ein HP 510 C, der aussah wie ein Brotkasten aus grauem Plastik, aber für meine Verhältnisse die unglaubliche Fähigkeit besaß, in Farbe zu drucken. Man stelle sich vor. Ich wusste wirklich noch gar nichts. Ich hatte das dumme Geschwätz des Verkäufers noch im Ohr, der mir auf meine kritischen und ängstlichen Fragen nach Erweiterungsfähigkeit versicherte, der Rechner sei auch für 486er und die kommenden 586er Prozessoren ausgelegt. Er hat mich eben für einen Gimpel gehalten, der 3000 DM auf einen durchschnittlichen Computer verwenden will, und der ansonsten die Mühe nicht wert ist. Wie konnte ich ahnen, dass dieses Gerät für genau zwei Jahre bei mir gut war? Ich dachte, ich hätte die Zukunft gekauft, stattdessen stand auf meinem Tisch von Tag eins nur besserer Elektroschrott. Zum Glück wusste ich das nicht, ich wäre kreuzunglücklich gewesen. Ich war so stolz. Keine dummen Witze mehr über meinen komischen Portfolio, keine Probleme mehr mit der Beleuchtung des Bildschirms. Ein echter Computer. Ein eigener Drucker. Ich war ein König. Georg besuchte mich (ich war erst seit kurzem aus dem gemeinsamen Wehgeschrei ausgezogen), und sah den Computer, der dick und fett in meiner mikroskopischen Wohnung stand, scheel an. “Hast du jetzt also einen richtigen”, sagte er. Und ich dachte: “Genau, einen richtigen, du veraltetes Arschloch.” Wir waren nicht im Guten geschieden, und ich lächelte Georg an, während ich ihn innerlich beschimpfte. Volker war wie immer skeptisch. Irgendwie behagte ihm der Computer nicht, vor allem die magere Software fand er bedauerlich. “3000 Mark?”, sagte er “Wirklich 3000 Mark?” Meine Freundin seufzte. Sie ahnte, dass sie nicht mehr die einzige Frau in meinem Leben sein würde. Ich aber betrat die Welt der Wunder. Für mich, der ich meine Magisterarbeit noch auf einer Schreibmaschine bewältigt hatte, und der bis dahin auf einem achtzeiligen Bildschirm ohne Beleuchtung hatte Literatur verfassen wollen, war der Umstieg auf den neuen Computer der Wechsel von einem Mofa zum Rolls Royce Silver Shadow. Ich erfuhr, was ein gelungener schriftstellerischer Arbeitstag hervorbringen kann. Ich benutzte den Gegenwert des Hörspiels um das Hörspiel, das noch gar nicht gesendet worden war, ins Reine zu schreiben, und schickte der Dramaturgin stolz die korrigierten Fassungen. Ich lobte das Gerät, wenn es funktionierte (selbstverständlich streichelte ich es manchmal auch) und hätte es aus dem Fenster werfen können, wenn es nicht funktionierte. Mit einem Wort, ich war verliebt. Als unsere Beziehung schon eine ganze Weile lang dauerte, ging ich daran, den Computer auszureizen und zu überfordern. Ich hatte eine ganze Weile mit Aquarellfarben herumexperimentiert und einen gewissen eigenständigen Stil entwickelt. Ich lehnte die üblichen ineinander verlaufenden Schlieren ab, und trug die Farbe stattdessen lackdick auf, wo ich sie haben wollte, dadurch erhielt ich statt einem weichen “poetischen” Ausdruck harte, klar gegeneinander abgegrenzte Farbfelder, die sich wie Inseln über das Papier erhoben. Wie sich später herausstellte, waren Aquarellfarben für diese Technik wenig geeignet, weil sie im Lauf der Zeit austrocknen. Die Farbfelder bekommen heute Risse wie ein unter der Sonne aufbrechender Wüstenboden, und entwickeln die bedauerliche Tendenz, einfach von dem Bild herunterzubröseln. Die Museen werden eine Heidenarbeit mit der Konservierung haben. Was mich damals allerdings am meisten juckte, war nicht die Hinfälligkeit der Aquarellfarben in Lackschichttechnik, sondern die Tatsache, dass ich meine briefumschlagsgroßen Bilder nicht völlig durchplanen konnte. Der ein oder andere Strich ging mir immer daneben, und ich musste dann den knapp bemessenen Raum neu aufteilen, um eine akzeptable Gesamtgewichtung der Bildinhalte zu erreichen. Daher die überbordende Ornamentik auf diesen Bildern. Mithilfe meines neuen Computers glaubte ich, die Bilder erst genau planen, und dann vom Bildschirm abmalen zu können. Das Ergebnis meiner Versuche mit computergestützter Aquarell-Lackschichttechnik war, dass ich die Aquarellfarben in den Schrank packte, und fortan nur noch mit Computergrafik beschäftigt war. Nach einem halben Jahr, in dem ich meine Gedichte mit pixeligen Grafiken verziert hatte, wollte ich ein Bilderbuch machen. Ich war so begeistert von den Möglichkeiten der Computergrafik, dass ich es sogar tolerierte, wenn der Ausdruck eines Blattes eine ganze Nacht dauerte. Mehr als einmal taumelte ich schlaftrunken von meinem Bett zu meinem Drucker, um festzustellen, dass sich das Papier festgefressen hatte, und die stundenlange Rechen- und Druckarbeit umsonst gewesen war. Als das Bilderbuch fertig war, dauerte es zwei Wochen, ein Exemplar davon auszudrucken. Ich war beinahe glücklich. Alles was ich brauchte, war ein schnellerer Computer und ein besserer Drucker, denn ich plante schon das nächste Projekt.
Den 386er verkaufte ich 1995 schließlich für 800 Mark (leider inklusive Bildschirm) an einen Nachbarn. Der Nachbar war Soldat, und erzählte mir, während er den Computer abholte, alles über die Dienstgrade der Bundeswehr. Die 800 Mark reichten mir zusammen dem Ersparten und ein wenig gepumpter Knete gerade so für den nächsten Rechner.