Die Mutter aller Computer (Atari Portfolio)
Als ich den Atari Portfolio 1990 für ungefähr 800 DM kaufte (was, gelinde gesagt, hirnlos überteuert war), hatte ich Georgs Apple IIc und seinen Zenith schon hinter mir. Weil ich gar so sehr meinen eigenen Rechner wollte, entschied ich mich für den “kleinsten PC der Welt”, wie der Atari Portfolio von der Werbung in Deutschland genannt wurde. Die besagten 800 DM für das Maschinchen auszugeben war hart, besonders wenn man bedenkt, dass eine zusätzliche 128 K RAM-Karte noch einmal mit 300 DM zu Buche schlug. Aber die 4000 DM für ein ausgewachsenes System auf den Tisch des Händlers zu legen, war mir einfach unmöglich.
Ich war auf meine neue Errungenschaft sehr stolz. Meine Freunde lachten sich darüber krank, besonders die ziemlich kleine Tastatur war der Anlass für manchen Scherz. Weil ich ziemlich große Hände habe, muss die Tastatur umso lächerlicher ausgesehen haben. Der Portfolio nahm Rache, als mein Hörspiel “Der silberne Thron” gesendet wurde, denn dessen Erstversion war mit Hilfe seines eingebauten Textverarbeitungsprogramms entstanden. “Textverarbeitungsprogramm” ist vielleicht ein bisschen übertrieben. Man konnte nämlich mit diesem Programm Text nicht wirklich verarbeiten, sondern nur schreiben und speichern, und wenn man es denn unbedingt wollte, konnte man ihn auch direkt von der Maschine drucken (das geht wirklich, ich habe es probiert). Das Honorar für dieses Hörspiel ermöglichte mir den Kauf meines ersten echten Computers, eines 386ers, mit dem der Portfolio klaglos zusammenarbeitete. Auch mit dem Pentium, der danach kam, machte er keine Probleme, und zwar aufgrund der verfluchten DOS-Kompatibilität von Win95. Eine ganze Menge meiner Geschichten haben auf diesem Bildschirm das Licht der Welt erblickt. Kein sehr helles Licht, wie ich gestehen muss, weil der Bildschirm keine Hintergrundbeleuchtung hatte. Die Nützlichkeit des Maschinchens wurde durch seine geringe Performance eingeschränkt, aber es war über die Maßen tragbar. Die CPU? Ein 80C88 Intel mit 4,92 Mhz. Ab Werk verfügte es über 128 K RAM, von denen 62 K für die eingebauten Programme reserviert waren, die in einem 256 K großen Rom wohnten: das besagte “Textverarbeitungsprogramm”, eine Tabellenkalkulation (angeblich 1-2-3-kompatibel), ein Taschenrechner, ein Terminkalender, eine Datenbank für Adressen, und natürlich das Betriebssystem, das eine Art abgespecktes DOS war. Es konnte recht mühsam werden, Texte mit einer Größe von über 5K auf dem Portfolio zu schreiben, denn die simple Korrektur eines Tippfehlers verbrauchte dann bis zu 10 Sekunden. Über die anderen Programme weiß ich nichts, weil ich sie nie benutzt habe. Es gab ein handliches Interface für die Verbindung mit größeren Maschinen, und das Dateiübertragungsprogramm war leicht zu handhaben und zuverlässig, auch wenn die Übertragungsrate nur als mau bezeichnet werden kann. Der Bildschirm wies acht Zeilen mit je vierzig Zeichen auf (240 x 64 Pixel). Die Maschine kam mit drei handelsüblichen AA-Batterien à 1,5 Volt aus, wohingegen die zusätzliche RAM-Karte etwas exotischere Bedürfnisse hatte, die Zelle war sehr flach und ihre Lebensdauer wurde mit zwei Jahren angegeben, bei mir hat sie fast zehn Jahre gehalten. Das Gerät war 20 Zentimeter lang, 10 Zentimeter breit und 2,5 Zentimeter hoch. Es wog 350 Gramm (mit Batterien).
Hier könnte ich es gut sein lassen, wenn meine Liebe zur Wahrheit mir nicht befehlen würde, auch die düsteren, ja geradezu abgründigen Kapitel in meiner Liebesaffäre mit dem Atari Portfolio zu erwähnen. Den Begriff “Datenverlust” z.B. erlernte ich in Zusammenhang mit ihm. Ich hatte das Gerät noch relativ neu, und gab während einer Party wieder einmal damit an. Bis dahin hatte ich etwa zwanzig Seiten Text verfasst, die alle ohne Backup auf der RAM-Karte gespeichert waren: Gedichte und kurze Prosatexte. Ich zeigte den anderen die RAM-Karte, das kleine, elegante Wunderwerk, und als mich einer fragte, wie diese Karte die Information speicherte, die ich auf ihr abgelegt hatte, öffnete ich das winzige Batteriefach und zog die winzige Batterie heraus. Ich freute mich noch selbst an dem netten Babuschka-Effekt, den ich dadurch erzeugt hatte, als mir zu Bewusstsein kam, dass ich soeben 20 Seiten geschriebenen Text ins Datennirvana geblasen hatte. Meine Reaktion war klassisch: “Oh, Scheiße”. Es gab welche, die lachten so sehr, dass sie auf die Toilette mussten. An die Texte, die ich bei der Aktion verloren habe, kann ich mich nicht erinnern, was ich von ihnen noch weiß, wirkt von heute aus entbehrlich. Aber das Gefühl, mit dem ich lächelnd die Batterie in ihr winziges Schubfach an der RAM-Karte steckte, und die RAM-Karte zurück in den Rechner (umgekehrter Babuschka-Effekt), das vergesse ich nicht. Einer der Gründe, weswegen ich ein wenig neurotisch mit Datensicherung bin, ist der Babuschka-Effekt.
Und dann wollte ich einmal, in einer leicht missionarischen Anwandlung, einer Freundin, die bis dahin noch gar nichts davon gehört hatte, die Welt der Computer erklären. Ich tat das unter den denkbar ungünstigsten Umständen, denn erstens war sie in diesem Moment betrunken, zweitens benutzte ich meinen Portfolio-Winzling zur Demonstration. Vielleicht hätte ich gegen ihre Betrunkenheit mit dem Terminal eines IBM-Großrechner mehr Glück gehabt, denn ruckende zuckende Bandspulen und flimmernde Lichter beeindrucken einfach leichter, als ein kleines, schokoladengroßes, graues Kästchen mit einem Bildschirm ohne Beleuchtung. Wir schrieben das Jahr 1990, und ich, der ich mich doch in Computerdingen eigentlich selbst als sehr zurückgeblieben begriff, wollte meiner Freundin etwas Gutes und Nützliches tun. Sie musste es doch lernen! Es war doch die neue Zeit! Da saßen wir beide also an einem Küchentisch, sie mit einem Glas Sekt in der Hand und in aufgekratzter Stimmung, den Portfolio vor uns. Die Kommunikation war ein wenig schwierig. Ich hatte ihr gerade erklärt, dass eine Datei so eine Art Kartoffelsack awi, in den man die Kartoffeln hineinfüllt, um ihn dann zuzuschnüren. Bildlich gesprochen.
“Und dann, wenn du was geschrieben hast, musst du es also in einer Datei speichern, damit ...”
“Datei? Hihi. Wieso Datei? Ich seh da immer nur so einen Sack vor mir, wo man Buchstaben und Zahlen reinschüttet und dann oben zuschnürt, hihi ...”
“Genau darum geht es doch. Wenn du einen neuen Text hast, dann musst du einen neuen Sack aufmachen, und ihn hineintun, sonst ist er weg. Schreib doch mal was.”
Sie schrieb was, und es war der übliche Mist à la “Ich bin die und die, und schreibe gerade meinen ersten Satz auf einem Computer”, und dann setzte sie noch dahinter: “Und ich bin total besoffen.” Und dann kicherte sie los, und hysterisierte sich in einen richtigen Lachkrampf hinein, der eine ganze Weile dauerte. Danach streichelte sie den Portfolio und sagte ein paar Mal:
“Das ist ein schönes Kästchen. Fühlt sich richtig gut an. So samtig.” Dann lachte sie wieder.
Ich kam mir irgendwie nicht so vor, als würde ich richtig ernst genommen.
“Also wenn du keine Lust darauf hast, dass ich dir das zeige, dann müssen wir das nicht machen. Vielleicht hast du auch ein bisschen viel getrunken.”
“Nein”, sagte sie grinsend. “Nein, nein. Du machst das sehr gut. Ich hab ein bisschen was getrunken, aber ich kann dir sehr gut folgen. Was kann man denn noch mit diesem Ding alles machen? Zeig mal! Was ist denn jetzt mit dem Kartoffelsack?”
Und sie sah mich mit diesem verschwiemelt amüsierten Blick der Besoffenen an, die gut drauf sind. Ich hatte meine Zweifel, ob es einen Sinn hatte, ihr irgend etwas zu erklären, außerdem war mein Besitzerstolz gekränkt, aber als ich aufstehen wollte, um dieser unwürdigen Veranstaltung ein Ende zu machen, hielt sie mich am Arm fest und bestand auf einer Fortsetzung der Lektion. Das ging so eine Weile hin und her, und als ich dann wirklich aufstand, weil es mir doch zu dumm wurde, fühlte ich mich gedemütigt. Es war die Demütigung des Missionars angesichts eines Wilden, der über die Bilder in seiner Bibel lacht.
Eine Zeit lang musste ich glauben, mein Portfolio sei gestorben. Ein Wackelkontakt an der Stromversorgung verführte mich zu der Idee, ihn dauerhaft mit Batteriestrom zu betreiben. Das war etwa drei Wochen lang erfolgreich, dann erlitt das Maschinchen einen plötzlichen Gehirntod und ließ sich weder durch frische Batterien noch durch gutes Zureden wieder zum Leben erwecken. Ich bettete es in meinem kleinen Friedhof für defekte und veraltete Elektronik zur Ruhe. Ich hoffte, es sei mit seinem einfachen Grab zwischen dem Doublespeed-CD-ROM-Laufwerk und den veralteten 16 MB RAM-Modulen zufrieden. Ein Herz, das 4,92 Millionen Male pro Sekunde geschlagen hatte, lag still. Mein Schmerz wurde durch die Preisschildchen an den richtigen Laptops in den Computerläden enorm verstärkt: Etwas Vernünftiges kostete wiederum 4000 DM. Ich weinte. Und hätten diese digitalen Schwarzeneggers mit ihrer Rechenpower, ihren hintergrundbeleuchteten TFT-Bildschirmen, ihren Gigabytes an Speicherkapazität, ihren Infrarotschnittstellen, ihren gigantischen Tastaturen und all dem anderen ein Ersatz sein können für den “kleinsten PC der Welt”? Kaum. Alles was blieb, waren die Erinnerungen an eine kleine, tapfere Maschine, die ihre mittlere Lebensdauer um 100 % überschritten hatte. Und dann: die Auferstehung. Das Gerät lag etwa zwei Jahre auf dem Friedhof, als ich es noch einmal exhumierte, um es ein letztes Mal auf Funktionstüchtigkeit zu prüfen. Ich steckte drei frische Batterien hinein, und als ich die letzte einrasten ließ, grüßte mich das Computerchen mit dem altbekannten Flötenton der Betriebsbereitschaft. “Tüt” machte es, und mein Herz schlug schneller. Ich drehte das Kästchen um, und der Bildschirm zeigte mir die alten Startbotschaften. Die Handgriffe waren noch da, die Befehle auch, die RAM-Karte hatte den letzten Text behalten, den ich auf dem Rechner geschrieben hatte, weil die Batterie immer noch funktionierte. Ich fand das Filetransfer-Programm, das parallele Interface, schloss den Portfolio an meinen Pentium III-Rechner an, und übertrug eine Testdatei. Klappte tadellos. Der Atari Portfolio lebte. Alles war gut.