Montagnola Blues
Zwischen 1978 und 1986 gab es in meinem Leben so gut wie keine Computer. Ich hatte ganz andere Probleme. Mochte doch Frieder seinen Schabernack mit seinem elektronischen Krimskrams treiben, ich wollte sowieso lieber lesen, und das am besten immer. Zwar wurden auch meine Taschenrechner immer eleganter und, von mir unbemerkt, auch programmierbar, aber das verbesserte meine Leistungen in Mathematik und Physik überhaupt nicht. Mir war das alles zuwider, von den Lehrinhalten bis zu den Lehrpersonen, ich hatte andere Probleme. Meine erste Freundin, interessierte sich die für Computer? Nie im Leben! Sie interessierte sich für Hermann Hesse. Und daher interessierte ich mich dann eben auch für Hermann Hesse, wobei mich an Erwachsenenliteratur vorher doch nur die billig gebundenen Kishons im Bücherschrank und die Pornos im Kleiderschrank meiner Eltern interessiert hatten. Hätte sich meine erste Freundin, Irene hieß sie, für Computer interessiert (wodurch sie sofort in ihrer Familie, ihrer Schule und überall sonst zum Freak des Jahrhunderts mutiert wäre) hätte ich das auch getan, aber sie las “Demian”, und ich tat es auch, das schien mir der Weg, um ihr Spaß zu machen, und das wollte ich unbedingt. Ich wollte sie küssen. Sie wollte das aber nicht. Sie war zwei Jahre älter, und schätzte es platonisch. Plato ging mir schon auf die Nerven, bevor ich noch eine Zeile von ihm gelesen hatte, und nachdem ich ganz viele Zeilen von ihm gelesen hatte, Irene zuliebe nämlich, ging er mir erst recht auf die Nerven. Aber Belesenheit machte bei Irene Eindruck, auch wenn sie nicht geküsst werden wollte. Das groteske Beziehungsgewurstel zweier Kleinbürgerkinder, das furchtbar erwachsene Liebesfingerhakeln zwischen einem einsamen 14jährigen und einer sensiblen 16jährigen. Ich ließ mir zu meinem 15. Geburtstag die billige Suhrkampausgabe von Hesses Prosa schenken, und stellte sie zu der kleinen Sammlung von “ernsthaften” Büchern, die ich mir bereits von meinem Taschengeld zugelegt hatte. Man stelle sich nur vor: “Fremde Körper” von Krolow war dabei, und ein Band Gedichte von Günter Eich. Der fremdeste Körper trug den Namen Irene und begann über den Eifer zu staunen, mit dem ich ihn literarisch anlocken, umgarnen, einfangen wollte. Die Bücher waren meine Armee. Sie gaben mir das Gefühl, etwas besonderes zu sein. Es ist zum Brüllen komisch und zum Weinen traurig, aber ich begann mir aus diesen paar Brettern, und den dünnsten und minderwertigsten natürlich zuerst, eine Identität zu zimmern. Selbstredend verstand ich von all dem Zeug nichts, aber ich las es doch gern, es gab mit ein gutes Gefühl, meine Tragik hatte eine Stimme, ich wurde verstanden. Die acht Bände Hesse las ich ratzfatz alle. Und alles, was ich von ihm in der Bibliothek fand, dazu. Ich schenkte meinem Vater das “Glasperlenspiel”, damit er mich verstehen konnte. Mein Vater fand den Leseeifer seines Sohnes bedenklich, und dieses Geschenk kam ihm verdächtig vor. Aber mich, mich munitionierte der spätromantische Schwafler aus Calw. Und mithilfe der Munition, die er mir an die Hand gab, überstand ich Irene, meine Pubertät, und schließlich Hermann Hesse selbst. Weil ich ja irgendeine Identität brauchte, hatte ich mir eine gemacht: ich war ein Leser. Da sich das in der Schule in gute Deutschnoten umsetzen ließ, gaben sich am Ende sogar meine Eltern geschlagen. Von Frieder und den Computern entfernte mich der komische Bildungseifer immer mehr. Und obwohl ich auch eine ganze Menge Science Fiction-Romane las, was sowohl meine Eltern, meine Lehrer, als auch meine Irene, solange sie mein war, völlig verwirrte, hatten Computer für mich im wirklichen Leben etwas Verwirrendes, Unverständliches, tendenziell Bedrohliches. Von Computern wurde in Fernsehen, Schule und Familie geraunt, sie würden demnächst sehr wichtig werden, und man solle sich nur schon einmal damit befassen, damit einen die Modernisierung nachher nicht überrumpele. Wir jungen Leute, hieß es! EDV wird wirklich wichtig! Ich wollte nicht, ich hatte Angst. Frieder war in die Naturwissenschaften gegangen, und spielte dort alle an die Wand, was ich ihm neidete und als Verrat empfand, mein Trick war die Literatur. Ich erinnere mich deutlich an eine Busfahrt von der Schule nachhause, bei der ich über drei Bedrohungen brütete, die hinter dem Horizont auf mich warteten: das Abitur, die Bundeswehr, und, am wenigsten konkret, aber dafür umso angsterregender: Computer. Mein Vater, der sonst nur auf die Computer schimpfte, mit denen er als Beamter peripher in Berührung kam, hatte mir schon einige Male nahe gelegt, mich doch einmal “damit zu befassen” – nicht nur immer mit dem Literaturkram. Ich misstraute diesem Ratschlag. Mein Vater empfahl mir auch Tanzkurse und den Führerschein, und das war mir alles zuwider. Computer. Ganz von fern pfiff mir noch der Kanarienvogel im Ohr. Ich mochte das nicht. Ich beschloss, Computer zu boykottieren.
Ich habe es übrigens nie geschafft, Irene zu küssen. Einmal, zehn, fünfzehn Jahre später, kam sie zu einer meiner Lesungen. Wir gingen nachher noch etwas trinken, und in einem Gemisch aus Blödheit, Vertrautheit und plötzlich aufschießender Sehnsucht legte ich ihr meine Hand aufs Knie. Sie sagte dazu nichts: Diese Berührung, intimer als alles, was sie mir als Jugendliche gestattet hatte, fiel ihr vor Überraschung zwischen die Wörter. Als mir klar wurde, was da passierte, fühlte ich eine tiefe Befriedigung. Und schämte mich gleich darauf enorm dafür.