Die Stimme Gottes (TRS-80)

Als ich die Stimme Gottes das erste mal hörte, war ich zehn oder elf. Ich wurde buchstäblich vor einen brennenden Dornbusch gezerrt, aus dem der Weltgeist nur so hervorröhrte, aber alles, was ich hörte, war das Röhren selbst, und die Worte machten keinen Sinn. Den Vermittler, um nicht zu sagen den Gottesluden, machte mein Schulfreund Frieder Noll, der ein armes Kind mit einer hysterischen Mutter, einer noch hysterischeren Großmutter und ganz ohne Vater war, was, zusammengenommen, vielleicht die totale Abwesenheit von Vernunft im Affenstall seiner Kindheit erklärt.

Es ist dann auch nichts aus ihm geworden. Das letzte Mal als ich ihn traf, saß er auf seinem neuen Motorrad, den Helm locker unter dem rechten Arm, und erklärte mir, er habe sich freiwillig für 12 Jahre “beim Bund verpflichtet”. So kann es kommen, wenn man in einer trüben, schlecht geheizten Wohnung in einem gottverlassenen saarländischen Nest aufgewachsen ist, das für die Bedrängten und Beladenen keinerlei Trost bereithielt.

Frieder Noll hatte eine kleine Sitzbank mit rotem Kunsthoffbezug. Man konnte den Sitz hochklappen, und darunter tat sich ein beträchtlicher Stauraum auf, den er bis an den Rand mit Schokolade, Bonbons und Süßigkeiten gefüllt hatte. Die arme Sau durfte das Zeug auf Geheiß von Mutter und Großmutter nie anlangen, so dass die schokoladigen Schätze in der kalten Sitzbankhöhle schon ganz grau geworden waren. Ich weiß das, weil er mir den Krempel an diesem bestimmten Tag gezeigt hat. Er bot mir sogar davon an, was ihm offensichtlich für diese spezielle Gelegenheit von den beiden Hausdrachen erlaubt worden war, aber angesichts des Erhaltungszustands der Ware lehnte ich dankend ab. Der Blick, mit dem Frieder Noll die Sitzbankklappe wieder über dem vergeblichen Reichtum schloss, vergisst sich nicht so leicht.

Vielleicht waren es neurotische Verklemmungen wie diese, die ihn schon in frühen Jahren dazu brachten, sich mit abseitigen Dingen zu beschäftigen. Wir waren zehn oder elf, wie gesagt, eigentlich hätten wir draußen herumspringen und Fußball spielen sollen, aber es regnete, und wir beide hassten Sport, egal in welcher Form. Ich habe vergessen zu erwähnen, dass unsere Freundschaft auf einem gemeinsamen schweren Schicksal beruhte. Waren wir doch beide zu früh eingeschult worden, und hatten wir doch beide in der Grundschule darüber hinaus noch eine Klasse übersprungen, so dass wir von da ab immer die beiden Jüngsten waren, wohin wir auch kamen. Von der Umwelt wurden wir so lange als ganz natürliche Alliierte betrachtet, bis wir dem Sozialdruck schließlich nachgaben, und die Erwartungen mit einer echten, wenn auch manchmal fragilen Freundschaft erfüllten.

Aber an diesem Tag war nichts los mit uns. Wir waren beide bedrückt, als Frieder die Sitzbank wieder zugeklappt hatte, und der Gesprächsstoff ging uns ein bisschen aus. Schließlich hellte sich Frieders Gesicht auf, und er verkündete: “Ich zeig dir jetzt was.” Dann lief er aus dem Zimmer und rief nach seiner Mutter. Eine Minute später kam er zurück. Das Licht in seinen Augen war immer noch da, die Verhandlungen mit seiner Mutter waren wohl erfolgreich gewesen. “Ich zeig dir jetzt meinen Computer.”

Ich bin mir nicht sicher, ob der Begriff “Computer” damals schon zu meinem Wortschatz gehörte, ich vermute eher nicht. Wir sprechen hier vom Jahr 1978, und das avancierteste technische Gerät, das ich bis dahin je gesehen hatte, war der neue Kassettenrecorder meines Bruders, der mich zwar faszinierte, aber den mein Bruder sorgfältiger hütete als seinen Augapfel, und den ich nicht einmal anfassen, geschweige denn genauer überprüfen durfte. Ich hatte im Jahr vorher mehrfach versucht, Uhren, kaputte Radios und alte Mehrfachsteckdosen auseinander zunehmen und wieder zusammenzusetzen. Das Aufschrauben ging fix, die Umkehrung gelang nie. Vielleicht war mein Bruder durch diese Aktionen gewarnt, und ihm schwante Böses, wenn ich dem Gerät zu nahe kam.

Auf jeden Fall war ich auf den “Computer” von Frieder Noll nicht vorbereitet, die Stimme Gottes traf mich völlig unerwartet an. Verblüfft von der eigenartigen Erregung, mit der er agierte, beobachtete ich Frieder dabei, wie er mehrere Kisten von seinem Kinderzimmerschrank herunterholte und sie vorsichtig auf dem Fußboden ablegte. Dass es um Technik ging, sah man an den Aufdrucken der Schachteln. Ich weiß nicht, was ich erwartete. Vielleicht dachte ich, es handele sich in Wirklichkeit um ein neues Mikroskop oder eine neue Carrera-Rennbahn. Carrera-Rennbahnen standen damals sehr hoch im Kurs, und damit hätte er mich wirklich beeindrucken können. Oder ich war vielleicht ein bisschen hochnäsig nach diesem Erlebnis mit der grauen Schokolade, und dachte: “Was bringt er jetzt wieder für einen Scheiß an.”

Frieder bastelte. So sah es jedenfalls aus. Er entnahm den drei Kartons drei Kisten, eine große schwarze, die unverständlicherweise wie eine Schreibmaschinentastatur aussah, eine kleinere schwarze, die entfernt an den Kassettenrecorder meines Bruders erinnerte, und eine ganz kleine schwarze, die Frieder in die Steckdose an der Wand steckte. Er verband das Arrangement mit Kabeln untereinander, drückte einen Schalter an dem größten schwarzen Kasten, und sah mich an, als habe er gerade Amerika entdeckt.

Ich konnte mir absolut keinen Reim darauf machen, und hatte ein leicht flaues Gefühl im Magen, so als sollte ich betrogen oder grob veralbert werden, und müsste nur genau genug hinsehen, dann würde ich den Trick schon erkennen. Es war leicht düster im Zimmer, der Abend brach herein, und Frieder saß auf dem abgewetzten Teppichboden über seinen Gerätschaften und wartete auf einen Kommentar. Ich wollte ja nicht direkt unhöflich sein, und auch nicht völlig blöde wirken, aber mir fiel nichts anderes ein, außer:

“Was ist das?”

Ich brachte das Eingeständnis meiner totalen Ahnungslosigkeit mit einer gewissen Gewalt hervor, so dass es wie ein Vorwurf klang. Frieder lächelte.

“Das”, sagte er zufrieden, “ist ein Computer.”

Seine Selbstsicherheit ärgerte mich. Eben, über der aufgeklappten Schokoladensitzbank war ich noch Herr der Lage gewesen und hatte seine schäbigen Höflichkeiten dankend ablehnen können. Jetzt wehte hier eine anderer Wind, Frieder bestimmte jetzt mit seinem mysteriösen Verhalten den Takt, und ich fühlte mich, als sei ich im falschen Film. Ein Computer? Was um Himmels willen war das?

“Und was kann man damit machen?”, fragte ich und glitt von dem Stuhl hinunter auf den Teppichboden, um dem Mysterium ein wenig näher zu sein. Da war immer noch eine gewisse Gereiztheit in meiner Stimme, aber Frieder griff die Neugier dankbar auf.

“Man kann damit Programme schreiben. Ich kann ihn jetzt nicht richtig anmachen, weil ich ihn sonst an unseren Fernseher dran stecken müsste, aber ich wollte ihn dir halt mal zeigen.”

Programme, dachte ich. Fernsehen.

“Fernsehprogramme?”, fragte ich blöde.

Frieder lachte, und ich wurde rot.

“Nein”, sagte er freundlich. “Programme sind Dinger, die ... die ... Sachen machen können.”

Das hier ging mir eindeutig über die Hutschnur. Für so etwas war ich nicht hergekommen. Mir war richtig unheimlich zumut. Aber der Knockout war noch im Kommen.

“Ich kann Programme machen, die verschiedene Sachen berechnen.”

Ich erinnerte mich düster, dass er neulich einen neuen Taschenrechner mit in die Schule gebracht hatte, der seiner Auskunft nach “programmierbar” war, wovon ich halb verstand, dass der Rechner gewisse Operationen so gut wie selbständig ausführen konnte, weswegen er bei den Mathematikarbeiten nicht erlaubt war. “Texas Instruments” hatte auf dem Taschenrechner gestanden. Daran erinnerte ich mich genau. Frieder war schon immer der beste in Mathematik gewesen, und warum er einen “programmierbaren” Rechner brauchte, war mir nicht ganz klar. Auf jeden Fall griff ich nach dem einzigen Kontext, in dem ich bisher den Begriff “programmierbar” gehört hatte, wie ein Ertrinkender nach einem Strohhalm.

“Das ist wie bei deinem Taschenrechner, oder?”, fragte ich vage, und Frieders Gesicht hellte sich auf.

“Genau. Nur kann der hier viel mehr. Viel bessere Programme.”

Das war mir nun wieder völlig schleierhaft. Ich wollte diese Programme sehen. Ich wollte ihnen gegenübertreten. Dieses abstrakte Gefasel von “Programmen” und “Programmierbarkeit” ging mir auf die Nerven.

“Und wo sind diese Programme?”

Frieder drückte auf die schwarze Kiste, die ein bisschen wie ein Kassettenrekorder aussah, und tatsächlich, ein Kassettenfach sprang auf, und er fischte eine Tonbandkassette heraus, die genau wie die aussah, auf denen mein Bruder ungelenk seine Lieblingslieder aus dem Radio aufnahm, so dass man vorne und hinten immer noch ein wenig von den Nachrichten, der Werbung oder dem Moderator mitbekam. Frieder hielt die Kassette in die Höhe und sagte:

“Hier!”

Jetzt hatte ich endgültig genug. Ich war mir sicher, dass Frieder mich verschaukelte.

“Quatsch. Das ist eine Tonkassette. Das ist für Musik.”

“Nein”, sagte Frieder, leicht verzweifelt, “die hier nicht. Da sind die Programme. Man kann schon was hören, aber keine Musik.”

Ich muss ihn ungläubig angesehen haben, denn um mir vorzuführen, was man hören konnte, wenn es sich schon nicht um Musik handelte, steckte er die Kassette in den Recorder zurück, legte einen Schalter um, und drückte auf einen Knopf, der dem “Start”- Knopf am Recorder meines Bruders ziemlich ähnlich sah. Zuerst konnte man nur Rauschen hören, und ich fing an, mich zu entspannen. Drangekriegt, dachte ich. Ich bin doch nicht doof. Und dann hörte ich die Stimme Gottes. Sie war nicht schön. Aus dem Lautsprecher des Recorders kam ein Gequietsche und Gepfeife, als würde ein elektrischer Kanarienvogel zu Tode gefoltert. Wilde Modulationen, atonales Klangstaccato, schmerzhaft hohe Töne, die wie auf einer Klangachterbahn in meinen Ohren herumfuhren. Nein, das war keine Musik. Das war ... das war ... irgendwas. Ich suchte nach Begriffen. Ich tastete nach einer Idee. Ich wollte meine totale Ratlosigkeit irgendwie verpacken und verarbeiten, dass sie nicht mehr ganz so schrecklich wirkte. Frieder nahm meinen Schrecken wahr, und stellte die Quietschkiste ab. Dann war Stille. Nur um irgend etwas zu sagen, murmelte ich:

“Was hat das gekostet?”

“Eintausendachthundert Mark”, sagte Frieder stolz, und das war für mich das Sahnehäubchen auf diesem Alptraum. Ich war an Summen zwischen 5 und 20 Mark gewöhnt, sehr teure Dinge kosteten mehrere hundert Mark, aber dass diese drei Kisten auf dem Boden eintausendachthundert Mark gekostet haben sollten, verschlug mir völlig die Sprache.

“Von meinem Vater. Hat er in Amerika bestellt.”

Frieder, so wusste ich, hatte natürlich doch einen Vater. Einen abwesenden, ziemlich wohlhabenden Vater, der ab und zu in die Erziehung seines Sohnes eingriff, indem er ihm aus der Ferne teure Geschenke machte. Wie zum Beispiel “programmierbare” Taschenrechner. Und “Computer”, die wie sterbende Kanarienvögel klangen. Eintausendachthundert Mark. Es musste wahr sein.

Bald darauf ging ich nachhause. Ich war so verblüfft, so an die Wand gespielt von der ersten Computerpräsentation meines Lebens, dass ich niemand daheim davon erzählte. Auf die Frage meiner Mutter, wie es gewesen sei, murmelte ich etwas Unverständliches. Ich ging in mein Zimmer, und tat das, was ich in aussichtslosen Situationen immer tat: ich las. Damals las ich Karl May, an diesem Tag dauerte die Lesesitzung mehrere Stunden, und abends um Neun war meine Welt wieder in Ordnung. Ich ahnte nicht, dass mich die Geschichte gestreift hatte, unabsichtlich zwar und nur mit dem kleinen Finger, aber dass mich schon das komplett überfordert hatte, und dass es sich bei der Verwirrung, die Frieder und sein Computer in mir ausgelöst hatten, um einen echten Kulturschock handelte.

Die Klugscheißer werden jetzt einwerfen, dass diese Geschichte nicht wahr sein kann. Dass Zehn- oder Elfjährige 1978 im Hinterhof der Bundesrepublik nicht mit Computern herumspielten, geschweige denn “Programme” für sie schrieben, auch keine sehr einfachen. Darauf muss ich antworten, dass erstens Frieder seiner Zeit, mir und unseren Klassenkameraden in Mathematik und Naturwissenschaften immer um Längen voraus war, und dass es durchaus sein kann, dass er einer der ersten Kinder in Deutschland war, die in einem konkreteren Sinn mit Computern zu tun hatten. Leider fällt davon gar kein Abglanz auf mich selbst, weil, wie schon dargestellt, das alles weit jenseits meines Horizonts lag und sich aus dieser Begegnung mit Frieders prähistorischer Computerbegeisterung sogar eine unterschwellige Computerphobie entwickelte, wie mir Jahre später klar werden sollte.

Was das für ein Gerät gewesen sein soll, das mir Frieder da zeigte? Theoretisch kommen vier Maschinen in Betracht: Der Apple I, der Apple ][, der TRS-80 von Radio Shack und der PET 2001 von Commodore. Von all diesen Computerfossilien kommt der TRS-80 meiner Erinnerung am nächsten. Deswegen entscheide ich mich für ihn. Die ganz Skeptischen sind immer noch nicht überzeugt. Sie zweifeln an meinem Bericht. Aber wie viel wahrscheinlicher als meine Erinnerung an die Stimme Gottes ist die Tatsache, dass das Handy auf meinem Schreibtisch eine weitaus größere Speicherkapazität hat als der TRS-80 von 1978, und dass meine optische Maus schneller rechnet als mein 386er, den ich 1993 kaufte? Das finde ich unwahrscheinlich.

Und Frieder? Ich weiß es nicht. Er arbeitet vielleicht an den Infowar-Strategien der Bundeswehr, sitzt als Verbindungsoffizier des MAD in irgend einem Stab, der sich mit der deutschen Abteilung von Echelon in Bad Aibling befasst, oder kümmert sich um die Elektronik der Tornados. Es wäre ein weiter Weg von jenem düsteren Nachmittag in einem saarländischen Kinderzimmer zu den derniers cris der Militärinformatik. Oder greife ich in seinem Namen zu hoch? Hat er nur ein perfektes Abrechnungsprogramm für alle Bundeswehrcasinos von Flensburg bis Passau geschrieben? Verwaltet er die Software für die Einkleidung in den Kasernen von Köln bis Frankfurt/Oder? Vielleicht. Vielleicht ist es noch ganz etwas anderes, noch unspektakulärer. Aber ich fürchte, er ist immer noch auf der Flucht vor jenem Sitzbänkchen voll grauer Schokolade.