Das größte Buch der Welt (Creatix Modem SG 2834)

Mit dem privaten Internetanschluss war ich ja ein wenig zaghaft. Tagsüber saß ich in der Firma vier Stunden vor einem Bildschirm, daheim schraubte ich Texte und Grafiken an einem Bildschirm zusammen, ein neues, computerbezogenes Hobby konnte ich eigentlich nicht brauchen. Ich begriff auch nicht eigentlich, was das alles sollte. Sicher, die verdrucksten Viertelstunden an dem Schwarzweißbildschirm in der Firma hatten mich neugierig gemacht, aber ich hatte auch Angst vor den Kosten, und wie gesagt, vor noch mehr Zeit am Bildschirm. Dann erfuhr ich, dass ich als Student, der ich immer noch war, geradezu ein Anrecht auf einen Internetzugang hatte. Im Rechenzentrum der Universität sowieso und kostenlos, von zuhause aus würde mich der Spaß aber auch nur 40 Mark im Semester und die Telefongebühren kosten. Aber ich hatte noch kein Modem. Also ging ich hin, drehte meinen Geldbeutel um, und kaufte mir eins: Creatix SG 2834 hieß das Schmuckstück, Übertragungsgeschwindigkeit 28,8 K, Preis: schlappe 300 Mark. Das war Mitte 1995, als das Internet immer noch nicht sehr deutlich auf dem Schirm der Öffentlichkeit aufgetaucht war. Es gab soviel zu tun, bevor man online gehen konnte. Die Software musste man sich gewissermaßen noch selbst zusammenkratzen, vom Browser über das E-mail-Programm bis zur Winsocket! Erinnert man sich noch an “Trumpet”, das unumgängliche Winsocket-Programm, mit dem man sich unter Windows 3.1 und 3.11 per Commandline in das Internet einwählte? Herrlich. Plötzlich war ich auf meinem tollen Windows-Rechner in die Zeiten von DOS zurückgeworfen. Irgendwann kannte ich die Einwahlnummer des Universitätsservers im Schlaf auswendig. Das Modem war sehr gut, die Integration der Software auf meinem Rechner leidlich (Trumpet Winsocket, erst Mosaic, dann Netscape 1.2, und Eudora light 1.3), aber der Kontakt zur Universität war ein wenig schwach, wie auch im wirklichen Leben. Bei vielen Einwahlversuchen bekam ich die Antwort: “no carrier”, und das hektische Herumgefummele an den Einstellungen der Winsocket brachte überhaupt nichts. Aber was war das für ein seltsamer Fang, den ich von meinen Fischzügen heimbrachte, wenn man mich fahren ließ! Da gab es eine Website (jetzt leider gestorben), auf der man seine Gebete an Jesus per Mikrowelle ins All schießen lassen konnte, für $ 9,95, alles inklusive. Wüste anarchistische Schriften, die Kataloge von Universitätsbibliotheken, Newsgroups voller Unsinn, eine einzige wunderbare, funkelnde, summende Datenmüllhalde, und ich mitten darin. Ich konnte Berühmtheiten anmailen, und manchmal antworteten sie mir sogar.[11] Ich konnte in irgendwelchen Online-Foren Leute anonym beleidigen, die mir auf den Keks gingen. Ich brauchte für mein neues Bilderbuchprojekt Aufnahmen des Mars, und die NASA hatte einen ganzen Sack voll davon auf ihre Websites getan. Literatur, Software, Diskussionsthemen ohne Ende. Es war ein Gefühl, als sei ich wieder ein kleiner Junge, und man hätte mir einen Laden voller Süßkram gezeigt: “Gehört alles dir.” Ich war drin! - Ein wenig hinderlich war die Tatsache, dass ich in der ersten Zeit vor meinen Freunden nicht gut damit angeben konnte, denn sie waren noch nicht drin. Gut, da war Volker, aber der war schon viel weiter drin als ich, der erstellte ja für Firma schon Websites. In den Computerzeitschriften hieß es bereits, das Internet mache bald aufgrund der ekligen Kommerzialisierung keinen Spaß mehr (“Ja, Ende der Achtziger war das noch lustig!”), und meine Freunde wussten noch immer nicht, was das eigentlich war, dieses Internet. Ich wusste es natürlich auch nicht, aber ich benutzte es; der erste Mensch in der Straße mit einem Fernseher. Ich konnte einfach eine altkluge Fachsimpelei fallenlassen, wie zum Beispiel: “Mein Provider spinnt gerade mal wieder, basteln wohl an den Servern rum, die Säcke”, und bekam von den Nullcheckern, den Rodents, den Nixblickern ein “Aha” zurück, das ihr Unwohlsein über ihre Ahnungslosigkeit voll erkennen ließ. Wenn sie sich auf eine Debatte über das Thema einließen, dann nahmen ihre Argumente unweigerlich bestimmte, vorgeprägte Formen an: “Also ich könnte ein Buch nicht am Bildschirm lesen, ich brauche etwas, das ich anfassen und ins Bett mitnehmen kann. Oder in die Badewanne.” “Ist mir doch alles viel zu teuer, dieser Kram. Wieder nur so eine modische Abzocke.” Die Informierteren kamen immer auf ein Thema zu sprechen: “Hast du keine Angst, dass du dir einen Computervirus einfängst?” Ich antwortete mit immer denselben Phrasen auf immer dieselben Phrasen: “Ich schon. Ich kann Bücher am Bildschirm lesen.” “Kost mich vielleicht 500 Mark im Jahr. Unersetzlich für mich, wenn ich Texte recherchiere.” “F-prot, eins der besten Anti-Virenprogramme überhaupt, kriegst du kostenlos im Internet.” Sie mussten sich dann meistens geschlagen geben. Diese Phase der Überlegenheit dauerte allerdings nicht lange. Denn bald gab es überall VHS-Kurse für das Internet, aus Fernsehen, Radio und Zeitung schrie es dich an: “Internet! Internet!”, und alle Welt redete davon, und zwar gleichzeitig. Überall wilde Sprüche wie: “Ein Computer mit Internet-Anschluss ist im Vergleich zu einem ohne dasselbe wie ein Computer im Vergleich zu Papier und Bleistift.” Mein Vater ging online, meine Freundin ging online, eine ehemalige Freundin, von der ich das im Traum nicht geglaubt hätte, ging online. Alle gingen online, und keiner wusste warum. Wenn das eine bloße Mode war, dann war es die massivste Mode der Weltgeschichte. Natürlich war es keine Mode, sondern eine neue Stufe, die der Weltgeist auf seiner unendlichen Kraxelei zu sich selbst erklommen hatte. Der Weltgeist hieß Reinhold Messner und hatte wieder einmal den Mount Everest bestiegen, ohne Sauerstoff, nur mithilfe einiger Hacker vom MIT, so ging jedenfalls die Sage. Nun gut, es war eine ganze Menge Sauerstoff vom amerikanischen Militär gekommen, wegen Ausfallsicherheit während eines Atomkriegs und so, aber richtig hingebogen hatten es auf jeden Fall die Hacker.[12] Ich wollte ein Buch oder zumindest einen Essay über das Internet schreiben, der den Titel “Das größte Buch der Welt” tragen sollte, ich ließ es dann aber bleiben, dieses größte aller Bücher war einfach zu dick. Ich wollte eine Homepage haben und machte mir eine, die furchtbar aussah, aber wohl zu den ersten Autoren-Homepages in der BRD gehörte. Das große Buch gab mir Antworten auf Fragen, die ich sonst an Volker herangetragen hätte, und obwohl er mir dann kräftig unter die Arme griff, um meine Homepage in einen passablen Zustand zu bringen, hatte ich jetzt öfter das Gefühl: Selber groß. Ich musste ihn nicht mehr wegen jedem Computer-Wehwehchen anrufen, sondern holte mir die Treiber und Patches jetzt aus dem Netz. Zwar fluchte ich, wenn mein Provider mal wieder herumspinnen musste, aber die Abhängigkeit von seinen Servern machte mich gegenüber meinem früheren Computergönner unabhängig. Ich war mit dem Weltgeist in Verbindung. Jedenfalls ein bisschen. Es war alles so herrlich. Und wenn ich auch heute nur noch selten in die Datenmüllhalde hineinspringe, nur weil ein wenig Schrott schön funkelt, ist es manchmal immer noch herrlich.

Zu dem Creatix Modem SG 2834 sei noch gesagt, dass es ein hervorragendes Modem war. Ich tauschte es, nachdem es einige Jahre in meinem Schrank für abgelegte elektronische Geräte gelegen hatte, gegen das Buch “Nicht kalt genug” von Bernhard Setzwein, eines der besten Bücher über Nietzsche, die ich kenne.