Microserfs
Mein Eintritt in die Computerindustrie war formidabel. Da gab es diese Firma in Tübingen. Sie bastelte aus Teilkomponenten Computer zusammen, beklebte sie mit ihrem Label und verschickte sie meistenteils an Firmen, die ihr aufs Haar glichen. Sie saugte die Arbeitskraft von Tübinger Langzeitstudenten auf wie ein trockener Schwamm das Wasser des Lebens, und Volker arbeitete dort schon als “art director”. Er hörte von einer freien Stelle im “adress management” und meinte, das sei womöglich eine geeignete Kur für meine Geldschwindsucht. Die Firma, eine typische Garagengründung der frühen Achtziger, residierte mittlerweile in einem verhinderten Ziggurat von rotweißer Farbe, beschäftigte 120 Mitarbeiter in Tübingen und mehrere Dutzend sonst wo. Sie wurde geleitet vom Firmengründer Dietmar Duchené, den Volker immer zutreffend “Schwabbel” nannte, und seiner intriganten rechten Hand, die mit dem “Fürst” von Macchiavelli unter dem Kopfkissen schlief. Bei dieser Firma war alles ein wenig seltsam. Ich hatte mich bisher mit Jobs in der Industrie zurückgehalten, außer einem zweimonatigen Gastspiel bei einem Tübinger Maschinenbauer und einem dreiwöchigen Intermezzo bei einer Waldenbucher Schokoladenfabrik war da nichts gewesen. Diese Firma, der Inbegriff des mittelständischen schwäbischen Technologieunternehmens, war anders. Es war dort alles noch kränker als in den durch und durch dem Industriezeitalter verhafteten Fabriken, die ich vorher kennen gelernt hatte. Statt der burschikosen Wurstigkeit am Produktionsband herrschten hier amerikanische Management-Methoden. Man duzte sich, dabei war das Klima in der Firma so vergiftet, dass man sich gegenseitig nicht den Rücken zuwenden konnte, wenn nicht ein Messer darin stecken sollte. Intrigen waren hier viel heftiger und explosiver als an jedem anderen Arbeitsplatz, den ich vorher kennen gelernt hatte, die nichtindustriellen eingeschlossen. Ich staunte über Leute, die als Hilfskraft eingestiegen wurden, innerhalb von zwei Jahren zum Abteilungsleiter aufgestiegen waren und dann plötzlich von einem Tag auf den anderen rausgeschmissen wurden, Hausverbot inklusive. Man erzählte sich Geschichten von ehemaligen Mitarbeitern im “adress management”, die mit der Adressdatenbank ihre eigene Firma stiften gegangen waren. Es kamen hochrangige Mitarbeiter in unsere Glasbude, die von unseren Telefonen aus bei Kunden anriefen, und sich mit falschem Namen als Universitätsangestellte ausgaben, um im Namen soziologischer Studien die wahre Computerbedürftigkeit ihrer Gesprächspartner auszuspionieren. Es war streng verboten, auch nur eine Büroklammer mit nachhause zu nehmen, aber die Geschirrschränke in der Teeküche leerten sich immer wie von Zauberhand. Der Firmengründer schrieb E-Mails, in denen er seine Mitarbeiter persönlich zu besserer Arbeitsleistung aufforderte, dies verbunden mit der Drohung, demnächst werde von amerikanischen auf japanische Managementmethoden umgestellt. Bei der Einweihung eines neuen Betriebsgebäudes hielt er eine Rede, in der er die anwesenden Lieferanten der Firma mit der Aussicht bedrohte, fortan jeden Fehler und jede Fehlerquelle bei den gelieferten Waren ausfindig machen und zurückverfolgen zu können. Er sagte es nicht wörtlich, aber die Botschaft war klar: Wir ziehen jetzt andere Saiten auf, und ihr werdet mitmachen oder untergehen. Das eisige Schweigen nach Abschluss dieser Rede schien der Herr zu genießen. Als ich in seiner Firma anfing, gab es lustigerweise noch keinen Betriebsrat, und er musste in konspirativer Weise gegründet werden, damit die aussichtsreichsten Kandidaten für die ersten Betriebsratswahlen nicht sofort ihre Kündigung erhielten. Es war schon eine rechte Freude.
Mein eigener Job war bodenlos. Ich gab vier Stunden am Tag Adressen in die Datenbank ein, verschickte die Kataloge der Firma, nahm fehlgeleitete und von der Post zurückgeschickte Kataloge entgegen, um die Adressetiketten zu korrigieren, führte Gespräche mit Kunden über ihre Katalogwünsche, fraß, schiss, kotzte Adressen und Kataloge. Später kam noch die ehrenvolle Aufgabe dazu, das Computerdeutsch der Kataloge germanistisch zu durchleuchten und womöglich lesbar zu machen, aber weil ich zuviel herummoserte, nahm man bald einen anderen. Am Anfang hatte ich noch zwei Burschenschaftler in der Abteilung sitzen, von denen der eine sich als Chef ausgab. Das Herrenmenschlein wollte sogar bestimmen, an welchem Platz wer zu sitzen hatte, und getreu der alten Burschenehre sollte sein Kumpan immer am besten abschneiden; unser Konflikt wurde hässlich. Man intrigierte fleißig untereinander in der Abteilung, Rosi, eine pseudofeministische Mittdreißigerin mit Tendenzen zur Astrologie glänzte darin besonders, aber wir waren in dieser Stickoxydluft alle ganz gut dabei. Die Terminals waren alt und verbraucht, das UNIX-System, das auf den Servern lief, musste man sich selbst aneignen, die Arbeitsverträge befahlen den Angestellten über ihren eigenen Inhalt Stillschweigen zu bewahren. Muss ich erwähnen, dass die Bezahlung recht bescheiden war?
Warum arbeitete ich dort zweieinhalb Jahre? Nun, es gab in meiner Gegend nicht allzu viele Halbtagsarbeitsplätze für Langzeitstudenten, die eigentlich Künstler waren. Darum. Und wie hielt ich es aus? Nun, da waren die intriganten Gespräche mit den intrigierenden Arbeitskollegen, manchmal benahmen wir uns auch einfach wie normale Menschen, oder diskutierten sogar über Themen, die eine Diskussion wert waren. Ich unterhielt mich mit Volker, der zwar einen besseren Job hatte, aber an der ganzen Veranstaltung genauso litt. Wir kotzten uns in der Kantine aus, oder wir schickten uns zum Zeitvertreib gegenseitig schwachsinnige E-Mails, wie zum Beispiel diese hier:
From mhammers Wed Mar 30 11:35:22 1994
Subject: Re: boeoeoeps
Volker Becker said:
heute gefällts mir hier recht gut,
coole jobs und keinen stress
aber ich bin auch alleine,
dann kann ich besser organisieren.
hier isses prima sitzen, ohne
telefon und so. und du kannst
natuerlich auch meine frisur
bewundern.
(Volkers Haare sahen an diesem Tag aus, als habe sie jemand mit einem Dampfbügeleisen gebügelt, aber in zwanzig verschiedene Richtungen)
ach, wenn es doch nur mehr solch
schoene arbeitstage gaebe.
Meine Antwort:
Aber in der Selbstreflexion des sich selbst dialektisch entwindenden Arbeitsprozesses, in dessen Verlauf der antithetische Umschlag von Produktions- in die Reproduktionsphase dem Bewusstsein der Scheinfoermigkeit des Gesamtprozesses inhaerent ist, schlaegt auch das diesem Bewusstsein apodiktisch entgegengesetzte Warengesetz in sein dialektisches Gegenteil um.
Oder diese hier:
From mhammers Wed Feb 23 11:08:37 1994
Subject: ode
Sozialdemokratische Ode an einen art director
Unser Freund der Becker Volker
sitzt an seinem Terminal
ist ein Datenrueckverfolger
rund um diesen Erdenball.
Kann nicht schlafen, kann nicht essen
muss das Corel Draw bedienen
muss sich mit den Goettern messen
die auf hoechste Werte zielen.
Ist das hoechste Ziel die Kohle,
die er aus dem Job gewinnt?
Nein er schafft zum Firmenwohle
und damit die Wirtschaft stimmt![10]
Manchmal rächte ich mich am Schweinesystem, indem ich ganz besonders üblen Kandidaten keine Kataloge schickte, sondern ihre Anrufe oder Postkarten schlicht und ergreifend unter den Tisch fallen ließ. Da waren zum Beispiel Naziverleger, Geheimdienstler, Soldaten und ähnliche Berufsgruppen, die meinetwegen ohne die hochwertigen Glanz-Vierfarbdruck Kataloge der Firma auskommen mussten, und daher in ihrem Tun und Wirken entscheidend geschwächt, behindert, wenn nicht gar völlig verhindert waren. Allerdings begrenzte ich meine Sabotageakte auf drei pro Tag, denn mein Widerstand sollte ja nicht auffallen. Die Rache des Kanalarbeiters! Wenn mich die Langeweile allzu fest in den Hintern biss, surfte ich im Internet. Das war eine der ganz wenigen spaßigen Sachen, die es in dieser Firma gab: Internetanschluss für alle Mitarbeiter. Zwar wurde jede angesurfte Website vermerkt, aber wer es nicht zu doll trieb, konnte unter dem Radar der Personalabteilung hindurchschlüpfen. Es ging die Sage, an den Arbeitsplätzen mit Farbbildschirmen sei der “Playboy” ganz groß, allerdings ging auch die Sage, in diesem Zusammenhang seien schon Kündigungen ausgesprochen worden. Ich las nicht den Playboy, sondern die TAZ, die zwar blöd war, aber immerhin ihre volle Ausgabe jeden Tag ins Internet stellte. Manchmal recherchierte ich auch ein wenig in den Arbeitspausen für meine Texte, und das wurde richtig interessant, als ich mir daheim einen Internetanschluss gönnte, und die Mails mit den netten Internetadressen von meinem Arbeitsplatz an meine Privatadresse schicken konnte. Joachim, der inzwischen der tatsächliche Chef der Adressabteilung geworden war, drückte alle Augen zu, solange die Adressen in die Datenbank aufgenommen wurden. Er hätte zwar gerne Karriere gemacht, aber er war zu weich und außerdem kein Hundesohn, und deswegen eigentlich völlig ungeeignet für eine leitende Position in der Firma. Ich surfte und arbeitete, und er ließ mir weitgehend meine Ruhe.
Es gäbe noch soviel zu erzählen. Da waren die kleinlichen Streitereien um Platz und Licht in den Großraumbüros, die Streiche des neandertalerhaften Hausmeisters, die Wartelisten, auf denen sich diejenigen eintragen wollten, die mit dem Porsche einer der Großkopfeten um den Block fahren wollten. Wie ein Kunde einmal ankam, und einen Tobsuchtsanfall hinlegte, weil sein Computer noch immer nicht ausgeliefert war. Wie ich mich in die schönen Frauen dort verguckte, (besonders eine Praktikantin aus Amerika) damit es mir nicht gar zu langweilig wurde. Wie ich von einer soziopathischen Mitarbeiterin und ihren genauso soziopathischen Freunden gemobbt wurde, und Tagträume davon hatte, die Firma mit fünf Litern Benzin dem Erdboden gleichzumachen. Und andere Döntjes mehr. Nach zweieinhalb Jahren fragte ich nach der Lohnerhöhung, die mir bei der Einstellung versprochen worden war. Der Personalchef, eine widerlich-ölige Kreatur wie aus einem Raymond Chandler-Roman, fragte mich grinsend: “Hast du das schriftlich?”, und ich kündigte. Als ich kündigte, bot er mir an, über die ganze Sache noch einmal zu reden, und als ich ihn fragte, ob das ein Gespräch über die Lohnerhöhung einschloss, sagte er mit einem bedauernden Blick: “Nein, leider.”
Was hatte ich nach zweieinhalb Jahren erfahren? Ich hatte erfahren, dass mir eine Existenz als Datensklave nicht taugte, nicht einmal halbtags. Ich hatte gesehen, wie es in einer Firma des schwäbischen Mittelstands zugeht. Ich hatte mir UNIX angesehen, und fand es wenig attraktiv. Ich konnte mit E-Mail und einem Internetbrowser umgehen, und fand es sehr attraktiv. Ich hatte meine eigene Eifersucht kennen gelernt, denn es war mir sehr schwer gefallen, mit Volker in derselben Firma zu arbeiten, während er dreimal mehr verdiente als ich.