Der Weg nach Santa Fé
Es wurde Zeit für meinen zweiten fulminanten Auftritt in der Computerindustrie. Nachdem ich beige–roten Ziggurat den Rücken gekehrt hatte, heuerte ich zu denselben studentischen Bedingungen bei dem größten deutschen Standort eines weltweit operierenden amerikanischen Computer-Unternehmens an. Der lag damals in Böblingen-Hulb, ein Ort, der durch seinen Namen sehr treffend beschrieben. Wenn man sich eine Kreuzung aus dem Silicon Valley, dem Death Valley, und Thyssen vorstellt, das Ganze mit einer Bahnlinie mitten durch und an 300 Tagen im Jahr ohne Sonnenschein, dann kommt man ungefähr hin. Am Standort arbeiteten 8000 Menschen, und obwohl es dort ein wenig sauberer war als bei der Autofabrik in Sindelfingen, wo ich einige Jahre zuvor einmal vier ganze Tage verbracht hatte, war das Feeling in etwa das gleiche. Ich würde dieses Feeling in der Sprache der Psychologie als postindustrielles Depressionssyndrom bezeichnen. Schon die Anfahrt war schwierig. Ich hatte noch Glück. Ich lernte recht schnell einen Iren namens Dave kennen, der mich öfter in seinem Alfa Romeo mitnahm. Dieses Glück war nicht ganz ungeteilt, denn Dave war süchtig nach Musik, und obwohl wir beide in etwa den gleichen Musikgeschmack und auch den gleichen Humor hatten, war es mir manchmal ein wenig schwierig, morgens um Viertel vor Sieben im Takt der dröhnenden Boxen mitzuwippen, wenn ich mir doch eigentlich gern die Ohren zugehalten hätte. Dave war ein verständiger Mensch, aber ich hätte in seinem Auto nicht die Lautstärke der Musik bestimmen können, no way. Deswegen hielt ich die Klappe, und wippte manchmal etwas mühsam im Takt mit. Ich trat dann zwar relativ wach und mit durchgepusteten Ohren vor den Magnetkartenscanner an einem der vielen Eingänge, aber ich wollte meistens gar nicht so wach sein, ein wenig Müdigkeitsnebel ums Hirn hätte den ersten morgendlichen Schock doch vielleicht etwas dämpfen können. Ich zog meine Magnetkarte durch den Schlitz des Lesegeräts, schob mich mit fünf anderen durch die Tür, nickte dem Wachschutz kurz zu, der gerade Schichtwechsel gehabt hatte, und stapfte die Treppen hinauf in den zweiten Stock. Tür auf. Dort standen sie, in ihrem eigenen Glaskäfig, mit grünlichen Zahlenkolonnen auf den Bildschirmen, Reihen um Reihen von ihnen, die Herrscher der Welt. Ich vermute, es waren etwa einhundert Rechner, die dort in einer Serverfarm, oder wie immer das hieß, zusammengefasst waren. Die Bildschirme standen etwa in Kopfhöhe auf Schränken, die wohl die Rechner, Hubs und all den andern Kram enthielten, die ganze stumme Versammlung gab trotz des Glaskäfigs ständig das Summen eines kleinen Umspannwerks von sich. Wenn ich mich recht erinnere, war das nicht einmal die Computingpower für den ganzen Standort, sondern nur für einen Teil davon. Es ging das Gerücht, ein Hausmeister habe einmal durch eine zurückschlagende Glastür den Sicherheitsschalter für die ganze Struktur getroffen, und alle Rechner mit einem Schlag abgeschaltet, das sei einer der großen Tage in der Geschichte des Standorts. Ein Mythos, ohne Zweifel, aber er reflektierte den Wunsch der Beschäftigten, mit einem einzigen Schalterdruck die ganze Scheiße auf einmal lahm legen zu können.
Am Anfang schüttelte ich den Kopf, wenn ich an den Herren der Welt vorbeiging, nachher gewöhnte ich mich an ihr Summen. Ich durchquerte das Großraumbüro, das den Glaskasten umgab, und schlich an den meistens noch leeren Hasenkäfigen vorbei, in denen all die Bildschirme auf die fleißigen Controller, Sales- und Produktmanager und die anderen Knöpfchendrücker und Telefonierer warteten. Mein Platz war nicht dort. Mein Platz war in einem “Außenlager” (das hieß wirklich so), welches zwar an das Großraumbüro organisatorisch, aber nicht räumlich angegliedert war, und in dem ganz andere Bedingungen herrschten, in jeder Hinsicht. Es war mit einem zweiten Magnetkartenleser gesichert, und wenn der nicht funktionierte, musste ich den Wachschutz rufen, damit er mich hineinließ. Und dann stand ich da, während die Neonröhren an der Decke aufflackerten, und dachte: “Willkommen im Gulag, Abteilung Schrottverwertung.” Eigentlich konnte man das so nicht sagen. Ganz im Gegenteil lagerte hier, von einer dunklen kleinen Ecke hinter den letzten Regalen abgesehen, kein Schrott, sondern nur modernste Elektronik, immer die neuesten Produkte der Firma. Das Lager hatte den Zweck, firmenintern für die Verteilung neuer Maschinen zu sorgen. Weil die Abteilungen der Firma sich untereinander verhielten wie eigenständige Unternehmen, was wohl den Konkurrenzgeist stärken sollte, war dieses Lager, in dem ich arbeitete, eigentlich das Materiallager eines innerbertieblichen Computerhandels. Nur sah es eben aus wie die Schrottverwertung eines Gulags. Die Beleuchtung bestand aus einer Reihe von Neonröhren, die immer leuchten mussten, weil das Außenlager keine Fenster hatte. Manchmal funktionierte eine der Neonröhren nicht, aber auch bei voller Leistung drang das Licht nicht bis in alle Ecken vor. In der zweiten Regalreihe ganz hinten konnte es so duster sein, dass die Beschriftungen der gelagerten Kartons nur schwer zu entziffern waren. Die Wände des Außenlagers waren unverputzt, was dem ganzen Arrangement innenarchitektonisch gesehen einen erfrischend provisorischen Charakter verlieh. An manchen Stellen war der rohe Kunststein allerdings mit Platten bedeckt, deren grau-rauhe Oberfläche den Begriff “Asbest” geradezu ausdünstete. Das Außenlager hatte auch keine Heizung. Das war recht ungeschickt, denn zwischen dem Dach des Gebäudes und der Mauerkrone waren etwa 20 bis 25 Zentimeter Platz, so dass sich im Sommer manchmal sogar Vögel zu uns verirrten. Eine meterdicke Abluftleitung, die zum Heizungssystem des angrenzenden Großraumbüros gehörte, und das ganze Außenlager der Länge nach durchquerte, sorgte dafür, dass wir im Winter nicht erfroren. Leider machten die Pumpen, die diese Leitung speisten, einen gehörigen Lärm, und zwar je mehr, je mehr warme Abluft hindurchgepumpt wurde. Man hatte also im Extremfall die Wahl zwischen echter Kälte mit erträglichem Lärm oder unangenehmer Kühle mit lärmverursachtem Kopfweh. Ich fror manchmal wie ein Schneider.
Ob ich fror oder nicht, ich war der Lagerverwalter, einer von dreien. Das bedeutete, dass ich die Daten der hereinkommenden und hinausgehenden Waren in eine alte HP–Workstation eingab, vor allem den Regalplatz, an dem ich sie abgelegt hatte, damit sie später an diejenigen ausgehändigt werden konnten, für die sie bestimmt waren. Selbstverständlich mussten dabei auch eine ganze Menge 21-Zoll-Bildschirme (Gewicht ohne Verpackung: 37 Kilo) durch die Gegend gewuchtet werden, und für Arbeitsschuhe oder Schutzhelme war leider kein Geld da gewesen. Ein recht unlogisches Regal- und Klassifizierungssystem und die Tatsache, dass sich drei Studenten eine Lagerverwalterwoche teilten, sorgte dafür, dass ich etwa zwei- bis dreimal pro Arbeitstag den gesamten Warenbestand nach einem Parallelkabel oder einem ganzen verlorenen PC durchsuchen musste. Es bedarf wohl keiner Erwähnung, dass sowohl ich, als auch meine Kollegen ständig unter Diebstahlsverdacht standen, obwohl zwei Videokameras, die mit der Wachschutzzentrale verbunden waren, den Arbeitsplatz ständig im Blickfeld hatten.Meine zweite Hauptaufgabe bestand darin, in relativ nackte Grundsysteme gewisse Komponenten hineinzuschrauben, die die Extrawünsche der innerbetrieblichen Kundschaft befriedigen sollten, so zum Beispiel mehr Arbeitsspeicher, ein zusätzliches CD-Rom-Laufwerk, eine zweite Festplatte. Außerdem musste ich die Rechner auf ihre Funktionstüchtigkeit prüfen, was hauptsächlich durch die Installation des Betriebssystems geschah. Ansonsten surfte ich im Internet, denn auch die Workstation hatte einen Anschluss.
Eine der Hauptschwierigkeiten bei diesem Job bestand darin, dass es oft stundenlang überhaupt nichts zu tun gab, während zu Stoßzeiten drei bis vier Leute gleichzeitig an der Lagertür erschienen, und jetzt endlich ihren Rechner haben wollten. Recht häufig stürzte T., der Abteilungsleiter, mit verzerrtem Gesicht und leicht manischem Blick herein, lief durch die Regale, und fragte im Vorbeigehen: “Wo ist das CD-Rom für S.?” “Wo ist das Notebook für P.?” Dann begann eine der hektischen Suchaktionen, die erst dann endeten, wenn T. das betreffende Teil in der Hand hielt, und entweder damit zur Tür hinaus verschwand, oder es mir auf den Tisch legte und sagte: “Sofort einbauen.” Manchmal riefen mich auch Leute aus weit entfernten Teilen des Standorts an, und machten mir unmissverständlich klar, dass der Rechner jetzt innerhalb der nächsten halben Stunde auf ihrem Schreibtisch zu landen habe, sonst gebe es was. Vor Weihnachten 1996 kamen ein paar verblödete Abteilungsleiter an, und wollten die ihnen zustehenden Firmenlaptops mit nachhause nehmen, quasi als ein Zusatz-Weihnachtsgeschenk, und wir ächzten, weil wir genau wussten, dass die Blödmänner daheim nichts anderes damit anfangen würden, als die Software-Konfiguration zu versauen, was wir dann wieder bereinigen mussten. Und so kam es natürlich auch. Sie versauten die Softwarekonfiguration, und wir durften es wieder in Ordnung bringen.
Die Firma wurde nach einem firmeninternen Geschäftskodex geführt. Dieser Geschäftskodex war als ein Buch niedergelegt, das leitende Angestellte der Firma zu lesen und zu beachten hatten. Leider habe ich mir dieses Buch nie besorgt, aber ich stelle es mir als eine Bibel der hysterischen Superkonkurrenz vor, als eine Art Religionsersatz für den sinndürstenden Angestellten, der eine klare Philosophie für die zweihundertprozentige Planerfüllung braucht. Möglicherweise war auch T. von der Bibel beflügelt, als er einmal uns drei Lagerverwalter zu sich berief. An diesem Tag waren wir alle drei zugegen, weil wir einen neuen Dienstplan für das nächste halbe Jahr ausbaldowern mussten. T. hielt uns einer Rede. Wir lauschten unserem Vorgesetzten schweigend, bis zum Abschluss seiner Rede, die darin gipfelte, D. als guten, und P. und mich als schlechte Arbeiter zu bezeichnen. Wortwörtlich. Danach wurden wir zurück ins Lager geschickt. Ich will das peinlich betretene Schweigen, in dem wir drei uns mit unseren jeweiligen Qualifizierungen auseinandersetzten, nicht so schnell vergessen, und war da nicht auch ein wenig Stolz und Schadenfreude bei D., ihm, dem einzigen Neger auf der Plantage, der vom Massa gelobt worden war? - Unvergesslich auch eine andere Rede, nämlich die des großen Bruders schlechthin, des Aufsichtsratsvorsitzenden oder CEO, die aus den USA per Satellit zu allen Standorten der Firma weltweit übertragen wurde, und mich in Gestalt einer blechernen Lautsprechertüte auch im Außenlager erreichte. Die Rede des CEO wurde nicht aus dem Englischen übersetzt, aber selbst Angestellte, die wenig oder kein Englisch sprachen, müssen verstanden haben, dass sie getadelt wurden. Die Betriebsziele für dieses Jahr seien deutlich nicht erreicht worden, und alle müssten sich zusammenreißen, um das Blatt zu wenden. Er habe Vertrauen in unsere Fähigkeiten die Produktivität zu steigern, sagte der Lautsprecher, und seitens der Firma seien schon einschneidende Maßnahmen geplant, die dem Umsatz mehr Schwung verleihen würden. Wir müssten uns nur ein wenig mehr anstrengen, fester zusammenstehen als bisher, und die Firma könne bald wieder ganz obenauf sein. Ich versuchte, weiterhin im Internet zu surfen (für die Dauer der Rede wurde praktisch in der ganzen restlichen Firma nicht gearbeitet), aber der CEO schien von Natur aus eine unangenehme Stimme zu haben, die durch die Lautsprecherblechtüte nicht verbessert wurde. Die Rede ging mir ins Hirn wie eine Kreissäge, und hinterließ, wie diejenige T., eine Verletzung.
Es gäbe noch soviel zu erzählen. Über meine Tagträume, in denen ich den ganzen Standort nach einem Napalm-Angirff in Flammen aufgehen sah. Über die Kantine, gegen die die größte Universitätsmensa ein gemütliches Gasthaus war, von den Preisen und der Qualität der Mahlzeiten ganz zu schweigen. Von dem glänzenden Betriebsklima, möglicherweise auch ein Ergebnis des Geschäftskodexes, der die Mitarbeiter dazu verleitete, sich gegenseitig nach ihren Betriebsausweisen zu fragen, wenn die nicht auf den ersten Blick sichtbar am Hemd hingen. Vom so genannten “Mitarbeiterverkauf”, bei dem man die Produkte der Firma mit dreißigprozentigem Rabatt beziehen konnte, aber leider ohne Garantie (ich nahm dann davon Abstand, wohl wissend, wie oft die Geräte beschädigt von der Produktionsstraße kamen). Da waren die ungeduldigen Seitenblicke des Abteilungsleiters, wenn er uns zu oft an der Kaffeebar im Großraumbüro antraf (Kaffee und Tee gab es kostenlos). Da war dieses unvergessliche Gefühl der steifer und steifer werdenden Finger auf dem kühlen Plastik der Tastatur an einem wirklich kalten Tag. Da war der Unfallort, an dem Dave und ich an einem kalten und gefährlichen Morgen vorbeikamen: Der Eisregen hatte die Straßen spiegelglatt gemacht, ein Auto lag wie ein umgedrehter Käfer auf dem Rücken, und die Feuerwehrleute mit leuchtenden Reflektorstreifen an den Helmen sprangen wie menschliche Ameisen um es herum. Da war der festangestellte Mitarbeiter, der alle Leute um sich herum als “Hühnerficker” bezeichnete, aber den ich eigentlich ganz gut hätte haben können, wenn ihn sein offensichtlicher Sexualfrust nicht so bitter gemacht hätte. Und all das verdichtete sich im Laufe der Zeit zu einer schweren, kalten, dunkelgrauen Wolke über mir, den größten Ausdehnungen nach 3 Tage pro Woche breit, und 8 Monate lang. Warum habe ich es in diesem Dreckloch 8 Monate lang ausgehalten, und nicht wenigstens die krassesten Missstände abzustellen versucht, wenn ich doch schon Gewerkschaftsmitglied war? Statt wirklich auf den Putz zu hauen, kämpfte ich mit einer gewissen Obstinanz um eine bessere Heizung, und surfte, wann immer ich konnte, im Internet, die Recherche für meine eigenen Texte inbegriffen. Nach viermaliger Forderung bekamen wir dann unseren Ölradiator, der unter den Arbeitstisch gestellt wurde, und die Beine ordentlich aufheizte, aber alles oberhalb der Tischplatte so kalt ließ wie zuvor. Wegen meiner Internetsurferei und meinem generellen Unwillen, ein guter Neger zu sein, wurde aus dem Versprechen des Abteilungsleiters nichts, mir einen anderen Arbeitsplatz in der Firma zu besorgen. Dann gewann ich einen Prozess gegen meinen ehemaligen Vermieter, der mich wegen “Eigenbedarfs” gekündigt hatte (in Wahrheit war ihm die anstehende Renovierung des Teppichbodens zu teuer gewesen), und hatte plötzlich ein paar tausend Mark an der Hand. Ich beschloss, freier Schriftsteller zu werden.