Achtzehn
Zum ersten Mal seit Wochen hatte sie tief geschlafen, sie wusste nicht, was sie geträumt hatte.
Als sie beim Frühstück saßen, horchte sie in sich hinein. Helmut dachte, sie wäre gestern Abend reiten gewesen, sie ließ ihn in dem Glauben, auch wenn es ihr wie Betrug vorkam, aber sie brauchte Zeit. Im Augenblick wusste sie nicht, wie es mit ihnen weitergehen sollte, ja, sie war sich nicht einmal sicher, ob sie wollte, dass es mit ihnen weiterging. Sie beobachtete ihn, wie er Katharina ein Brot strich, er mimte den Anwesenden, saß aber nach wie vor unter seiner Glasglocke.
Sie richtete sich auf. Zuallererst würde sie mit Peter und Norbert den Fall abschließen, danach sah man weiter.
Es war van Appeldorn, der sie begleitete, als sie noch einmal zum Kaufhof fuhr, um mit Schönfelders Kollegen zu sprechen.
«Keine Ahnung, wohin Bastian gefahren ist.» Das war der Auszubildende, ein schlaksiger Junge mit einem prächtigen Pickel am Kinn, den er mit einem zu hellen Abdeckstift übermalt hatte. «Ich weiß bloß, dass er sonst immer in Renesse gewesen ist, schon als er noch klein war, genau wie ich. Meine Eltern haben da einen Wohnwagen stehen.»
«Hat Bastian Schönfelder zu irgendwem hier im Betrieb näheren Kontakt?», fragte Astrid.
Der Junge bemühte sich. «Der spricht öfters mal mit der Frau Kuhlmann aus der Kosmetik, aber sonst …»
«Die Kosmetik ist im Erdgeschoss, oder?» Astrid schüttelte dem Jungen die Hand. «Danke Ihnen!»
Sie waren fast schon an der Treppe, als van Appeldorn sie am Arm festhielt. «Der ist in Renesse!»
«Das wird er sich doch nicht antun», sagte Astrid ungläubig. «Seine Familie ist dort umgekommen!»
«Schönfelder ist jedes Jahr nach Renesse gefahren. Du hast doch selbst erzählt, was seine Mutter gesagt hat: Er tut so, als wäre gar nichts passiert.»
«O Gott!»
Er fasste sie bei der Hand. «Komm, wir fahren zu seiner Mutter. Die wird wissen, wo Schönfelder in Renesse immer gewohnt hat.»
Cox und Toppe hatten sich die wenigen Habseligkeiten aus Schönfelders Wohnung vorgenommen. Toppe blätterte die Alben durch, während Cox in dem Karton kramte, den sie im Keller gefunden hatten. Plötzlich zog er scharf die Luft ein. «Guck dir das hier mal an!» Er reichte Toppe ein Foto, 18 × 24 cm groß.
Toppe wich alle Farbe aus dem Gesicht. «Alina Escher», sagte er tonlos. Seine Hände zitterten.
«Das entführte Mädchen?», fragte Cox perplex.
Das Kind hielt mit verkrampften Fingern eine Zeitung, eine Niederrhein Post, mit der Schlagzeile Wieder mehr Gewalttaten in Deutschland.
Toppe öffnete die Schreibtischlade und tastete nach seiner Lupe.
Die Zeitung war vom 12. Juni 1997.
«Das ist der Tag, an dem sie entführt wurde!»
«Jetzt versteh ich überhaupt nichts mehr.» Cox rang um Fassung. «Der Schönfelder hat das Mädchen entführt?»
Toppe rieb sich den Nacken, ihm war übel. «Was ist sonst noch in dem Karton?»
«Nicht viel, ein Stapel Fotografien, alles Landschaftsaufnahmen, Bäume, neblige Wiesen, Kühe und so was und ein paar Kataloge für Fernreisen. Das Bild von dem Mädchen steckte zwischen diesen Prospekten.»
Wieder starrte Toppe auf das Foto. Es war in einem Raum mit unverputzten Wänden aufgenommen, bröckeliges Mauerwerk, von schräg oben fiel Licht herein. Alina saß auf dem nackten Boden und schaute mit großen Augen eher verwirrt als ängstlich in die Kamera – Kinderaugen, der Spiegel der Seele.
Ein scharfer Stich durchfuhr ihn. Spiegel! Wieder nahm er die Lupe. In Alinas Pupillen erkannte man eine Silhouette. Die Silhouette des Menschen, der sie fotografiert hatte, ihren Entführer!
Er stand auf. «Ich muss zu van Gemmern.»
Frau Schönfelder zupfte nervös an ihrem Blusenkragen. «Wir wohnen immer im Hotel pelikaan, und die Kinder haben sich da auch immer ein Zimmer genommen. Aber ich verstehe, ehrlich gesagt, nicht, warum Sie meinen Jungen unbedingt sprechen wollen. Hat er was ausgefressen?»
«Das wissen wir noch nicht», antwortete van Appeldorn barsch. «Sie haben nicht zufällig Adresse und Telefonnummer von diesem Hotel da?»
«Doch, sicher …» Sie verharrte unschlüssig, nahm dann aber ein ledergebundenes Register vom Telefontischchen und schlug es auf. «Hier.»
Van Appeldorn notierte.
«Bitte, ich … ich …», stammelte die Mutter. «Sie können mich doch nicht einfach so stehen lassen. Sie müssen mir doch sagen, was los ist.»
Astrid schlug die Augen nieder. «Machen Sie sich keine Sorgen.»
Im Auto tippte van Appeldorn sofort die Nummer in sein Mobiltelefon.
«Guten Tag! Ich möchte Herrn Bastian Schönfelder sprechen.»
«Einen Augenblick, bitte.»
Beethovens «Für Elise» dudelte ihm digital ins Ohr. Genervt verdrehte er die Augen.
«Hallo? Ich höre eben, dass Herr Schönfelder nicht da ist. Tut mir Leid, mein Herr.»
«Was meinen Sie mit ‹nicht da›?»
«Pardon?»
Wieder verdrehte van Appeldorn die Augen. «Fangen wir anders an. Bastian Schönfelder wohnt zurzeit bei Ihnen?»
«Wer sind Sie?», kam es misstrauisch zurück.
«Van Appeldorn von der Mordkommission in Kleve.»
«Pardon?»
«Recherche uit Kleef», rief van Appeldorn.
Der Mann am anderen Ende der Leitung lachte. «Nun, das kann jeder sagen.»
Van Appeldorn knirschte mit den Zähnen. «In Ordnung, dann rufe ich jetzt meine Kollegen in Renesse an. Die stehen in zehn Minuten bei euch auf der Matte.»
Es blieb kurz still. «Herr Schönfelder lebt bei uns im Hotel», sagte der Mann dann schnell. «Aber er ist ausgegangen, vor eine halbe Stunde ungefähr.»
«Geht doch! Und wann kommt er zurück?»
«Tut mir Leid, mein Herr. Wissen Sie, wir sind ein Hotel, kein concentratiekamp.»
Van Gemmern war in seinem Labor und arbeitete mal wieder an fünf Sachen gleichzeitig. Begeistert war er nicht, als Toppe mit dem Foto kam, aber er schaute es sich doch gnädig an. «Natürlich kann man ein Auge so stark vergrößern. Mit der entsprechenden Ausrüstung geht das auch digital. Wenn man das Bild hoch auflösend scannt … mindestens 800 pp …», murmelte er. «… mit genügender Tiefenschärfe …»
Toppe trat von einem Fuß auf den anderen. «Kannst du das machen?»
«Hier bestimmt nicht», meckerte van Gemmern. «Guck dir doch den jämmerlichen Kram an, der hier rumsteht. Alles von anno Tobak.»
Toppe versuchte, mitfühlend auszusehen. «Aber?»
«Aber», meinte van Gemmern und grinste, «weil du’s bist, und weil mir die Idee gefällt. Bei mir zu Hause stehen ein netter kleiner Macintosh mit Photoshop und ein ganz großartiger Scanner. Bis wann brauchst du es?»
«Sofort!»
Van Gemmern seufzte. «Warum habe ich überhaupt gefragt?»
Toppe klopfte ihm auf die Schulter. «Du hast was gut bei mir.»
«Du meinst, ich darf mir was wünschen?»
«Klar!»
«Prima, dann back mir doch bitte endlich einen Assistenten. Und wenn’s nicht zu unbescheiden ist, einen, der was auf der Pfanne hat und keine Widerworte gibt.»
Grübelnd kehrte Toppe ins Büro zurück.
«Halt dich fest», schmetterte Cox ihm entgegen. «Norbert und Astrid haben sich gemeldet. Der Schönfelder ist in einem Hotel in Renesse. Sie sind schon auf dem Weg zu ihm.»
«Gut, gut», antwortete Toppe zerstreut. Er hatte keine Ruhe, sich hinzusetzen, ging zum Fenster und trommelte mit den Fingern gegen die Scheibe.
«Und was wolltest du bei van Gemmern?»
«Er soll versuchen, Alinas Augen auf dem Foto so stark zu vergrößern, dass man erkennen kann, wer sich darin spiegelt.»
«Geniale Idee!» Cox’ Bewunderung war ehrlich gemeint. «Das könnte hinhauen, wenn man einen guten Scanner hat und ein anständiges Programm.»
«Das hat Klaus wohl alles bei sich zu Hause. Er ist gleich losgefahren.»
Cox packte seine Schokoladenstücke aus. «Dann bleibt uns beiden wohl nichts anderes übrig, als zu warten, in zweifacher Hinsicht. Erzählst du mir, was es mit dieser Entführung auf sich hat?»
Toppe gab sich geschlagen, setzte sich endlich und berichtete ausführlich bis hin zu der Hypothese, die Stein, Escher und er gestern aufgestellt hatten.
«Kannst du dir vorstellen, dass so ein Typ wie Schönfelder in Frauenhandel macht?», fragte Cox.
«Nein, eigentlich nicht.»
«Ich glaube auch nicht, dass der rumläuft und Kinder entführt.»
«Wir wissen nicht sehr viel über Schönfelder», gab Toppe vage zu bedenken.
Er schaute auf die Uhr. Van Gemmern war erst vierzig Minuten weg.
«Ich geh Kaffee kochen.»
«Hummeln im Hintern», feixte Cox. «Kann ich dir nicht verdenken. Ich werde inzwischen mal unsere Flipcharts wegräumen. Die brauchen wir ja doch nicht mehr.»
«Bloß nicht, solange wir den Fall nicht abgeschlossen haben. Das bringt Unglück», warnte Toppe im Hinausgehen.
«Bringt Unglück», moserte Cox vor sich hin. «Bringt Unglück, hab so ein Gefühl, Intuition, Gevatter Zufall … Ich fasse es nicht! Der bringt es fertig und klärt eine vier Jahre alte Entführung auf, an der sich eine Riesensoko vergeblich die Zähne ausgebissen hat, tss!»
Van Gemmern kam um 11 Uhr 38, und irritierenderweise strahlte er über das ganze Gesicht, als er Toppe einen piekfeinen Abzug auf den Schreibtisch legte.
Toppe hielt den Atem an. Er sah einen Mann in Jeans und T-Shirt. Sein langes Haar, das er zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, war, bis auf eine schwarze Strähne über dem linken Auge, schlohweiß.
«Hellinghaus», flüsterte Toppe. «Jörg Hellinghaus!»
«Wie? Nicht Schönfelder?» Cox schaute ihm über die Schulter.
«Ich bin dann weg!» Van Gemmern verschwand, so rasch er konnte.
«Wenn ich dich richtig verstanden habe, kennst du den Mann auf diesem Foto.» Cox’ Stimme klang ein wenig gepresst.
«Ja», antwortete Toppe benommen. «Der Mann heißt Hellinghaus. Er ist …»
Weiter kam er nicht, denn die Tür wurde aufgerissen, und herein stürzte Clemens Böhmer, ein offenbar sehr, sehr wütender Clemens Böhmer.
«Ich will dir mal was sagen, du aufgeblasener Bulle, du», schnauzte er. «Ich bin hier, um mich zu beschweren, so! Was du da gestern mit mir abgezogen hast! Als wär ich ein Kinderficker! Aber so was lass ich mir nicht mehr bieten, ist das klar? Ich mach für keinen mehr den Karl Arsch!»
«Es reicht, Böhmer», schnauzte Toppe zurück. «Halten Sie den Mund!»
Aber Böhmer war viel zu sehr in Rage. «Ich habe die Schnauze gestrichen voll! Mich willst du anpissen, aber so ein Verbrecher wie Hellinghaus, der läuft frei rum, und ihr kriecht dem auch noch in seinen noblen Hintern. Nobel? Ich lach mich kaputt. Ein gottverdammter Frauenhändler ist der!»
«Hellinghaus?» Cox entglitten sämtliche Gesichtszüge.
«Wie bitte?», rief Toppe. «Jetzt mal ganz ruhig, Herr Böhmer. Setzen Sie sich. Und du», drehte er sich zu Cox, «guckst im Telefonbuch nach, wo Jörg Hellinghaus wohnt.»
«Wieso?» Cox verstand überhaupt nichts mehr.
«Tu’s einfach!»
Böhmer hatte neue Luft geholt. «Bitte nicht schreien.» Toppe hob die Hände. «Hellinghaus ist also ein Frauenhändler. Und woher wissen Sie das?»
Böhmer ballte die Fäuste, seine Unterlippe zitterte. «Ich hab mal gesessen. Für was, was ich gar nicht getan hab! Die haben mich eiskalt abgezockt. Ich durfte mal wieder …» Er unterbrach sich und bekam die Kurve. «Im Knast lernt man Typen kennen, die eine Menge wissen. Von denen hab ich das mit Hellinghaus. Der hat in einer ganz großen Sache mit dringehangen. Deswegen ist er die letzten Jahre auch abgetaucht gewesen. War wohl eine ganze Bande, die haben Mädchen verschleppt aus Polen oder so, und der Hellinghaus hat deutsche Männer gekauft, damit die die Mädchen heiraten, wegen den Papieren, und danach hat er die Frauen in den Puff gebracht. Der ist einer von den Oberbossen gewesen, aber den hat keiner am Arsch gekriegt. Und so ein Flachwichser packt Ihre Frau an, und da sagt keiner was. Finden die alle noch geil. Und mich wollen Sie abstempeln als Sittich, als Perversen!» Er verschluckte sich und hustete.
«Im Telefonbuch steht kein Jörg Hellinghaus», meldete sich Cox. «Im ganzen Kreis nicht. Da gibt es bloß ein Fotoatelier Karl Hellinghaus hier bei uns auf der Kavarinerstraße.»
Böhmer holte wieder Luft, aber Toppe sah ihn streng an und wählte Astrids Handynummer.
«Hat Hellinghaus 1997 im Dreitürmehaus gewohnt?», fragte er schroff.
«Wie bitte? Hellinghaus? Ich verstehe kein Wort!»
«Hat er oder hat er nicht?»
«Doch, ja, früher hatte er mal die Penthousewohnung da.»
«Wunderbar! Und wo wohnt er jetzt?»
«Keine Ahnung! Wir sind jetzt fast in Renesse und …»
Aber Toppe legte einfach auf und sah Cox an. «Der Kellerraum war doch für zwei Wohnungen, oder?»
Cox klappte den Mund zu. «Welcher Kellerraum?» Er schwitzte. «Ach so, Keller 10 für Wohnungen 3 und 4.»
«Das erklärt’s.» Toppe fummelte fahrig eine Zigarette aus dem Päckchen.
«Hellinghaus wohnt im Moment noch bei seinen Eltern auf der Kavarinerstraße, bis er ein passendes Haus gefunden hat», sagte Clemens Böhmer schlicht. «Was haben Sie da eigentlich für komische Fotos?»
«Ich häng mich weg», kam es dumpf von Cox.
«Das tust du nicht», entgegnete Toppe scharf. «Wir schicken eine Streife hin, die ihn einkassiert und sofort herbringt!» Er hatte den Hörer schon in der Hand.
An der Rezeption des Hotels pelikaan saß eine junge Indonesierin.
«Guten Tag!» Van Appeldorn hatte sein jovialstes Lächeln aufgelegt. «Ich habe vor etwa zwei Stunden mit Ihrem Kollegen gesprochen. Ist der da?»
Bedauerndes Kopfschütteln. «Es tut mir sehr Leid, mein Herr, aber der ist in der Mittagspause.»
«Zu schade, ich hätte so gern ein paar Worte mit ihm gewechselt.»
Astrid knuffte ihn in den Rücken. Die holländischen Kollegen, die sie telefonisch um Amtshilfe gebeten hatten, waren soeben vorgerollt.
«Okay.» Van Appeldorn hatte sich wieder besonnen. «Wir suchen Herrn Schönfelder, Bastian Schönfelder. Ist er inzwischen im Hause?»
«Oh, nein. Er sitzt in dem Café gegenüber, wo er immer sitzt, den ganzen Tag», antwortete sie, Trauer im Blick. «Ich weiß nicht, ob Sie wissen, dass …»
«Wir wissen. Komm, Astrid!»
Die holländischen Polizisten stiegen gerade aus dem Auto, schütteten sich aus über irgendeinen Witz.
Bastian Schönfelder saß an einem Fenstertisch und starrte blicklos auf den Zebrastreifen.
Er spürt das Auto, bevor er es sieht.
Aber sie schiebt den Kinderwagen beschwingt auf die Straße, ihren lächelnden Blick auf das kleine Gesicht geheftet.
Kein Bremsenquietschen, keine gellenden Schreie.
In Totenstille wird der Kinderwagen vom Kühler erfasst und hochgeschleudert.
Sie lässt ihn nicht los, klammert sich fest.
Das Baby, ihr Baby, wirbelt durch die Luft wie toll.
Totenstille. Nur ihre aufgerissenen Augen, als sie auf die Straße schlägt und der schwarze Reifen über ihren Kopf rollt.
Der Wagen verschwindet um die Ecke, kein Bremsenquietschen, keine gellenden Schreie.
Vor seinen Füßen ein blutiges Bündel ohne Gesicht – sein Kind.
«Herr Schönfelder?» Van Appeldorn trat vor. «Ich muss Sie bitten, mit uns zu kommen. Sie stehen unter dem Verdacht, Eugen Geldek erschlagen zu haben.»
Schönfelder sah nicht einmal hoch. Mit ruhiger Hand zog er sein Portemonnaie aus der Hecktasche, zählte sorgfältig ein paar Münzen ab und legte sie auf den Tisch. «Ist schon gut.»
Look kam über Funk. «Der Typ, den ihr sucht, ist nicht da. Seine Eltern wissen auch nicht, wo er steckt. Aber kann mir bitte einer von euch erklären, was der für’n Kaliber ist. Ich mein, man würd schon gern wissen, woran man ist, wenn man jemand ohne Haftbefehl einkassieren soll.»
«Ich glaube nicht, dass du eine kugelsichere Weste brauchst», sagte Cox, «aber ich geb dich lieber mal weiter an den Chef.»
«Bleibt dort», sagte Toppe. «Postiert euch einfach vor dem Haus und wartet.»
«Sie sind gut! Mitten in der Fußgängerzone! So was von unauffällig!»
«Das ist mir schnurzpiepe. Hauptsache, ihr haltet ihn fest, wenn er zurückkommt. Um jeden Preis!»
«Schnurzpiepe?», murmelte Look und tippte sich an die Stirn. «Um jeden Preis? Wie ist der denn drauf?»
«Ich geb ihn in die Fahndung», sagte Toppe grimmig.
«Tu das.» Cox betrachtete seinen Kollegen fasziniert. «Du hast tatsächlich Recht gehabt mit deiner Theorie! Dass es um eine aktuelle Geschichte bei Escher ging, meine ich, und mir erschien das völlig abgedreht. Und sogar das mit dem Frauenhandel kommt hin!»
Als Toppe nicht antwortete, beugte er sich wieder über das Foto von Alina mit der Zeitung in den Händen.
«Wo kann das aufgenommen worden sein? Irgendein altes Gemäuer jedenfalls. Hier an der Seite sind ein paar Steine rausgebröckelt.»
Toppe nickte. «Und von oben fällt Licht herein.»
«Ich glaube, ich weiß, wo das ist», sagte Böhmer.
Sie fuhren hoch. «Sie sind ja immer noch da!»
Böhmer lächelte schief. «Sie haben nicht gesagt, dass ich gehen soll. Jedenfalls, unten an der Kavarinerstraße sind überall so alte Gewölbekeller in den Hang reingebaut, hab ich mal gehört. Da waren wohl mal Kneipen früher, im Mittelalter oder so, und die haben in den Kellern ihr Bier gekühlt. Das Foto hier könnte doch gut in dem Keller vom Elternhaus von diesem Arschloch gemacht worden sein. Ich mein, wenn ich mir das so angucke, ist das ja schon irgendwie profimäßig, das Foto. Und der Hellinghaus ist ja wohl von Haus aus Fotograf, wenn er nicht gerade Mädchen vertickt.»
«Verdammt!» Cox klopfte ihm anerkennend auf die Schulter.
Toppe sah auf seine Hände. «Herr Böhmer, es tut mir wirklich Leid, dass ich Sie so falsch eingeschätzt habe. Ich habe Ihnen Unrecht getan, und ich möchte mich dafür entschuldigen.»
«Geht klar, schon gut.» Böhmer rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl herum. «In Ordnung, wirklich.»
«Wollen wir los?» Cox war schon an der Tür.
Toppe griff nach seiner Jacke, Böhmer sprang auf. «Kann ich mit?»
«Das geht leider nicht. Aber wir sehen uns ja auf dem Reiterhof.»
Karl Hellinghaus stolzierte gockelhaft vor ihnen her. «Meine Frau musste sich auf den Schrecken erst einmal hinlegen: Polizei im Haus! Und jetzt auch noch die Kripo. Zum Keller geht es hier entlang. Ich verstehe das zwar alles nicht, aber bitte, bitte! Doch, doch, da gibt es ein altes Gewölbe. Habe ich aber gleich zusperren lassen, als wir das Haus vor dreißig Jahren gekauft haben. Wegen des Ungeziefers und der Ratten, wissen Sie.»
Er brachte sie zu einer dicht schließenden Sicherheitstür aus Stahl.
«Gibt es einen Schlüssel?», fragte Toppe.
«Die ist nicht abgeschlossen. Sie müssen einfach nur den Hebel nach unten drücken.»
Die Tür schwang auf, vor ihnen lag ein sicher sechs Meter langer, unglaublich schmaler Gang, an dessen Ende dünnes Licht schimmerte.
«Da passen wir niemals durch», flüsterte Cox, Panik in der Stimme.
«Blödsinn!» Toppe drückte entschlossen Rücken, Arme und Hände gegen die Wand und schob sich seitwärts voran. «Hier wird’s ein bisschen breiter.» Cox schnaufte nur.
Endlich! Ein großes, sehr hohes Gewölbe, mindestens acht Meter breit und zwölf Meter lang, rohe Backsteinwände, gestampfter Lehmboden, hart wie Beton, in der Mitte der meterdicken Decke ein Lichtschacht mit einem engmaschigen Gitter abgedeckt. Es war trocken und kühl. Über die ganze Länge des Raumes verliefen wie Schienen in etwa achtzig Zentimetern Abstand zwei erhöhte Ziegelreihen, an deren Ende eine Grube, über einen Meter tief.
Da lag sie. Eine Leiche, vollkommen skelettiert, winzig klein.
Cox schnappte nach Luft.
«Kannst du …» Toppe musste sich räuspern. «Kannst du Bonhoeffer und van Gemmern anrufen? Sie sollen so schnell wie möglich kommen. Und wir brauchen Licht.»
«Ja! Und du setzt dich irgendwohin. Du siehst aus wie der Tod.»
Toppe nickte und ging auf die Knie. Ein so kleiner Schädel, dünne, zerbrechliche Knochen, die Finger gekrümmt. Vor Schmerz? Vor Angst? Er hörte Cox in sein Handy sprechen, stand auf und stolperte zum Lichtschacht. Da war die Stelle an der Wand, wo die Steine rausgebröckelt waren. Hier war das Foto gemacht worden. Er setzte sich, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand und schloss die Augen. Escher, er musste Escher anrufen. Zu früh, mahnte er sich selbst, viel zu früh.
Das Foto, Hellinghaus hatte also wirklich vorgehabt, es wie eine echte Entführung aussehen zu lassen. Aber warum hatte er es nicht abgeschickt? Was war passiert? Und wie hatte er diesen Karton im Keller seiner Wohnung vergessen können? Er musste sehr überstürzt abgetaucht sein.
Cox hockte sich neben ihn.
Sie warteten schweigend.
Van Gemmern kam als Erster. Dürr, wie er war, hatte er keine Probleme, durch den engen Gang zu kommen, aber sie hörten ihn leise fluchen, weil die Stative für die Beleuchtung sich verkantet hatten. Toppe stand auf, um ihm zu helfen. Gemeinsam richteten sie das Licht ein, van Gemmern brachte Markierungsplättchen an und fing an zu fotografieren. Er stellte keine Fragen.
Anders Bonhoeffer. Er warf einen Blick in die Grube und sah dann Toppe an. «Ist das dein entführtes Mädchen?»
«Da bin ich mir ganz sicher», antwortete der und stutzte dann. «Mein entführtes Mädchen? Wie meinst du das?»
Bonhoeffer zuckte nur die Achseln und ließ sich in die Grube hinab. Lange Zeit schaute er nur, dann nahm er sein Diktaphon: «Kindlicher Leichnam, weiblich, vollkommen skelettiert. Frontalnaht am Schädel noch nicht geschlossen, also zum Todeszeitpunkt unter acht Jahre alt. Wirbelkörper mit radiären Rillen, Oberarmknochen ohne Kopfanteil wegen noch nicht vorhandener Knochenkerne, Spuren von Tierfraß an beiden Unterarmen.» Er drückte auf die Stopptaste. «Hilft du mir, Klaus? Miss doch mal die Schienbeinlänge.»
«13,9.»
«Tibialänge × 3 + 60, macht 101,7 cm. Das bedeutet, sie muss ungefähr vier Jahre alt gewesen sein.»
«Todeszeitpunkt?», fragte Toppe.
«Nach dem Zustand der Leiche und den klimatischen Bedingungen würde ich sagen, vor vier bis fünf Jahren. Habt ihr ein Foto von dem entführten Kind?»
«Mehrere.»
«Dann werden wir sie mittels Superimposition sicher identifizieren können.»
«Todesursache?»
«Es gibt keinerlei Anzeichen von äußerer Gewalteinwirkung.»
«Da bleibt noch genug anderes», murmelte Cox. «Verdurstet, vergiftet, erwürgt, erstickt.»
«Moment mal.» Bonhoeffer beugte sich wieder über das tote Kind. «Sie hat einen Beckenbruch.»
«Und was bedeutet das?» Toppe kam näher.
Bonhoeffer richtete sich auf. «Möglicherweise ist sie in diese Grube gestürzt, das reicht für einen Beckenbruch. Dabei kommt es zu einem hohen Blutverlust.»
«Du denkst, sie ist verblutet?»
«Wenn ich mir den Boden der Grube so angucke, sieht es ganz danach aus.»
«Wie lange dauert es, bis man an einem solchen Bruch verblutet ist? Ich meine, irgendwann wird man doch bewusstlos, oder?»
«Ja», antwortete Bonhoeffer leise. «Bei einem Kind in dem Alter, bis es bewusstlos wird, ich würde sagen, nach anderthalb bis zwei Stunden.»
Toppe drehte sich abrupt um. «Ich muss hier raus.» Aber sein vibrierendes Handy hielt ihn zurück.
«Look hier! Wir haben den Kerl. Kommt gerade ganz normal nach Hause. War bloß eben in Holland Zigaretten kaufen, sagt er.»
«Bringt ihn her», bellte Toppe. «In den Keller. Dort ist eine Stahltür, dahinter ein schmaler Gang, da durch. Bringt ihn her!»
Jörg Hellinghaus’ Gesicht war eine grinsende Fratze. «So sieht man sich wieder.»
Er trat an die Grube und schob die Hände in die Hosentaschen. «Als ich wiederkam, war sie tot, einfach so. Was nutzte sie mir da noch?»
Es brauchte vier Mann, um Toppe zurückzuhalten.